„…und betet für sie zum Herrn“
Vor 2600 Jahren befand sich der Nahe Osten in einer Zeit des großen Umbruchs. Das Babylonische Reich stieg zur Großmacht auf; jeden Widerstand machte der größenwahnsinnige Nebukadnezar zunichte. Um 600 geriet das kleine Königreich Juda immer mehr in die Abhängigkeit des übermächtigen Riesens. Nach und nach wurde die Elite des Volkes nach Babylon verschleppt. Volksverschiebung war schon damals Mittel der Politik.
Die vertriebenen Juden waren zutiefst geschockt: Wie konnte ihnen, dem auserwählten Volk, so etwas passieren? Und wie lange wird Gott sie nun dort sitzen lassen? Höchst verunsichert fragten auch sie sich, was sie tun sollen. In dieser schwierigen Situation schrieb ihnen der Prophet Jeremia einen Brief, in dem er Gottes Worte an die Verbannten wiedergibt:
„So spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels, zu den Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen: Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen, und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehret euch dort, dass ihr nicht weniger werdet. Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum Herrn; denn wenn’s ihr wohl geht, so geht’s auch euch wohl“ (Jer 29,4–7).
Was ist dieses „Beste“ der Stadt? Ist dieses Wohl in Babylon ein anderes als in Jerusalem? Und wer legt fest, was konkret dieses Wohl ist und wie es erreicht wird? Meint Wohl einfach, dass sich alle irgendwie ganz toll fühlen? Was dient dem Wohl eines ganzen Landes? Das ist die Zauberfrage durch alle Jahrhunderte, und Antworten wurden ganze verschiedene gegeben. Nebukadnezar hatte sicher seine Antwort: das Wohl Babylons ist mein Wohl, meine Größe, mein Ruhm und meine Ehre. Und natürlich gaben auch die Tyrannen des letzten Jahrhunderts, Kommunisten und Nationalsozialisten, ähnliche Antworten.
Im Hebräischen Text steht hier für Wohl das Wort „Schalom“. Schalom ist ein Begriff mit einer sehr breiten Bedeutung. Er meint Frieden, Ruhe, Sicherheit, Wohlstand. Der entscheidende Gedanke in der Bibel ist nun, dass dieser Schalom immer Frucht einer heilen Beziehung zu Gott ist.
Alle Beziehungen Gottes mit den Menschen haben den Charakter eines Bundes. Die Bibel beschreibt eine Reihe von diesen Bünden, und hier gilt es wichtige Unterschiede zu beachten. Der Grundgedanke ist jedoch immer der gleiche: Gott, der Herr, kommt den Menschen in Gnade entgegen, gibt Verheißungen und Versprechungen, und von den Menschen verlangt er Glaube und Gehorsam – Gehorsam gegenüber Gottes Ordnungen und Geboten, der zu Segen und Schalom führt.
Die Verbannten sollten nach Gottes Schalom auch in Babylon trachten, denn er ist Gott auch am Euphrat, und seine Ordnungen gelten dort genauso. Wenn Juden und Babylonier im Rahmen dieser Ordnungen leben, dann wird es ihnen gut gehen.
Den nichtjüdischen Völkern gelten nicht die Zeremonialgesetze des Moses. Doch alle Völker stehen unter dem moralischen Gesetz Gottes, zusammengefasst in den 10 Geboten, und werden nach seinen Maßstäben beurteilt. In Spr 14,34 heißt es: „Gerechtigkeit erhöht eine Nation, aber die Sünde ist das Verderben der Völker“. Sünde meint hier natürlich Bruch von Gottes Geboten, und Gerechtigkeit nicht irgendeine Gerechtigkeit, sondern das, was dem gerechten Gott gefällt. Alle Nationen sind aufgefordert, Gott zu dienen: „Denn die Nation und das Königreich, die dir [Gott] nicht dienen wollen, werden zugrunde gehen“ (Jes 60,12). In Hes 14,13 heißt es: „Wenn ein Land an mir sündigt und Treubruch begeht…“ Jedes Land der Erde kann sich von Gott abwenden, denn Gott ist „ein großer König über die ganze Erde“ (Ps 47,3).
Ob nun gläubig oder nicht – jeder Mensch ist Gottes Geschöpf und untersteht daher diesem König und Herrn. Jeremias Brief fordert daher nichts Unmögliches von den Landsleuten. Der Schalom der Babylonier ist auch ihr Schalom. Beide Völker ticken nach derselben moralischen Uhr. „Normales“ Leben ist in Jerusalem wie Babylon möglich. Denn Gottes Ordnungen sind ja nicht nur religiöser Art. Jeremias Brief spricht direkt die Bereiche Familie und Arbeit an: Familie und Arbeit sind grundlegende Schöpfungsordnungen Gottes (daneben sind noch Staat und Kirche zu nennen). Die Kommunisten griffen diese Ordnungen Gottes direkt und massiv an; sie zerstörten den Rahmen, indem sich Menschsein gut und „normal“ entwickeln kann – normal, weil den Normen des Schöpfers entsprechend.
Ein Aufruf zum Gebet
Christen sind in Krisenzeiten zum Gebet berufen. Unter dem Motto aus Jeremia 29,7 („Suchet der Stadt Bestes… und betet für sie“) hat sich im Herbst auf Anregung von Holger eine sechsköpfige ökumenische Gruppe zusammengefunden, darunter ein Verfassungsrechtler, ein katholischer Journalist und ein junger orthodoxer Priester. Gemeinsam erörterten sie die angespannte Lage im Land und wo die tieferen Wurzeln der Probleme liegen. Um das Beste zu suchen, braucht es Austausch und Zusammenarbeit und eine gemeinsame Vision des Guten, die sich an Gottes Offenbarung orientiert.
Ergebnis der Treffen war ein ökumenischer Aufruf zum Gebet. Darin geht es letztlich um eine Rückkehr zu Gott, und dieser Gott hat konkrete Eigenschaften. Struktur geben dem Text von ein paar Seiten die sieben Stichworte Erlösung, Gemeinschaft, Freiheit, Trost, Vielfalt, Wahrheit, Frieden – alle sind in Gott selbst verwurzelt. Nach einer Einleitung, in der die Mitglieder der Gruppe in ein, zwei Sätzen entlang der sieben Punkte das Zeitgeschehen einordnen, folgen widerum sieben ausformulierte Gebetsvorschläge von je einem Absatz Länge.
Der Aufruf meidet eine Parteinahme in den aktuellen Debatten, spricht sich nicht für oder gegen das Impfen aus, nimmt auch keine Stellung in der Frage der umstrittenen Impfzertfikate („Pass der Möglichkeiten“ in Litauen); schließlich haben die Mitglieder der Gruppe hier unterschiedliche Ansichten. Dennoch wurden die Mißstände und Herausforderungen der Gegenwart nicht einfach umschifft, im Gegenteil. Gerade im Einleitungsteil werden sie konkret benannt.
Am 21. Januar wurde der Aufruf im katholischen, ökumenisch orientierten Portal bernardinai.lt veröffentlicht – gerade pünktlich zur Gebetswoche für die Einheit der Christen vom 18. bis zum 25. Am 24. folgte dort ein Podcast: Vertreter der drei Konfessionen im Gespräche über Ökumene und Gebet mit dem Kirchenredakteur von bernardinai.lt. (s.o. Foto). Das katholische Portal laikmetis.lt übernahm ebenfalls den Aufruf; ein paar Tage später erschien dort ein Interview mit zwei Mitgliedern der Gruppe: Arūnas Peškaitis, Franziskaner-Mönch und Priester an der Bernardinen-Kirche in der Altstadt von Vilnius, und Holger als Repräsentant der Evangelischen.
Die Leiter der verschiedenen Kirchen Litauens (meist im Bischofsrang) treffen sich gelegentlich und haben recht gute Beziehungen untereinander. Die Ökumene ‘von unten’, gerade auf der Ebene der engagierten Laien und Ordinierten in den Gemeinden, ist in Litauen dagegen unterentwickelt. Hier stellt die informelle Gruppe (drei Evangelische, zwei Katholiken und ein Orthodoxer) einen Schritt nach Vorne dar. Sie will natürlich nicht in Konkurrenz zu den Kirchenleitern treten (diese waren frühzeitig über die Initiative informiert). Aber es sind ja gerade die Evangelischen, die den Gedanken der Zusammenarbeit der Gläubigen, auf welcher Ebene auch immer, vorantreiben. Um des Besten der Stadt und des Landes willen.