Die Rede des Jahres

Die Rede des Jahres

Führungspersönlichkeiten in Staat und Gesellschaft können durch öffentliche Reden viel bewirken. Man denke nur an die Worte von Bundespräsident Weizsäcker am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes. Diese Rede ist zu Recht in den Geschichtsbüchern gelandet. Auch in Litauen ist die politische Lage in dieser Coronakrise sehr angespannt, doch Präsident Nausėda fiel bisher nicht durch klare, Orientierung gebende Worte auf, im Gegenteil.

Dafür schlug im Spätsommer eine andere Rede wie eine Bombe ein. Auf der Jahreshauptversammlung der litauischen Rechtsanwaltskammer am 20. August stand natürlich auch eine Ansprache des Präsidenten der Kammer auf der Tagesordnung. Ignas Vėgėlė, Juraprofessor, Anwalt und seit 2014 in seinem Amt, nutzte die 20 Minuten für eine handfeste Überraschung. Aus der Perspektive eines Juristen warf er ein Licht auf die Coronamaßnahmen, deren weltanschaulichen und ethischen Zusammenhang sowie die Folgen. Ein mutiges und offenes Wort, das so in den vielen Monaten der Pandemie im Land noch nicht zu hören war.

Gleich eingangs legt Vėgėlė seinen Finger in eine offene Wunde und beklagt, dass den Nationalstaaten bestimmte Vorgehensweisen in der Pandemie mehr oder weniger vorgeschrieben werden. Es fällt sogar die Begriffe des „Weltgesundheitsministeriums“ und einer „entstehenden neuen [weltweiten] Ordnung“ von Big Pharma und Co. Für solche Sätze würde ihnen manche gerne in die Ecke der Verschwörungstheoretiker abdrängen, doch der Experte für Europarecht, der schon Fälle vor internationalen Gerichten vertreten hat, weiß, wovon er redet.

Vėgėlė kritisiert, dass die Rechtsprechung nun vermehrt der Kosten-Nutzen-Analyse unterworfen wird. Menschenrechte und Freiheiten werden nur respektiert, wenn es das Nützlichkeitsprinzip erlaubt. Rechtmäßig sei dann, was in der Situation nötig erscheint und hilft. Der 46-Jährige geht dabei auch auf den Faktor Angst ein. Die Angst um Leben und Gesundheit erschüttert nun sogar bisher unantastbare Grundrechte wie die Freiheit der Person, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Dies habe zu einer kaum vorstellbaren Spaltung der Gesellschaft und Vorschlägen der Aussonderung von ganzen Menschengruppen geführt.

Dass nun staatlicher Zwang gerechtfertigt wird, um die Überlastung der Krankenhäuser zu verhindern, es also nicht um Herdenimmunität oder gar um die Ausrottung des Virus geht, ist laut Vėgėlė unhaltbar. Er hält fest: „Jeder Mensch muss selbstständig über einen Eingriff in seinen Körper entscheiden. Und eine solche Entscheidung muss auf Grundlage klarer Informationen gefällt werden. Das sagt das Völkerrecht, das sagt das EU-Recht, das sagt das nationale Recht.“

Dem Juristen macht besonders Sorge, dass nun manche der wichtigsten Gesetze des Landes mit Füßen getreten werden. Er nannte auch ein Beispiel: „Unter Missachtung des Bürgerlichen Gesetzbuches wurden [im Sommer] minderjährige Jugendliche dazu aufgefordert, sich ohne Zustimmung der Eltern impfen zu lassen.“ Die westliche Gesellschaft, so Vėgėlė, „basiert auf individuellen Rechten und Grundfreiheiten und wird von Anwälten und Juristen geschützt wird“. Diese Rechte und Freiheiten des Einzelnen „werden nun von der Staatsgewalt überschattet“. Die „Errungenschaften der westlichen Zivilisation“ wie die „Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit“ sind aber nun in Gefahr, da sie von einer „utilitaristischen Weltanschauung“ (vereinfacht gesagt: gut ist das, was den meisten Nutzen bringt) bedroht werden.

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Vėgėlė bei der ersten Konferenz des Instituts für Gesundheit und Recht am 10. September

Der Präsident der Antwaltskammer ruft seine Kollegen auf, gerade nun „die Selbstbestimmung jedes Einzelnen, die Achtung vor jedem Menschen, seine Rechte und Freiheiten“ zu verteidigen. „Dies wird in europäischen Rechtsdokumenten gelehrt und in der Verfassung der Republik Litauen verankert.“ Vėgėlė warnt vor der Aufteilung der Menschen in Gebildete und Rückständige, in Wissenschaftsgläubige und Skeptiker, in Zugewanderte und Bürger, und betont: „Wir sind alle Menschen und wir alle haben Glaubens- und Meinungsfreiheit sowie weitere Rechte und Freiheiten, die durch das Völkerrecht und die Verfassung garantiert sind.“

Schließlich geht er auf die Spaltung der Bevölkerung durch die Impfzertifkate wie in Litauen den „Paß der Möglichkeiten“ (Galimybių pasas, GP) ein. „Heute werden die einen ausgegrenzt, morgen die anderen“, so seine Warnung. Er wagt auch eine direkte Kritik der aktuellen Regierungspolitik: „Unter Verletzung des Grundprinzips der Nichtdiskriminierung und der Gleichheit vor dem Gesetz verbreitet der GP die fälschliche Nachricht über angeblich zusätzlich gewährte Rechte, die doch in einer demokratischen Gesellschaft allen seinen Mitgliedern gelten und grundlegend sind.“

Vėgėlė war auch bisher schon kein Unbekannter, aber diese Rede von zwanzig Minuten wurde rasend schnell im Internet verbreitet und machte die Aussagen des Juristen für Wochen zum Gesprächsstoff. Nun ist der immer sachlich auftretende Advokat, der aber auch keine klaren Worte scheut, fast jeden Tag in verschiedenen TV-Formaten, Interviews oder Podcasts zu Gast. Durch schmähende Kritik und Unterstellung von politischen Ambitionen läßt er sich ebenfalls nicht aus der Ruhe bringen. Vor etwa fünfzehn Jahren war er bei Christdemokraten aktiv und nahm auch höhere Posten in der Partei ein, weshalb ihm das Politgeschäft nicht fremd ist (die Christemokraten sind vor dreizehn Jahren in der heute regierenden „Vaterlandsunion“ aufgegangen).

Nicht zuletzt durch Vėgėlės Rede ist in Litauen im Herbst endlich ein breiterer Diskurs über die Coronamaßnahmen in Gang gekommen. Vor einigen Tagen nahm schließlich auch das Verfassungsgericht die Klage von zahlreichen Parlamentariern an und wird nun über die Rechtmäßigkeit des „Paßes der Möglichkeiten“ entscheiden müssen. Man darf gespannt sein, welche Achtung gegenüber der Verfassung dieses höchste Gericht zeigen wird – oder ob man doch der Politik das Wort redet.