Ort der Verbannung, Naherholung und Evangelisation

Ort der Verbannung, Naherholung und Evangelisation

Wie in weiten Teilen Europas wurde auch Litauen im 16. und 17. Jahrhundert nicht von Konfessionskonflikten verschont. In Vilnius, der Hauptstadt des Großfürstentums, krachte es dabei häufiger. Die erste reformierte Gemeinde war um 1560 unter der Fittiche von mächtigen Adeligen entstanden. Auf ihren Grundstücken mitten in der Stadt befanden sich eine Kirche und andere Gebäude. Anfang des 17. Jahrhunderts eskalierten die Auseinandersetzungen mit den benachbarten Jesuiten jedoch immer mehr. Nach Pogromen durch die Katholiken wurden die Reformierten mit ihrer Kirche 1640 endgültig aus der Stadt vertrieben und vor die Stadtmauern verbannt. Die aus deutschen Händlern und Handwerkern bestehende lutherische Gemeinde konnte dank eines Privilegs dieses Schicksal vermeiden. Die (umgebaute) Kirche steht bis heute in der „Deutschen Straße“ (Vokiečių gatvė).

Die reformierte Gemeinde bestattete ihre Toten auf einem Gelände westlich der heutigen Altstadt, ein paar Hundert Meter von der Mauer entfernt. Hier entstand nach der Vertreibung aus dem Stadtzentrum ein reformiertes Viertel von etwa einem Hektar Größe. Eine kleine hölzerne Kirche wurde jedoch auch hier mehrfach Opfer von Übergriffen und niedergebrannt. 1683 kam es sogar zu Grabschändungen durch den von den Jesuiten aufgestachelten Mob.

Wie auch in Memel (Klaipėda) oder Kėdainiai war die reformierte Gemeinde in nationaler Hinsicht damals recht bunt gemischt. Reformierte aus Schottland, den Niederlanden, Frankreich oder Deutschland fanden den Weg in diese Orte. In Vilnius errichteten die aus Holland stammenden Vinholds ein Familienmausoleum, ebenso die Schreters. 1815 wurde dort als einer der Letzten der Kartograph Charles Herman de Perthées bestattet. Danach wurde ein Teil des unweit liegenden Bouffalow-(heute Tauras) Hügels als reformierter Friedhof genutzt. Die Lutheraner hatten dort schon länger ihre Grabstätten.

Im Zarenreich im 19. Jahrhundert konnten die Evangelischen so manche Bauprojekte in Angriff nehmen. An der Wall-Straße, die etwa entlang der alten, Ende des 18. Jahrhunderts abgerissenen Stadtmauer verlief, wurde das Gebäude des Konsistoriums der Kirche errichtet. Im letzen Weltkrieg stark beschädigt rissen die Sowjets später die Ruinen ab. Die Mausoleen und die Friedhofsmauer mussten weichen, als die kommunistischen Stadtherren das Gelände komplett umgestalteten und dort 1983 ein Denkmal für die sowjetischen Partisanen errichteten. Aus der alten Zeit steht nur noch das prächtige Synodengebäude. In den letzten Jahrzehnten war es mehr und mehr verfallen. Ein privater Investor restauriert nun das Gebäude und verkauft schon teure Appartements, die darin eingerichtet werden.

Auf der anderen Straßenseite weihte die reformierte Gemeinde 1835 einen Kirchenneubau ein – erstmals in massivem Stein. Auch der Zar trug mit mehreren Tausend Goldrubeln zur Finanzierung bei. Das Gebäude in klassizistischem Stil überdauerte den Krieg gut (das Nachbarhaus wurde durch Bomben zerstört), wurde aber in der Sowjetzeit zum Kinotheater für Dokumentarfilme umfunktioniert.

Das Partisanendenkmal wurde im unabhängigen Litauen natürlich bald beseitigt. Ansonsten blieb das nun städtische Territorium weitgehend unverändert. Erst 2018 wurde die komplette Neugestaltung durch die Stadtverwaltung in Angriff genommen. Bei archäologischen Ausgrabungen kamen alte Fundamente und auch Skelette zu Tage.

Im Juli des Jahres wurde der „Reformierte Park“ endlich eingeweiht. Wegen Protesten von Naturschützern hatte man den Baubestand nur mäßig reduziert. Nun laden Spielplätze, zahlreiche Bänke und Brunnen in die Grünanlage ein – neben dem Park an der Bernardinen-Kirche der größte Naherholungsbereich in der Altstadt.

Auf das historische Erbe weisen Infotafeln und Konturen der nicht mehr stehenden Gebäude in rötlichen Pflastersteinen hin. Außerdem wird an zentraler Stelle ein Reformationsdenkmal entstehen. Das kreisrunde Fundament steht schon. Zehn Väter der litauischen Reformation aus dem Grofürstentum und dem Herzogtum Preußen, Lutheraner wie Reformierte, werden dort auf zehn Granitstelen vorgestellt. Ein privater Verein für Geschichte und Kultur der Reformation ist Träger des ambitionierten Projekts.

Auf der anderen Straßenseite ist die Erneuerung der Fassade der reformierten Kirche noch nicht abgeschlossen. Im Frühjahr werden die Engelsskulpturen und eine Figur mit Kreuz auf das Dach zurückkehren. Das gesamte Äußere der Kirche wird dann mit seinen Aufschriften („Soli Deo Gloria“, „Friede sei mit euch“), der im Relief dargestellten Bergpredigt und diesen Figuren gleichsam predigen. Für die Granitstelen haben wir als reformierte Pastoren uns an der Auswahl von Zitaten aus den Werken der zehn Personen beteiligt – und sichergestellt, dass einige den Geist der evangelischen Botschaft ausdrücken. In ein paar Jahren wird dieser öffentliche Raum, so Gott will, auch dem evangelistischen Zeugnis dienen.

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Blick vom Tauras-Hügel auf das Gelände des heutigen Parks um 1900. Rechts das Gebäude des Konsistoriums, darüber die reformierte Kirche.

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Das Synodengebäude um 1930.

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Die Pylimo-Straße um 1900 – noch mit Straßenbahn. Die Marktgebäude rechts auf dem heutigen Parkterritorium stehen nicht mehr. (Links o. der Balkon unserer Dienstwohnung)

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Foto aus der Nachkriegszeit –das Konsistoriumsgebäude in Ruinen.

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Denkmal für sowjetische Partisanen, 80er Jahre.

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Freigelegte Skelette aus dem 18. Jahrhundert.

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Arbeiten am Sockel des Reformationsdenkmals im Frühjahr 2021.

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Das Synodengebäude im Herbst 2021.

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Eröffnung des Parks im Juli 2021.

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Die ev.-reformierte Kirche auf der anderen Straßenseite, November 2021.