Die Halbierung der Städte

Die Halbierung der Städte

In Deutschland verlief der Holocaust geradezu langsam oder anders formuliert: den Juden wurden ab 1933 nach und nach die Daumenschrauben fester zugedreht. Erst ermutigten die Nazis zur Auswanderung, später folgten die Nürnberger Rassegesetze und die wirtschaftliche Ausplünderung. Erst im Krieg wurde in Deutschland der sog. Judenstern eingeführt. Abtransporte in die Todeslager im Osten begannen, als der Krieg gegen die Sowjetunion schon im Gange war. Vor dem massenweisen Beseitigen der Juden im Reich selbst schreckten die Machthaber in Berlin bis zum Schluss zurück.

In den besetzten Gebieten der UdSSR kannte man dagegen keinerlei Skrupel. Und alles ging – im Vergleich zu Deutschland – blitzartig. Kaum war die Wehrmacht im Gebiet Litauens eingefallen, ging es den Juden im Land an den Kragen. Am 22. Juni 1941 besetzten die Deutschen das Städtchen Gargždai unweit von Klaipėda/Memel. Schon zwei Tage danach wurden von den rund eintausend Juden des Ortes (ein Drittel der Einwohner) an die 850 erschossen.

Und so ging es in den Städten und Städtchen Litauens weiter, bis weit in den Herbst. In einigen Orten wie in Vilnius, Kaunas oder Šiauliai wurden Ghettos gebildet, doch weite Teile der jüdischen Bevölkerung ließen die deutschen Besatzer mit ihren litauischen Helfern direkt in den Wäldern der Umgebung erschießen. Hunderte Massengräber, verstreut über ganz Litauen, zeugen bis heute davon.  (Mehr zum Morden im Jahr 1941 und den Juden in Litauen in diesen Beiträgen auf diesem Blog: „Auftakt zum Massenmord“, „Als das litauische Schtetl verschwand“, „Auf den Spuren der jüdischen Stadt“, „Ehre, wem Ehre gebührt – endlich“.)

Den Juden war die Landwirtschaft in vielen Ländern jahrhundertelang verboten. So konzentrierten sie sich gerade in Osteuropa in den Städten. In Litauen machten sie um 1940 meist ein Viertel bis ein Drittel der städtischen Bevölkerung aus, manchmal auch mehr. In Biržai im Norden des Landes war bei Kriegsausbruch fast jeder zweite Einwohner Jude.

Am 8. August 1941 wurden fast alle Juden des Ortes in den Wald von Pakamponys, keine 3 Kilometer nördlich von Biržai, geführt und erschossen: 2400 Menschen, darunter 900 Kinder. Von einem Tag auf den anderen halbierte sich die Einwohnerschaft der Stadt. Die einheimischen Helfershelfer brachten die eigenen Nachbarn um, und anschließend wurde der nicht geringe jüdische Besitz aufgeteilt. Nicht wenige der Evangelischen werden sich auch bedient haben (Reformierte, Lutheraner, Methodisten, Baptisten, Pfingstler mit Gemeinden in Biržai). Zur Ehrenrettung des reformierten Pfarrers Aleksandras Balčiauskas muss man erwähnen, dass er dazu aufrief, sich am jüdischen Eigentum nicht zu bedienen, denn daran, so der junge Geistliche in einer Predigt, klebt unschuldiges Blut. (Wegen  dieser Äußerung wurde er von der Gestapo vorgeladen.)

Über die Monate vom Sommer und Herbst 1941 wird in Litauen noch immer kontrovers diskutiert, gerade über die Rolle der Beteiligten Litauer. Dass manche von ihnen später selbst Opfer der deutschen Besatzer und nach dem Krieg der Sowjets wurden, macht die Sache kompliziert. In jedem Fall muss an die Ereignisse vor 80 Jahren erinnert werden.

Wie auch an anderen Orten in Litauen fand in Biržai am 8. August, also genau am Tag des Massenmordes, ein Gedenkmarsch (lit. „Atminties kelias“) statt. Er führte vom Ort der Synagoge, die den Krieg nicht überstand, im Zentrum zum Erschießungsort. Station wurde am jüdischen Friedhof gemacht. Er ist mit einigen Hektar Fläche der größte im Land und wurde nach dem Krieg nicht zerstört. Freiwillige der Lippischen Landeskirche aus Nordrhein-Westfalen beteiligten sich ab 2011 an der Reinigung des Geländes, das ganz überwuchert war.

Am Gedenkmarsch nahm neben Vertretern der jüdischen Gemeinden Litauens, der Stadtverwaltung, Bürgern des Ortes und Christen aus anderen Städten auch der Landessuperintendent der Lippischen Kirche, Dietmar Arends, teil. Er war extra zu dem Gedenkmarsch angereist und hielt auf dem Friedhof eine kurze Ansprache. Zuvor hatte er in der ev.-reformierten Kirche von Biržai gepredigt. Im Regen ging es weiter zum Ort der Erschießung. Hier sprachen Juden in ihrer Sprache ein Gebet, es folgten Vertreter zweier Kirchen: einer der katholischen Ortpfarrer zitierte einen Psalm, im Namen der reformierten Kirche Litauens sprach Holger ein Gebet (s.u. Foto).

Arends nannte in Predigt und Ansprache einige Namen der damals Ermordeten. Denn hinter den großen Zahlen verbergen sich ja Einzelschicksale. Dieser Gedanke steht auch hinter der Idee der neuen Gedenkstätte, die 2019 auf die Initiative von Abel und Glenda Levitt neben den Massengräbern eingeweiht wurde. Auf einer vieler Meter breiten gewellten Metallplatte sind über 500 Namen von dort erschossenen Juden zu lesen. Bisher konnten diese Identitäten konkret nachgewiesen werden.

Die Stadtverwaltung Biržai und der Bürgermeister setzen sich eifrig für die Erinnerung an den Holocaust ein und bemühten sich sehr um den Gedenkmarsch. Ein Wehrmutstropfen bleibt aber, dass es in ganz Litauen (also auch nicht in in Biržai) fast keine Straßennamen gibt, die nach den früheren Nachbarn benannt wären. An den Erschießungsorten kann man hier und da wie nun bei Biržai die jüdisch-jiddischen Namen lesen, aber Straßenschilder vor der Haustür? Das geht immer noch vielen zu weit.

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Auf dem jüdischen Friedhof von Biržai

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Landessuperintendent Dietmar Arends

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Gedenkstätte im Wald von Pakamponys

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