Auftakt zum Massenmord

Auftakt zum Massenmord

In der zweiten Jahreshälfte 1941 geschah in Litauen Unglaubliches: Innerhalb weniger Monate wurden während der deutschen Besatzung gut Zweidrittel der jüdischen Bevölkerung ermordet. 2016 erschien erstmals ein für ein breites Publikum geschriebenes Buch, das sich dieses Themas und der litauischen Teilnahme am Holocaust annahm: Rūta Vanagaitės Mūsiškiai (Die Unsrigen). Das viel diskutierte Buch der Journalistin wurde ein Bestseller (hier mehr).

Im folgenden Jahr beging Vanagaitė jedoch einen Fehler: Sie rückte ausgerechnet einen der großen Partisanenführer der Nachkriegsjahre in schlechtes Licht. Der Aufschrei in der Öffentlichkeit war groß (s. „Nestbeschmutzerin?“, „Labas“ 12/2017). Der Verlag der bekannten Autorin kündigte die Zusammenarbeit, alle ihre Bücher wurden aus dem Vertrieb genommen. Fast schon persona non grata wanderte Vanagaitė nach Israel aus.

In diesem Sommer meldete sich die 65-jährige mit einem Paukenschlag zurück: Kaip tai įvyko? – Wie geschah es? – erschien. Auf 300 Seiten beantwortet Christoph Dieckmann Fragen Vanagaitės zu den Ereignissen in Litauen während des II Weltkriegs. Das Buch erschien im eigenen Verlag und konnte anfangs nur dort bestellt werden. Zeigten sich in Mūsiškiai noch Schwächen bei der Wiedergabe und Interpretation von historischen Daten, so gibt es bei Kaip tai įvyko? keine Zweifel an der Kompetenz der Darstellung. Schließlich kann mit Dieckmann ein angesehener deutscher Historiker als Hauptautor gelten. Jahzehntelang forschte er in vielen Archiven und legte vor Jahren die zweibändige Publikation Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944 vor. Zur Buchvorstellung Ende Juni in der Vilniuser Synagoge (s.o. Foto) kam Dieckmann persönlich aus England, wo er seit einigen Jahren lehrt. (Dieckmann gibt in der Aufzeichnung einen guten Überblick der Hauptaussagen des Buches in englischer Sprache; s. auch dieser in Litauen gehaltene Vortrag.)

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Dieckmann schildert in dem langen Interview die mörderischen Pläne der Nazis zu Kriegsbeginn: Um den „Lebensraum im Osten“ zu gewinnen, seien 30 Millionen (!) Russen dem Hungertod preiszugeben. Die gesamte sowjetische Elite sollte gleich ausgemerzt werden. Da man Juden und Bolschewiken in eins setzte, wurden auch im zügig besetzten Litauen  innerhalb von nur sechs Wochen bis Ende Juli 20.000 jüdische Männer umgebracht, davon etwa 1000 in Pogromen. Die große Masse der 200.000 litauischen Juden wollte man isolieren und nach dem schnell gewonnenen Krieg hinter den Ural abschieben, um auch sie dort an Hunger sterben zu lassen. Das war der ‘Plan’. Das jüdische Schicksal sollte eigentlich erst nach dem bald zu gewinnenden Krieg besiegelt werden. Keiner konnte sich im Juni 1941 vorstellen, dass bald die Massenerschießung von Juden beginnen würde.

Dieckmann stellt nun dar, dass der schon im Spätsommer stockende Krieg im Osten zu einer Anpassung der Pläne führte. Es bahnten sich massive Nachschubprobleme an, und so ließ man kurzerhand fast alle russischen Kriegsgefangenen sterben. Auf litauischen Gebiet kamen in neun Monaten 170.000 Rotarmisten um, allein bei einem Vorort von Vinius sind 25.000 von ihnen verscharrt. Auch aus eher praktischen Gründen ging man ab August dazu über, die meisten Juden Litauens, nun auch Frauen und Kinder, umzubringen. Man hatte sie schon zusammengepfercht, ihre Zahl war überschaubar (in Polen und der Ukraine Millionen), überschüssige Esser ließen sich beseitigen, und vor allem konnte man sich auf die Zusammenarbeit mit örtlichen Kräften stützen.

In der Besatzungsadministration Litauens arbeiteten nur 600-900 Deutsche – und 20.000 Litauer. Man schätzt, dass an die 6000 Einheimische direkt an den Erschießungen beteiligt waren. Der Hass auf die Sowjets, die kurz vor dem Rückzug noch Tausende politische Gefangene hinrichten ließen, war groß – und Sowjets wurden mit Juden gleichgesetzt. Das Judentum in der Provinz wurde im Herbst ausgelöscht, rund 100.000 erschossen. Ganz Litauen ist mit Hunderten Massengräber übersät. Von den 100.000 Juden in den Großstädten war zum Jahresende mehr als die Hälfte tot. Bis zum Winter starben insg. 140.000 litauische Juden. Als die Gaskammern in Polen in Gang kamen, waren die Juden Litauens außerhalb der wenigen großen Ghettos schon ermordert. Die Ermordung aller europäischen Juden wurde erst Anfang 1942 auf der Wannseekonferenz erklärtes Ziel der Nazis. Die Vernichtung des litauischen Schtetls war der Auftakt.

PS: Ausgaben des Buches in anderen Sprachen, darunter in Englisch (How did it happen?), sind in Vorbereitung.