Ein Treppenwitz der Geschichte?

Ein Treppenwitz der Geschichte?

Bis zum Zweiten Weltkrieg war Vilnius eine polnisch-jüdische Stadt. Etwa ein Drittel der Stadtbevölkerung sprach Jiddisch und schrieb mit hebräischen Buchstaben. Über Jahrhunderte begrub die jüdische Gemeinde ihre Toten im Vorort Šnipiškės nördlich des Flusses Nėris. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde diese Grabstätte zu klein und geschlossen. Die über 200 Gräber erhielt die Stadt aber bis zum Zweiten Weltkrieg als Kulturdenkmal. Erst 1948, in der Sowjetunion, wurde der Friedhof zerstört und auf dem Gelände ein Sportkomplex errichtet.

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Blick vom Gediminas-Hügel auf den Vorort Šnipiškės im Jahr 1912 (heute mitten in der Stadt); im Vordergrund der erste jüdische Friedhof der Stadt

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Das Sport- und Kongresszentrum aus dem Jahr 1971, erbaut im damals modischen sog. Brutalismus – und zum Teil auf jüdischen Gräbern. Heute wartet das denkmalgeschützte Objekt auf eine neue Nutzung.

Über einhundert Jahre, bis 1939, wurde der zweite jüdische Friedhof nahe der heutigen Olandų- Strasse, einen halben Kilometer östlich der Altstadt, genutzt (er wurde auch Užupis-Friedhof genannt, da er an diesen Stadtteil angrenzt). Geradezu malerisch fügte er sich in die Hügellandschaft ein. 1961 beschloss die kommunistische Stadtverwaltung, den Friedhof aufzulösen. Die Grabsteine seien für Bauzwecke zu nutzen. 1968 war der Friedhof verschwunden. In vielen Orten Litauens wie auch in Šiauliai ereilte jüdische Grabstätten dies Schicksal.

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Der Užupis-Friedhof Anfang der 60er Jahre

Die Grabsteine, meist aus Granit, wurden tatsächlich in zahlreichen öffentlichen Objekten von Vilnius verbaut. Schon vor über 25 Jahren wurden manche Fragmente durch die hebräische Schrift identifiziert und sichergestellt. Erst vor einigen Jahren fiel der Verdacht auch auf unsere Kirche. Jüdische Organisationen bis hin nach Jerusalem schlugen Alarm. 1949 war der Bau aus dem Jahr 1835 verstaatlicht worden. Über vierzig Jahre diente die Kirche zweckentfremdet als Kino „Kronika“. Eine Expertenkommission bestätigte schließlich: Wohl irgendwann um 1970 wurden in der breiten Eingangstreppe vor dem klassizistischen Portal zumindest einige jüdische Grabsteine verbaut. Alle Steine der Treppe wurden demontiert und mit anderen auf dem ehemaligen Friedhofsgelände zwischengelagert.

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Demontage der Treppe an der reformierten Kirche

Zwischenlagerung

Zwischenlagerung der Grabsteinreste auf dem Territorium des alten Friedhofs

Unsere Kirche ziert nun eine provisorische Betonrampe. Noch ist völlig offen, wer eine neue Treppe finanzieren soll. Die staatliche Denkmalpflege, die bis 2022 Dach und Fassade der Kirche restauriert, sieht sich nicht zuständig. Die Stadverwaltung wird Fußwege und Grundstück an der belebten Pylimo-Strasse neu gestalten. Die Treppe wird aber dem Gebäude zugerechnet. Hat die Gemeinde Pech, wird sie für die Sünden Sowjetzeit geradestehen müssen. Wahrlich ein Treppenwitz der Geschichte.