Kirche in Zeiten von Corona
Litauen gehört zu den Ländern mit den wenigsten nachgewiesen Fällen von Infektionen mit SARS-CoV-2, dem neuen Coronavirus. Anfang Mai zählte man im baltischen Land insgesamt gut 1400 an Covid-19 Erkrankte, die Zahl der aktiven Fälle ist inzwischen auf etwas mehr als 700 zurückgegangen. Um die 100 von diesen sind hospitalisiert, schwere Krankheitsverläufe und Patienten auf der Intensivstation waren immer nur einige Dutzend. Die Zahl der mit dem Virus Verstorbenen liegt immer noch unter 50. Auf Deutschland hochgerechnet wären dies etwa 1300 Tote und etwa 40.000 Infizierte – im europäischen Vergleich geradezu traumhafte Zahlen.
In Litauen hatte man das Glück, dass sich das Virus erst recht spät im Land ausbreitete. Noch bis weit in den März gab es kaum Ansteckungen im Staatsgebiet selbst, d.h. die allermeisten an Covid-19 Erkrankten reisten mit dem Virus aus dem Ausland ein. Und diese Zahl war wochenlang recht überschaubar. Etwas schlechter hatten es die Esten getroffen: eine Sportmannschaft schleppte SARS-CoV-2 aus Italien ein, was dort früh zu im Vergleich mit den Nachbarländern hohen Zahlen führte.
Gott sei Dank war das Coronavirus noch nicht im Land, als sich vom 6. bis zum 8. März viele Tausende eng aneinandergedrängt durch die Vilniuser Innenstadt schoben. Die ungezählten Stände des Kaziukas-Jahrmarkts zogen wie jedes Jahr große Massen an. Am 11. März beging das Land dann auch noch 30 Jahre Wiederherstellung der Unabhängigkeit. Neben dem 16. Februar ist der Festtag im Gedenken an den Parlamentsbeschluss 1990 immer arbeitsfrei und wurde in diesem Jubiläumsjahr besonders ausgiebig gefeiert. Der Seimas, das Parlament, verzichtet wegen Corona auf eine Sondersitzung, auch das große Festbankett wurde abgesagt. Aber am Umzug auf dem Gediminas-Prospekt in Vilnius beteiligten sich wieder Tausende, und auch die Staatsspitze praktizierte noch keinerelei soziale Distanz.
Umso größer dann der Kontrast zum Lockdown am 16. März: Mit Beschluss der Regierung wurde das ganze Land unter Quarantäne gestellt. Schulen und Universitäten sowie alle öffentlichen Einrichtungen im Bereich Kultur und Bildung wurden geschlossen, sämtliche Veranstaltungen und Zusammenkünfte von Menschen untersagt. Besonders hart traf es auch in Litauen die Wirtschaft: Zahlreiche Dienstleister sowie alle Restaurants und Hotels mussten dicht machen.
In den ersten Wochen der Quarantäne kehrten Tausende Emigranten und andere Litauer aus dem Ausland zurück, was teilweise für gewisses Chaos sorgte. So steckten an der deutsch-polnischen Grenze Hunderte Litauer tagelang fest, weil die Polen sie partout nicht weiter ließen. Sogar der litauische Präsident musste intervenieren. In Litauen selbst sorgte dann für Unruhe, dass die Rückkehrer wochenlang interniert wurden – und das unter mitunter wenig zumutbaren Bedingungen. Dagegen gewöhnte sich die Bevölkerung schnell an die allgemeine Maskenpflicht, die im April eingeführt wurde. Nicht nur im Nahverkehr und in Geschäften, sondern auch auf den Straßen und in Parks muss bis heute ein Mund- und Nasenschutz getragen werden. Und so gut wie alle halten sich auch daran. Die Schulen sind alle Anfang April auf Fernunterricht umgestiegen, meist per Zoom. Ab neun Uhr morgens sitzen auch unseren beiden Schulkinder im Kinderzimmer vor ihren Monitoren.
Die Gottesdienste der Kirchen wurden – anders als in Deutschland – durch die Regierung nicht verboten. Die Religionsbeauftragte der Regierung war aber sehr erfreut, dass die Religionsgemeinschaften selbst auf alle öffentlichen Veranstaltungen verzichteten. Die meisten Kirchen gingen auf die Übertragung von Messen und Gottesdiensten mit jeweils nur einem Zelebranten oder ganz wenigen Beteiligten über. Für Katholiken und Lutheraner mit sonntäglichem Messopfer bzw. Abendmahl war (und ist) dies ein besonders schwerwiegender Einschnitt.
In unserer ev.-reformierten Kirche Litauens wird seit Mitte März jeden Sonntag der Gottesdienst aus den Gemeinden in Kaunas, Vilnius und Biržai über Facebook live gestreamt. In der Woche wird seit Beginn des Lockdowns jeden Abend um 20 Uhr eine etwa halbstündige Andacht übertragen. Hier wechseln sich die Pfarrer und Verkündiger ab. Rima setzt die Bibelstunde in Vilnius über Skype fort und zeichnet die Auslegung – fortlaufend aus dem 1. Buch Mose – per Facebook auf. Mit einigen älteren Damen der Gemeinde hält sie über Telefon den regelmäßigen Kontakt aufrecht und gibt die wichtigsten Inhalte weiter.
Seit nun sieben Wochen haben wir die älteren Gemeindemitglieder nicht mehr persönlich getroffen. Tomas Sernas, langjähriger Superintendent und nun wieder Ortspfarrer in Vilnius, sitzt ebenfalls seit Monaten in seinem Haus 30 km südlich von Vilnius fest. Als Rollstuhlfahrer mit nicht wenigen Gebrechen gehört auch er (mit nun 58) zur sog. Risikogruppe und meidet persönliche Kontakte.
Auch die Vorlesungen am EBI in Vilnius wurden nun schon zwei Mal, im März und April, auf YouTube übertragen. Die Evangelische Gemeinde in Vilnius im Vorort Pilaite besitzt dafür eine gute technische Ausstattung. An diesen in der Not entdeckten Möglichkeiten wird das Bibelinstitut wohl festhalten – wie auch die Kirchen, die mit ihrem digitalen Angebot nun eine bisher ungeahnte Reichweite haben. Unsere Kirche wird die Übertragung der Gottesdienste ebenfalls sicher fortsetzen, die Andachten wohl noch den Mai hindurch.
Gegen Ende April wurde die strenge Quarantäne ähnlich wie in westeuropäischen Ländern nach und nach gelockert. Bis mind. zum 11. Mai gelten viele Beschränkungen aber weiter. Obwohl einige Geschäfte wieder arbeiten und man in Restaurants an der frischen Luft sitzen kann, füllen sich die Straßen nur sehr zögerlich. Im immer noch recht obrigkeitshörigen Litauen befolgen bis heute die meisten ohne jedes Murren die Losung „bleibt zuhause!“ Die Schulen und Unis werden bis zum Juni wohl gar nicht mehr aufmachen.
Vor einer guten Woche gaben sich auch die Kirchen neue Regelungen für Gottesdienste. Da in katholischen Kirchen jeden Tag Messen gelesen werden, bietet die im Land dominierende Religionsgemeinschaft nun Messen unter der Woche an, aber nicht am Sonntag – damit sich an dem Tag die Gläubigen in den Kirchen nicht drängeln. In den evangelischen Kirchen gibt es seit dem 3. Mai wieder öffentliche Gottesdienste (s. Foto o. in unserer Kirche in Vilnius). Anders als bei den Lutheranern und Katholiken hat sich die reformierte Kirche das Singen nicht pauschal untersagt. Abstandsgebot und Hygienevorschriften sollen in allen Kirchen eingehalten werden, aber unsere Kirche gibt ansonsten nur Empfehlungen und verpflichtet auch nicht zum ständigen Maskentragen im Gottesdienst. Die Reformierten sind also nicht zu einer reinen Wortliturgie übergegangen wie die Lutheraner, die sich hierzulande gerne und nicht ohne Stolz als „singende Kirche“ bezeichnet haben.
In Krisenzeiten rückt man auch in Kirchen enger zusammen. Da in der allgemein angespannten Lage aber bei vielen die Nerven blank liegen, menschelt es hier und da natürlich auch. Die Wortverkündiger unserer Kirche diskutierten vor einigen Wochen heftig – zu heftig – über die Möglichkeit des virtuellen Abendmahls (der Pfarrer zelebriert, die Gläubigen nehmen zuhause Brot und Wein für sich in Empfang). Solch eine Praxis wurde mehrheitlich abgelehnt, aber die zu scharfe Diskussion hinterließ Spuren.
Dabei wird es noch genug Herausforderung geben. In den nächsten Monate wird sein, wie mit der älteren Generation umzugehen ist. Allgemein werden sie als „Risikogruppe“ aufgefordert, die Öffentlichkeit zu meiden. Ein politischer Kommentator warf in diesen Tagen dem Gesundheitsminister nicht zu Unrecht vor, dass die Senioren von diesem geradezu zu Aussätzigen gestempelt worden sind. Er bedauert auch, dass die Kirchen das Signal ausgegeben haben: Ihr seid hier nicht erwünscht. Dabei stellt diese Altersgruppe in den traditionellen Kirchen des Landes einen beträchtlichen Teil der Gottesdienstbesucher, mitunter die Mehrheit. Wie kann der Kontakt mit ihnen aufrecht erhalten werden? Unter welchen Bedingungen könnten sie wieder am Gottesdienst teilnehmen? Auch in unserer Kirche sind die Senioren die Treuen, aber nun hat die Stunde der Jüngeren geschlagen. Werden diese nun umso mehr den Gottesdienst besuchen? Das werden die nächsten Wochen zeigen.
Die reformierte Kirche finanziert sich wie die anderen im Land durch Mitgliedsbeiträge, Kollekten, Spenden und vor allem Amtshandlungen. Bisher wurde von den Pfarrern recht viel Bargeld gesammelt und in den Gesamttopf für die Entlohnung der Mitarbeiter eingezahlt. Hier ist durch die stark eingeschränkten direkten Kontakte ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen. Allerdings sind in den letzten Jahren die Löhne ordentlich gestiegen und damit auch die Spendenbereitschaft etwas gewachsen. Mehr und mehr Mitglieder überweisen nun Spenden auf Konten der Kirche oder der Ortsgemeinden. Hier wird die Coronakrise sogar als positiver Katalysator – hin zu modernen Finanzierungswegen.
Bisher ist daher die Finanzlage der Kirche gut. Dies könnte sich aber im Herbst ändern. Denn besonders im Raum Birzai im Norden des Landes, wo rund die Hälfte aller Reformierten wohntn, stehen im Sommer die Friedhofsfeste an. Dies ist eine alte Tradition der Evangelischen in Lettland und Litauen, die immer noch beliebt ist; auch aus den Großstädten wie Kaunas und Vilnius reisen dann reformierte Christen zu den Friedhöfen, auf denen ihre Vorfahren begraben sind. Bei diesen Gottesdiensten wird traditionell großzügig gespendet. Von dieser Veranstaltungen und den Amtshandlungen in der Gegend lebt die Kirche bisher – und wie sich dies im weiteren Jahresverlauf oder im kommenden Jahr gestalten wird, bleibt abzuwarten.
Von Vorteil ist, dass für die Pastoren unserer Kirche ein vernünftiges und zentrales Gehaltssystem besteht. Alle zahlen Spenden in eine Kasse ein und werden je nach Arbeit entlohnt. Entlastend wirkt auch, dass von den insg. acht Wortverkündigern nur zwei ganz von der Kirche unterhalten werden (zwei weitere teilweise). Trotz der einen oder anderen Spannung ist auch der Zusammenhalt aller Mitarbeiter groß.
Nun zeichnet sich jedoch ab, dass der wirtschaftliche Einbruch in Litauen in diesem Jahr noch drastisch sein wird. Deutschland wird die Folgen der Krise durch großzügige Finanzzahlungen abfedern können. In Litauen sind manche Instrumente wie Kurzarbeit unbekannt. Die Finanzdecke vieler kleinerer Unternehmen ist dünn. Die Regierung kündigte zwar früh Hilfen an, lässt dem aber nur wenig, zu wenige Taten folgen. Schon 2009 war der Einbruch der Wirtschaft deutlich härter als in Deutschland, und auch 2020 wird die Rezession in Litauen zweistellig ausfallen. Die Folgen werden auch christliche Kirchen und Werken zu spüren bekommen.
Noch ist schwer zu sagen, wie die Kirchen am Ende der Coronakrise dastehen werden. Neue Möglichkeiten, das Evangelium im digitalen Raum weiterzusagen, tun sich auf. Andererseits ist von mutiger Leiterschaft bisher auch kaum etwas zu sehen. Erschwerend kommt hinzu, dass es trotz vieler gemeinsamer Herausforderungen kein etabliertes ökumenisches Forum o.ä. im Land, keinen Rat der Kirchen, keinen runden Tisch der Kirchenleiter gibt (auch eine Ev. Allianz ist noch nicht gegründet, obwohl in konkreter Planung). Die allermeisten Kirchen haben ihren Hauptsitz in Vilnius, in der Hauptstadt. Wir als Reformierte gehören den sog. traditionellen Religionen an (daneben u.a. lutherische, orthodoxe und römisch-katholische Kirche), haben aber auch gute persönliche Kontakte zu den in Deutschland als Freikirchen bezeichneten Bünden (Baptisten, Pfingstler) und jüngeren Gemeindeverbänden. Wir genießen Vertrauen auf allen Seiten. Diese Mittelstellung gilt es auszunutzen, um das Gespräch zwischen den Kirchen voranzubringen. Schließlich haben sich z.B. Wirtschaftsverbände schon in Stellung gebracht, um gemeinsam durch die Krise zu kommen. Warum nicht auch die Kirchen?