In die Verzweiflung gestoßen

In die Verzweiflung gestoßen

1959 formulierte Bill Bright die „Vier geistlichen Gesetze“ (The Four Spiritual Laws). Schon seit 1952, kurz nach der Gründung von „Campus Crusade for Christ“ durch Bright, hatten die Mitarbeiter der Werks in evangelistischen Gesprächen eine etwa zwanzigminütige Zusammenfassung des Evangeliums genutzt. Um dies noch prägnanter und leichter weitergeben zu können, reduzierte Bright den Kerninhalt weiter auf vier kurze Aussagen. 1965 wurden die „Vier geistlichen Gesetze“ erstmals gedruckt (mit der Einstiegsfrage „Have You Heard of  the Four Spiritual Laws?“ als Titel) und erreichten bis heute eine Auflage von Zig Millionen. Vor einigen Jahren überarbeitete der Schweizer Zweig „Campus für Christus“ die Gesetze und brachte „The Four“ heraus – eine Art zeitgemäßes Update, das sich inhaltlich von Brights altem Text aber kaum unterscheidet. (Bei „Campus“ in Deutschland sind die Brightschen Gesetze unter „Gott persönlich kennenlernen“ zu finden.)

An den Anfang der Präsentation des Evangeliums stellte Bright bewusst eine positive Aussage: „Gott liebt dich und bietet einen wundervollen Plan für dein Leben.“ (In den neuen Versionen: „Gott liebt Sie“ [D] bzw. „Gott liebt mich“ [CH].) Es folgt das zweite Gesetz: „Der Mensch ist sündig und von Gott getrennt. Deshalb kann er die Liebe und den Plan Gottes für sein Leben nicht erkennen und erfahren.“ Anschließend wird erläutert, wie Jesus dieses Problem gelöst hat und vor welcher Entscheidung der Mensch nun steht.

„Campus Crusade for Christ“ ist ein evangelikales Werk (in den USA seit 2011 „Cru“). Inhalt und Struktur der evangelischen, in der Reformation verwurzelten Evangeliumsverkündigung, sind jedoch andere als bei Bright und in der breiteren evangelikalen Kultur. Gerade am Beispiel des in den vier Gesetzen völlig abwesenden Begriffs der Verzweiflung kann dies deutlich gemacht werden.

Bereitung zur Gnade

„Ganz gewiß muß ein Mensch an sich selbst verzweifeln, um für den Empfang der Gnade Christi bereitet zu werden“, so Martin Luther schon 1518 in den Thesen zur Heidelberger Disputation. Dieser in heutigen Ohren ungewohnte und noch dazu kategorische Satz bildete bei Luther aber keine Ausnahme. Zwei Jahre später schreibt der Reformator in Von der Freiheit eines Christenmenschen: Die Gebote und das Gesetz Gottes „lehren und schreiben uns mancherlei gute Werke vor, aber damit sind sie noch nicht geschehen… Sie weisen wohl, sie helfen aber nicht, lehren, was man tun soll, geben aber keine Stärke dazu. Darum sind sie nur dazu geordnet, daß der Mensch darinnen sein Unvermögen zu dem Guten sehe und lerne an sich selbst zu verzweifeln…“

Ausgangspunkt bei Luther ist also die Erkenntnis des Anspruchs oder der Forderung des göttlichen Gebotes. Dies führt zu Wissen um das Verderben und Verzweiflung: „Wenn du das recht glaubst, wozu du verpflichtet bist, dann wirst du an dir selbst verzweifeln und du wirst bekennen, dass das Wort Hoseas wahr ist: O Israel, in dir ist nichts als dein Verderben, allein in mir aber steht deine Hilfe. Damit du aber aus dir und von dir, das ist aus deinem Verderben herauskommen kannst, dazu stellt er seinen lieben Sohn Jesus Christus vor dich hin und lässt dir durch sein lebendiges, tröstliches Wort sagen: Du sollst dich in denselben mit festem Glauben ergeben und frisch auf ihn vertrauen.“

Das Verzweifeln an sich selbst ist nötig, erlöst aber nicht. Ohne die Gnade machen z.B. die Selbstkasteiung oder auch Selbstmitleid nur noch elender. In den „Thesen für fünf Disputationen über Römer 3,28“ vergleicht Luther das Vorgehen bei der Verkündigung von Gesetz, Gnade und Glaube mit einem Arztbesuch und der Medizin. „Dann nämlich beginnt das Verlangen nach Gnade, wenn die Sündenerkenntnis da ist. Dann erst, wenn er das Übel seiner Krankheit begreift, verlangt der Kranke nach Medikamenten.“ Wenn also „dem Kranken die Gefahr gesagt wird, die seine Krankheit birgt“, dann will man ihn damit ja nicht in die Verzweiflung um der Verzweiflung willen treiben. Die Diagnose ist drastisch, damit der Kranke dadurch „ermutigt wird, die Medikamente zu verlangen“; damit das „Verlangen nach der Gnade unseres Herrn Jesu Christi in Bewegung“ gebracht wird.

Ähnlich formuliert es Luther in den Thesen zur Heidelberger Disputation: „Klar ist, dass nicht die Verzweiflung, sondern vielmehr die Hoffnung gepredigt wird, wo gepredigt wird, dass wir Sünder sind. Solche Predigt der Sünde oder vielmehr die Erkenntnis der Sünde und der Glaube an solche Predigt ist Bereitung zur Gnade.“

Kein gutes Haar am Menschen

Ulrich Zwingli, der Kopf der Reformation in Zürich, war kein Freund Luthers und ganz anders geprägt als der Reformator in Deutschland. Nach dem Religionsgespräch in Marburg im Jahr 1529 gingen die Wege der beiden endgültig auseinander; dass mit Lutheranern und Reformierten zwei evangelische Hauptströmungen entstanden, nahm damals seinen Anfang – bei den unvereinbaren Positionen zum Abendmahl.

Man sollte jedoch nicht vergessen, dass sich beide Reformatoren in vielen grundlegenden Fragen sehr nahe standen. In der Analyse des Sünderseins des Menschen stimmten Luther und Zwingli im Grunde überein; auch das Evangelium wird von beiden – trotz unterschiedlicher Akzente – im Wesentlichen gleich formuliert. Der Schweizer spricht z.B. in seinem Kommentar über die wahre und falsche Religion (1525) kaum weniger über die Verzweiflung an sich selbst als der Deutsche.

Luther betonte schon früh, dass der gefallene Mensch selbst Gott sein will. Bei Zwingli heißt es ebenfalls: „Jeder Mensch ist sich selbst sein Gott; man sieht dies schon daran, wie der Mensch sich selbst verehrt.“ Solche Menschen müssen durch den echten Glaube oder die wahre Religion zur Selbsterkenntnis gebracht werden: „Wie im Spiegel wird der Mensch sich selber durch Gott vor Augen gestellt, so dass er seinen Ungehorsam, seinen Verrat, sein Elend nicht weniger als Adam erkennt. Daraufhin verzweifelt der Mensch ganz und gar; aber zugleich tut ihm Gott den weiten Schoß seiner Güte auf…“ Zwingli weiter: „Echte Frömmigkeit entspringt nur da, wo der Mensch nicht bloß glaubt, dass ihm vieles fehlt, sondern wo er sieht, dass er überhaupt nichts hat, um Gott zu gefallen…“

Der Reformator stellt fest, „dass überall, wo in der Schrift der Weg zum Himmel gelehrt wird, wir gleichzeitig in die Verzweiflung gestoßen werden. Denn wer vermag den schmutzigen Weg dieses Lebens so zu wandeln, dass er sich… für würdig erachten würde, bei einem solchen Licht [d.h. Gott] zu wohnen und es zu genießen?“

Im Kapitel „Evangelium“ definiert Zwingli die Gute Nachricht so: „Das ist das Evangelium, dass im Namen Christi die Sünden vergeben werden. Eine fröhlichere Botschaft hat nie ein Herz vernommen!“ Durch Christus kommt es aber auch dazu, „dass wir unser früheres Leben bereuen“. Die Irrtümer müssen als solche erkannt werden,   und das kann nicht aus der sündigen Natur des Menschen, sondern nur durch den Hl. Geist geschehen: „Das bläue ich ununterbrochen ein, derart, dass kein gutes Haar am Menschen übrig bleibt, den manche so hoch einschätzen. Dass ein Mensch sich selbst erkennt, das kommt allein durch Gottes Geist zustande. Ohne dass Selbsterkenntnis vorausgeht, gibt es aber keine Selbstverwerfung“.

Selbsterkenntnis ist Selbstmißfallen, „Reue, Mißfallen und Scham über uns selbst“. „Wenn nämlich der Mensch durch Buße zur Selbsterkenntnis kommt, findet er nichts als letzte Verzweiflung; dann muss er, in jeder Hinsicht an sich selbst verzweifelt, zur Barmherzigkeit Gottes fliehen.“ Gott, so Zwingli, erleuchtet, „damit wir uns selbst erkennen; geschieht das, so geraten wir in Verzweiflung“.

Diese von Gott gewirkte Selbsterkenntnis führt zur Buße, „die eine Seite am Evangelium“. Diese wahre Buße ist nicht mit den Bußhandlungen in der damaligen katholischen Kirche gleichzusetzen. Es ist die, „durch die der Mensch, der sich selber kennen gelernt hat, errötet und sich des früheren Lebens schämt. Er schämt sich aus einem doppelten Grunde: einmal, weil er sich selber so mißfällt und über sich Schmerz empfindet, sodann, weil er sieht, dass einem Christenmenschen gar nicht anstehen darf, in den Lastern, aus denen er sich mit Freuden gerettet weiß, zu versinken.“

„Ich bereue nichts“

Wir leben nun, so Philip Rieff (1922–2006), in einem therapeutischen Zeitalter. Glück und persönliches inneres Wohlbefinden sind die Leitsterne dieser Kultur. Die Liebe Gottes und ein wunderbarer göttlicher Plan für das eigene Leben funktionieren in so einer Kultur wie ein Köder, der vielen schmeckt: Wenn Gott mich so wahnsinnig lieben will, dann soll er doch! Her mit so einer Liebe!

Die Sünde des Menschen wird in so einem Kontext zu einem bloßen Hindernis auf der an sich guten Straße, das aus dem Weg geräumt werden muss. Die ganz falsche Grundausrichtung des Menschen und seine Rebellion von tiefstem Herzen gegen Gott kommen da kaum zur Sprache; sein geistlicher Bankrott und echte Verzweiflung über sich selbst werden nicht thematisiert.

Das Erlösungswerk Jesu, bei Bright immer noch unbedingt nötig, wird vor einen falschen Wagen gespannt, und da helfen die an sich klaren Illustrationen in den „Gesetzen“ mit einem Kreuz auf dem Thron, d.h. Jesus, als Mittelpunkt unseres Lebens, auch nicht viel weiter. US-Evangelist Paul Washer hat – ohne Namen und den Titel zu nennen – die „Vier geistlichen Gesetze“ einer harschen, aber treffenden Kritik unterzogen.

Die Reduzierung auf vier kurze Gesetze wurde 1959 durch den Vortrag eines Geschäftsmannes angestoßen, der großen Eindruck auf Bright machte. Die Lehre des professionellen Verkäufers – wen wundert’s – war, dass es auch in der Evangelisation gleichsam um Verkaufsabschlüsse geht: Entscheidungen für Jesus, und von diesen möglichst viele. Lässt man sich auf dieses Denken ein, wird zahlenmäßiger Erfolg zum theologischen Wahrheitskriterium. Und die reformatorische Verzweiflung an sich selbst ist das Allerletzte, was man beim schnellen Durchrauschen der biblischen Botschaft gebrauchen kann.

Das Therapeutische ist immer noch mit uns. So hat Torsten Hebel (Freischwimmer) das Evangelium als Stärkung des Selbstwertgefühls umdefiniert. Andere betonen nun, dass wir doch inzwischen nicht mehr in einer schuldorientierten Kultur leben würden. In der Schamkultur, so Andreas Boppart, Leiter von „Campus für Christus“ in der Schweiz und nun auch in Deutschland, treffen wir auf „zutiefst beschämte Menschen, verunsichert in ihrer Identität. Während schuldgeprägte Menschen mit der Aussage leben: ‘Ich mache Fehler!’, sagen sich schamgeprägte: ‘Ich bin ein Fehler!’.“ („So tickt die Jugend“, „idea“, 30.01.2020)

Boppart kritisiert die „Reduktion auf reine Schuldvergebung“, wobei von einer tatsächlichen Reduktion in der reformatorischen Theologie gar keine Rede sein kann. Die Reformatoren nannten durchaus Scham als einen Ausdruck des Gefallenseins (s.o. Zwingli). Der Punkt ist vielmehr, dass wir den Schamgeprägten nach Boppart ja eins zurufen sollten: Du bist kein Fehler! Denn über das eigene Sein als solches sollten wir uns nicht schämen. „Ich bin ein Fehler“ ruft nach einer rein therapeutischen Antwort.

Wir sollten uns schämen – über das, was wir falsch gemacht haben, über die Fehler, die wir begangen haben, über die sündigen Taten, Worte und Gedanken. Scham ohne Schuldeinsicht ist eine Schmalspurscham. Boppart  zitiert den Hip-Hop-Musiker Kanye West, der nun auch an Jesus glaubt. In einem Interview wurde er gefragt, ob er sein altes Leben bereut. Seine Antwort sei, so Boppart, typisch für jeden Schambürger: „Nein. Ich bereue nichts. Und ich schäme mich nicht für das, was ich getan habe. Aber ich habe begriffen, dass ich nicht perfekt bin und Gott schon.“

Wenn West nichts bereut, dann hat er, so muss man wohl drastisch sagen, nichts verstanden. Von Verzweiflung an sich selbst angesichts der Forderungen Gottes ist nichts zu hören. Diese „Scham über das eigene Sein“ (Boppart) ist nicht Bereitung zur Gnade, die zum sündenvergebenden Gott treibt. Sie ist wohl eher Selbstbemitleidung.

Boppart hat recht: Es hat eine „wesentliche Verschiebung im Denken“ stattgefunden. Rieff und andere haben dies ja auch festgestellt. Doch werden Sünder die eigene Scham nur dann überwinden, wenn sie über ihre eigene Sündhaftigkeit erschrecken, ihre Sünden bereuen und an der Hilflosigkeit, an diesem Zustand aus eigener Kraft etwas zu ändern, verzweifeln. Dies ist jedoch keine „Schmalspurversion des Kreuzes“,

Das Grundproblem des Menschen hat sich seit der Reformation in keiner Weise verändert. Daher ist auch im 21. Jahrhundert den Menschen mit Zwingli „ununterbrochen einzubläuen“, dass „Reue, Mißfallen und Scham über uns selbst“ nötig sind, um zur wahren Selbsterkenntnis, damit zur Gotteserkenntnis und schließlich zum Heil zu gelangen.