Talarträger – der große Unterschied

Talarträger – der große Unterschied

Die Folgen des Krieges

Besonders in Polen, Weißrussland, Ostpreußen und dem Baltikum richteten die letzten Kriegsjahre 1944/45 verheerende Schäden an. Ganze Städte wie Warschau, Königsberg, Memel/Klaipėda, Minsk, Šiauliai oder Mitau/Jelgava wurden bis auf wenige Reste dem Erdboden gleichgemacht. Durch Flucht, Vertreibung und Umsiedlung wurden dann auch die evangelischen Kirchen stark geschwächt. In Ostpreußen und dem Memelland ging das lebendige pietistische Erbe so gut wie ganz verloren. Die lutherische Kirche Litauens verlor 90% ihrer Mitglieder.

Anders als bei der katholischen Kirche, die den Beistand an Priester in den Jahrzehnten nach dem Krieg in etwa halten konnte, mussten die evangelischen Gemeinden zudem mit nur wenigen Pastoren im ganzen Land auskommen. Denn auch viele von diesen waren 1945 geflohen oder später in den Westen gezogen. Die lutherische Kirche ordinierte daraufhin so manchen Stundenhalter, pietistische Laienprediger, zum Pfarrer. In der reformierten Kirche Litauens war das Bild noch düsterer: In den 50er und 60er Jahren waren in ihr nur noch drei ordinierte Geistliche aktiv, und ihre Zahl reduzierte sich weiter: in den 80ern war gerade noch einer übrig.

In Litauen konzentrierten die Sowjets ihre Unterdrückungsmaßnahmen auf die starke katholische Kirche. Die wenigen Evangelischen überließ man hingegen einem langsamen, siechenden Tod. Auch die äußerst schlechte finanzielle Versorgung der Pfarrer trug dazu bei. Schließlich waren die evangelischen Seelsorger wie ins Eiswasser geworfen worden: In der Litauischen Republik vor dem Krieg waren sie gleichsam Beamte und wurden aus dem Staatssäckel gut entlohnt. In der Sowjetunion wurden den Gemeinden diskriminierende Steuern auferlegt, und um eine Versorgung der Geistlichen kümmerte sich der Staat natürlich gar nicht mehr. Hinzu kam, dass die Gemeinden es gar nicht gewohnt waren, ihren Pastor selbst zu unterhalten. Vor allem bei Hausbesuchen und Amtshandlungen – jenseits oder am Rande der Legalität – erhielten sie nun persönliche Gaben der Gläubigen. Wer viel herumkam, taufte, traute und konfirmierte, kam so halbwegs über die Runden.

Wer jedoch schon hochbetagt war und kaum noch reisen konnte wie Adomas Šernas (geb. 1884), den traf ein besonders hartes Los. Der reformierte Generalsuperintendent war 1964 so verzweifelt, dass er gleichsam dem Teufel die Hand gab. Er machte mit den Sowjets einen pragmatischen Handel: Ich entsage öffentlich dem Glauben, und ihr versorgt nach meinem Tod meine Familie. Ein Papier gegen die Witwen- und Waisenrente. Man muss davon ausgehen, dass Šernas (Urgroßonkel des jetzigen Vilniuser Pfarrers Tomas Šernas) in Wahrheit nicht Atheist wurde, aber die Kommunisten nutzten diesen Abfall vom Christentum natürlich skrupellos für ihre Propaganda aus.

Liuteronai

Noch zahlreich: die lutherischen Pfarrer Litauens in der Kirche von Vilnius (um 1940)

Das zweischneidige Schwert des Wohlstandes

Ende der 80er Jahre hörten die Repressionen der Kirchen auf. Lutherische und reformierte Kirchengemeinden wurden wiedergegründet, zahlreiche neue freikirchliche Gemeinden entstanden, Heilsarmee und Methodisten knüpften am Vorkriegserbe an. Im freien Litauen wurden dabei einige Religionsgemeinschaften (darunter Katholiken, Lutheraner und Reformierte) in mancher Hinsicht privilegiert. So zahlen ihre Geistlichen keine Lohnsteuer und Sozialbeiträge. Allerdings gibt es auch kein Kirchensteuersystem. Alle Kirchen finanzieren sich ganz überwiegend aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und Kollekten. So kennen die Kirchen meist auch keine klar geregelten Einkommenssätze. Versorgungsgarantien gibt es in den evangelischen Kirchen nicht.

In den 90er Jahren war all dies kein Problem. Das Warenangebot war gering, Preisniveau sowie allgemein Arbeitskosten und Löhne bleiben lange recht niedrig. In Gemeinden und Werken herrschte viel Idealismus und Aufbruchstimmung. An Mitarbeitern in Kirchen und Werken und auch an Theologiestudenten mangelte es nicht. In den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren wandelte sich das Bild: Die Löhne steigen mittlerweile kräftig, noch stärker wuchs der Konsum, der sich in Litauen innerhalb von fünfzehn Jahren verdoppelt hat. Der Segen des freien Marktes (und des offenen Arbeitsmarktes in der EU) wurde deutlich spürbar.

Viel schwächer ist allerdings das Spendenwachstum im Land. Im „World Charity Index“, der weltweit das ehrenamtliche Engagement und die Spendenbereitschaft misst, liegt Litauen mit anderen postkommunistischen Ländern auf einem der ganz hinteren Plätze. Und diese Kultur der Spendenmuffel macht auch vor den christlichen Kirchen nicht halt. Hinzu kommt, dass die lutherischen und reformierten Gemeinden einen hohen Altersschnitt der Mitglieder haben. Bei einer Durchschnittsrente von 350 Euro können Ältere allein mit ihren Gaben die Hauptlast nicht stemmen. Trotz wirtschaftlichem Fortschritt fehlt es vielen Gemeinden daher an Finanzmitteln, um Pastoren zu unterhalten.

In den acht Gemeinden des Bundes der Freien Christen (Mennonitenbrüder) gibt es – abgesehen von den zwei ausländischen Missionaren – keinen Pastoren mehr im vollzeitlichen Gemeindedienst. Die fünf litauischen Hirten verdienen ihr Geld teilweise oder ganz woanders. Nicht viel besser sieht es im Baptistenbund aus. Das gesamte Kollekten- und Spendenaufkommen unserer reformierten Kirche (ohne Mieteinnahmen, Projektmittel, die bescheidene staatliche Dotation u.ä.) beträgt gerade 30.000 Euro im Jahr. Faktisch reicht dies nur für zwei vollzeitliche Pfarrer. In der Kirche wird ihr Gehalt nach einem Punktesystem berechnet: wer viel arbeitet, bekommt auch mehr. Ein litauischer ev.-reformierter Geistlicher kommt damit auf rund ein Viertel des verfügbaren Einkommens eines Kollegen in den EKD-Kirchen (die Lebenshaltungskosten in Litauen bewegen sich dabei etwa auf 75% des deutschen Niveaus). Trotz äußerlich genau gleicher Kleidung (der schwarze Talar mit Beffchen) sind die Pastoren in Litauen im Vergleich zu den Ordinierten in den deutschen Landeskirchen arme Schlucker. An dieser Stelle muss aber erwähnt werden, dass die Evangelische Partnerhilfe in Berlin und auch die Lippische Landeskirche (Pensionsfond) die Kollegen in Litauen unterstützen.

Da es in Kirchen und Werken inzwischen überall an Personal fehlt, sind Missionare, die länger im Land bleiben, nötiger als noch vor 25 Jahren. Sie können von den örtlichen Kirchen nicht bezahlt werden, denn die Mittel reichen – wenn überhaupt – nur für die Einheimischen. Holger wurde im Juni zum Katecheten ordiniert und ihm dabei ein Talar als Dienstkleidung umgehängt; arbeitsrechtlich ist er nun ganz Mitarbeiter der reformierten Kirche Litauens. Diese stellt eine Dienstwohnung und deckt Reisekosten. Rima arbeitet ehrenamtlich in der Gemeinde mit. Beide sind weiterhin dafür verantwortlich, die Mittel zum Lebensunterhalt aufzubringen. Diese werden wie bisher für alle Dienste der beiden von einem Freundes- und Spenderkreis in den deutschsprachigen Ländern gedeckt. Spenden an das Missionswerk Neues Leben werden zweckgebunden an die reformierte Kirche weitergeleitet. Wie bei den litauischen Kollegen gilt, dass nur das ausgezahlt wird, was auch reinkommt. Damit ist für die Talarträger in Litauen aktuell, was Jesus in Mt 6,33 fordert: „Es soll euch zuerst um Gottes Reich und Gottes Gerechtigkeit gehen, dann wird euch das Übrige alles dazugegeben. Macht euch keine Sorgen…“