Der Mensch ohne Brust

Der Mensch ohne Brust

Scheinbilder der Moral

Unterschiedliche Weltanschauungen bringen auch verschiedene ethische Konzeptionen mit sich. Dies wird oft nicht beachtet, zeigt sich aber immer wieder gut in Debatten wie über die Abtreibung und andere sensible Themen. Wir tun zumindest verbal meist jedoch noch so, als ob wir alle im Wesentlichen derselben Moralvorstellung zustimmen; dabei benutzen wir alle ähnliche Begriffe. Alasdair MacIntyre (geb. 1929), sicher einer der bedeutendsten Moralphilosophen der Gegenwart, stellte jedoch in Der Verlust der Tugend / After Virtue sehr gut dar, wie sehr unsere moralische Sprache „verwahrlost“ ist: „Wir besitzen in Wahrheit nur Scheinbilder der Moral, und wir gebrauchen weiter ihre Schlüsselbegriffe.“

Seit der Aufklärung versuchte man, Moral ganz neu zu begründen, nämlich ohne Gott; man suchte nach einer rationalen Grundlage der Moral. Der Inhalt der Moral, so MacIntyre, blieb aber bis ins 20. Jahrhundert überraschend konstant: „Woher übernahmen sie [die Philosophen des 18.-19. Jhdt.] diese gemeinsamen Überzeugungen? Offenbar aus ihrer gemeinsamen christlichen Vergangenheit…“ Es wurden aber nur „unzusammenhängende Bruchstücke eines einst zusammenhängenden Denk- und Handlungssystems“ übernommen.

Friedrich Nietzsche hatte dies klar gesehen. Auch „wir Gottlosen und Antimetaphysiker“ machen noch viele Anleihen bei unserem theistischen Erbe. Im Hinblick auf unseren „Glauben“ an die Wissenschaft betonte er – und entsprechendes gilt auch für die Moral –, dass wir „auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Platos war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die Wahrheit göttlich ist…“ (Die fröhliche Wissenschaft, 344) Nietzsche plädierte hier aber bekanntlich für Konsequenz: Wenn Gott tot ist, fällt für ihn das Kartenhaus zusammen, dann gibt es keine Wahrheit und keine Moral. Wenn sich nichts mehr „als göttlich erweist“, dann bleiben nur „der Irrtum, die Blindheit, die Lüge“.

Das ist die logische Folge eines atheistischen Humanismus. Nietzsches Sprache war nun wahrlich nicht verwahrlost, sondern direkt und eindeutig: „Jede Moral ist… ein Stück Tyrannei gegen die ‘Natur’, auch gegen die ‘Vernunft’…“ (Jenseits von Gut und Böse) Oder in Zur Genealogie der Moral: „An sich von Recht und Unrecht reden entbehrt alles Sinns, an sich kann natürlich ein Verletzen, Vergewaltigen, Ausbeuten, Vernichten nicht ‘Unrechtes’ sein, insofern das Leben essentiell, nämlich in seiner Grundfunktion verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungirt und gar nicht gedacht werden kann ohne diesen Charakter.“

Kaum einer mag heute wie Nietzsche reden, doch ein neues Denken hat sich durchgesetzt: Es gibt keine absolute Moral; Moralsysteme sind Ansammlungen sozialer Konventionen. Niemand hat mehr ‘von oben’ vorzuschreiben, was man zu tun und zu lassen hätte. So ist die philosophische Ethik heute weitgehend nur noch deskriptiv, d.h. beschreibend, nicht mehr vorschreibend und wirklich Orientierung gebend. Die „Meta-Ethik“ gibt den Ton an. Annemarie Pieper: „Die Ethik sagt nicht, was das Gute ist, sondern wie man dazu kommt, etwas als gut zu beurteilen… Die Ethik betreibt nicht selber Moral, sondern redet über Moral… Die Ethik fällt also nicht moralische Urteile über einzelne Handlungen, sondern analysiert auf einer Meta-Ebene die Art und Weise, wie moralische Urteile über Handlungen beschaffen sind.“ („Einführung in die philosophische Ethik“, FernUni Hagen).

Lustgefühle fördern

Welche Ethik wählen wir – oder sollten wir wählen? Übergehen wir an dieser Stelle die New Age-Moral, die ja – ausgehend von der östlichen Vorstellung, dass alles eins ist – mit den Kategorien Gut und Böse sowieso Schwierigkeiten hat. Betrachten wir die einflussreiche Theorie des Emotivismus (die auch MacIntyre ausführlich kritisiert). Die Emotivisten sprechen moralischen Aussagen jede Rationalität ab. Solche Sätze bringen lediglich ein Gefühl zum Ausdruck. „Du sollst nicht lügen“ sollte daher ‘übersetzt’ werden mit „Lügen gefällt mir nicht, und du solltest dies auch nicht mögen“. Moralische Urteile sind daher nicht richtig oder falsch.

Auch der analytische Philosoph Bertrand Russell (1872–1970), der das emotivistische Grundschema weiter verfeinerte, betonte: „Die Ethik unterscheidet sich von der Wissenschaft dadurch, dass ihre grundlegenden Gegebenheiten Gefühle und Empfindungen, nicht Wahrnehmungen sind… Ein sittliches Urteil sagt kein Faktum aus; es drückt, wenn auch häufig in verkappter Form, eine Hoffnung oder Befürchtung, ein Begehren oder eine Abneigung, Liebe oder Haß aus.“ (Human Society in Ethics and Politics)

„Gut“ definierte Russell als Wunschbefriedigung. Werte sind also nicht objektiv. „Wir können ‘das für mich Gute’ mit der ‘Befriedigung meiner Wünsche’ definieren.“ Von ‘Objektivität’ kann daher nur dann die Rede sein, wenn sich die Wünsche vieler verschiedener Menschen decken. Daher geht es in Moral und Recht darum, „Wunschkonflikte“ zu mildern. Und: „Ein Handlung ist recht, wenn sie auf die größtmögliche Wunschbefriedigung fühlender Wesen abzielt.“

Meist werden ethische Konzepte dieser Art heute mit der Evolutionstheorie verbunden. Auch der Österreicher Franz M. Wuketits (1955–2018) vertrat in Verdammt zur Unmoral? eine evolutionistische Ethik. Wie Russell und andere meint er: „Moral ist letzlich eine Sache von Empfindungen. So gesehen kann sie nicht objektiv sein, sie unterliegt unseren Gefühlen.“ Und: „Der Mensch – jeder Mensch – sucht positive Lebensgefühle und möchte Unlust vermeiden. Eine evolutionäre Ethik führt daher zu dem Postulat, Lustgefühle zu fördern.“ Er betont, „dass jedem Menschen ein Recht auf positive Lebensgefühle zugesprochen werden muss.“

Er kommt auch auf die Abtreibung zu sprechen, sagt nun aber natürlich nicht, dass das ungeborenen Kind nun auch eine Recht auf diese Gefühle oder was auch immer hätte. Und natürlich wiederholt auch er das Grunddogma unserer Zeit: „Was nun ‘moralisch’ oder ‘unmoralisch’ ist, ‘gut’ oder ‘böse’, läßt sich nicht ein für allemal, für alle Völker und Kulturen verbindlich entscheiden.“ Zahlreiche weitere Autoren folgen bis heute diesem Ansatz wie z.B. auch Michael Tomasello, der in A Natural History of Human Morality (2016) Objektivität im Hinblick auf Werte konsequent nur mit Anführungszeichen schreibt („Objectivity“).

Ein verschrumpftes Herz

In der zeitgenössischen Ethik sind Vernunft und Gefühle weitgehend auseinandergetreten. Empfindungen über Gut und Böse haben keinerlei objektiven Vernunftcharakter mehr. Dies und die entsprechenden Folgen sah schon C.S. Lewis (1898–1963) in seinem Die Abschaffung des Menschen / The Abolition of Man prophetisch voraus.  Das Büchlein vereint drei aufeinander aufbauende Vorträge aus dem Jahr 1943. Angestoßen wurde Lewis zu ihnen durch „einen philosophischer Schnitzer in einem Schulbuch für höhere Klassen“, so Hans Urs von Balthasar in der Einleitung der deutschen Ausgabe.

Lewis geht es um die Frage „der Objektivität der ersten Sittlichkeitsprinzipien“. Er ist überzeugt, dass Wertungen nicht nur einen Gefühlszustand ausdrücken, wie es in dem konkreten Schulbuch im Fall der Literatur eindeutig impliziert wird. Der Literaturdozent Lewis spricht sich klar gegen ein Auseinanderreißen von Vernunft und Gefühlen aus und fragt sich, „ob wir uns der Bedeutung der an unseren Schulen verwendeten Lehrbücher hinreichend bewußt sind“.

Lewis hält an einer „Lehre von einem objektiven Wert“ fest, dass nämlich gewisse Haltungen „wirklich wahr und andere wirklich falsch sind.“ In Pardon, ich bin Christ / Mere Christianity nennt er dies das Natur- oder Sittengesetz. Empfindungen sind zwar alogisch, so Lewis, aber „sie können vernünftig oder unvernünftig werden“. Wer ein grundlegendes objektives Wertesystem (egal, mit welchem Namen man es bezeichnet) leugnet, der muss hingegen „alle Gefühle als gleichermaßen nicht-rational betrachten, als bloßen Nebel zwischen uns und den wirklichen Dingen.“

„Der Kopf regiert den Bauch durch die Brust“, so Lewis. Es geht ihm um die Veredelung der Empfindungen zu „ausgeglichenen Gefühlen“. Das von ihm kritisierte Lehrbuch bringe hingegen nur „brustlose Menschen“ hervor. „Es ist empörend, dass man solche allgemein als Intellektuelle bezeichnet.“ Diese sind nicht durch ein „Übermaß an Intelligenz“ gekennzeichnet, sondern durch einen „Mangel an fruchtbarem, großherzigem Fühlen. Ihre Köpfe sind nicht größer als normal; sie scheinen nur so, weil sie über einem verschrumpften Herzen sitzen.“

Lewis geht es also letztlich um eine Aufwertung der Gefühle. Sie sind für die Ethik wichtiger als man gemeinhin denkt. Wichtig ist z.B. eine „beharrliche Hingabe an die Wahrheit“; auch ein unverdorbener Sinn für „intellektuelle Redlichkeit halten nicht lange vor ohne die Hilfe eines Gefühls“. „Auf jeden Schüler, den man vor einem leichten Überschwang an Empfindsamkeit bewahren muß, kommen drei, die es aus dem Schlummer kalter Gefühllosigkeit zu wecken gilt. Die Aufgabe des modernen Erziehers besteht nicht darin, Dschungel auszuhauen, sondern Wüsten zu bewässern. Die richtige Abwehr gegen falsche Gefühle besteht in der Vermittlung echter.“ Es geht um die Stärkung des echten Empfindungsvermögens, um die „Geordnetheit der Zuneigungen“.

Mit voller Brust

Gefühl, Wille und Verstand gehören alle zu unserem Menschsein, sind Teil unseres Seins als Ebenbilder Gottes. Allerdings sind Gefühle wie auch Intellekt und Wille gefallen, von Sünde geprägt und müssen erlöst werden. Erlösung ist nicht durch die Intensität der Gefühle als solche zu erreichen.

Auf der anderen Seite geschieht Erlösung aber auch nicht an Emotionen vorbei, ohne sie. Die griechischen Philosophen (vor allem Aristoteles und Platon) sahen den Verstand als die Fähigkeit an, die wesentlich unser Menschsein ausmacht. Der Verstand ist die höchste Fakultät im Menschen. Der Verstand ist in ihren Augen auch am wenigsten unvollkommen und hat daher die Emotionen zu kontrollieren.

Natürlich steckt darin viel Wahrheit, aber das biblische Menschenbild ist ausgewogener. So finden wir in der Bibel sowohl die Ermahnungen zum richtigen Denken als auch den Befehl zu richtigen Emotionen. Denn der Glaube ist nicht nur Produkt von Verstand und Wille. Gefühle sind an allen Prozessen, auch den vermeintlich rationalsten, mitbeteiligt. Und umgekehrt sind Emotionen durchaus von Elementen der Vernunft und des Willens durchdrungen. Nur deshalb kann ja auch Paulus dazu auffordern: entscheidet euch (mit dem Willen) zu richtigen (vernünftigen) Gefühlen. John Frame hat völlig recht, wenn er schreibt: „Das Heilmittel ist nicht (wie Platon dachte), die Emotionen vom Verstand, sondern vielmehr Emotionen und Verstand vom Wort Gottes beherrschen zu lassen.“ (The Doctrine of the Christian Life)

John Stott betonte in The Contemporary Christian, dass die Emotionen im christlichen Leben ihren Platz in geistlichen Erfahrungen, im öffentlichen Gottesdienst, in der Predigt des Evangeliums und im sozialen und pastoralen Dienst haben. Er schrieb aber auch ein Buch mit dem vielsagenden Titel Es kommt auch auf den Verstand an / Your Mind Matters. In der Tradition von Lewis wollte auch er beide Seiten in der Morallehre verbunden sehen. Nüchtern stellte er jedoch allgemein fest: „Eine der größten Schwächen der heutigen evangelikalen Christenheit ist unsere relative Vernachlässigung der christlichen Ethik.“ (The Gospel & The End of Time)

Stotts Urteil ist in seiner Härte wohl kaum übertrieben. Häufig kommen Christen bei ethischen Fragen über ein verschwommenes „dies oder jenes gefällt mir nicht“ kaum hinaus. Mit Lewis ist zu fragen: An welchen Tugenden sollten wir heute mit Beharrlichkeit festhalten? Welche göttlichen Gebote sind heute unbedingt und mit Leidenschaft zu verteidigen? Begegnen wir Ausprägungen des moralischen Verfalls nicht oft viel zu gefühllos? Und haben wir unsere moralischen Empfindungen, die wir meist noch haben (wie z.B. „wir müssen etwas gegen die Armut tun!“), wirklich durchdacht? Gibt es moralische Grundsätze, die immer noch „absolut gültig“ (Lewis) sind oder gebrauchen auch wir nur noch „Scheinbilder der Moral“ (MacIntyre)? Bei welchen ethischen Fragen und Problemen sollten wir als Christen aus voller Brust, d.h. mit voller Überzeugung und zutiefst empfundener Anteilnahme unsere Stimme erheben?