Wahlmarathon

Wahlmarathon

In diesem Frühjahr werden die Wahlberechtigten in Litauen mehr als ein halbes Dutzend Mal an die Urnen gerufen werden: zwei Volksabstimmungen, zwei Kommunalwahlgänge, und auch die Wahl zum Staatsoberhaupt wird sicher in eine zweite Runde gehen, hinzu kommt schließlich noch die Europawahl.

Seit der letzten Wahl 2015 werden die Bürgermeister der Kreise und großen Städte direkt gewählt. Parallel verläuft die Abstimmungen über die Listen zu den Stadt- und Kreistagen. In diesen muss der Bürgermeister seine Mehrheiten zusammenfinden und Koalitionen zimmern.

Höchstwahrscheinlich wird sich bei der Kommunalwahl im März ein Trend fortsetzen, der schon vor vier Jahren begann: parteilose Kandidaten und freie Wahlkomitees könnten oft das Rennen machen. Prominentestes Beispiel ist Visvaldas Matijošaitis (Jg. 57) in Kaunas. Der schwerreiche Inhaber eines Lebensmittelherstellers (vor allem Tiefkühlfisch) eroberte als Parteiloser 2015 das Rathaus im Sturm und setzte seine Managerkarriere in der Stadtverwaltung fort, räumte dort und in der Stadt ganz hemdsärmlig auf. Seine Wiederwahl gilt als sicher.

In Šiauliai steht seit einer Kadenz Artūras Visockas (Jg. 68) am Ruder, der mit seiner freien Wählerliste ins Rathaus eingezogen war. Anders als Matijošaitis hatte er nur ein kleines Fotogeschäft; fundierte Kenntnisse in Verwaltung fehlen ihm. Politikunerfahren wie er ist, trat er in so manches Fettnäpfchen; außerdem zeichnet er sich wahrlich nicht durch Achtung vor demokratischen Gepflogenheiten aus. Dennoch wird er womöglich sein Amt verteidigen können. Ausichtsreichster Gegenkandidat ist Valerijus Simulik, langjähriges Mitglied des Parlaments in Vilnius und ehemaliger Gymnasialdirektor in Šiauliai. Er will schon lange Stadtoberhaupt werden, hat auch schon oft die Partei gewechselt; nun tritt er wieder mit seiner Bewegung „Für Šiauliai“ an.

Vor vier Jahren war die „Liberale Bewegung“ voll im Aufwind und schnitt bei den Kommunalwahlen recht gut ab (siehe hier). In der liberalen Hochburg Klaipėda wurde damals der Musiker Vytautas Grubliauskas (Jg. 56) zum Bürgermeister gewählt. Doch schon 2016 leitete ein Korruptionsskandal um den Parteichef der Liberalen deren Sturzflug ein. Egidijus Masiulis, einst schon als Premier gehandelt, sitzt nun auf der Anklagebank und riß seine ganze Partei mit in die Tiefe (hier mehr). Grubliauskas verließ rechtzeitig das in seinen Augen sinkende Schiff und tritt nun mit seiner eigenen Liste zur Wiederwahl an. Beliebt wie er in der Stadt ist könnte ihm das gelingen. Allerdings tritt er ausgerechnet gegen Simonas Gentvilas an, den Sohn des alten Kumpanen Eugenijus Gentvilas, nun Parteichef der  Liberalen (Vater und Sohn sitzen im Parlament in Vilnius). Auch eine recht junge Politikerin der Konservativen macht sich in der Hafenstadt Hoffnungen.

Sehr spannend wird es auch in der Hauptstadt. Möglich, dass sich das Szenario von 2015 wiederholen wird und im zweiten Wahlgang zwei Liberale gegeneinander antreten werden. Amtsinhaber Remigijus Šimašius folgte Masiulis im Parteivorsitz der Liberalen Bewegung, schmiss aber nach einem Jahr das Handtuch – die Aufarbeitung des Korruptionsskandals, in den er nicht verwickelt ist, war ihm nicht konsequent genug. 2018 verließ er die Partei ganz und tritt nun wie Grubliauskas als Unabhängiger und mit eigener Liste an. Šimašius (Jg. 74) war Justizminister und zuvor Leiter des libertären Thinktanks „Litauisches Institut für freie Marktwirtschaft“ (LLRI). Er bekennt sich klar zum katholischen Glauben.

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Der Bürgermeister Anfang des Jahres in der reformierten Gemeinde von Vilnius

Gegenkandidaten gibt es in Vilnius genug wie Dainius Kreivys, den ehemaligen Wirtschaftsminister aus den Reihen der konservativen Heimatunion, oder den derzeitigen sehr jungen Amtsinhaber des Ressorts, der für die regierende Bauernpartei antritt. Gute Chance hat aber wie vor vier Jahren auch Artūras Zuokas (Jg. 68). Der ambitionierte Journalist, Geschäftsmann und Politiker war ab 2000 schon drei Mal Bürgermeister und ist in der Stadt immer noch gut vernetzt. Allerdings gilt er, anders als Konkurrent Šimašius, nicht als moralisch integer. Außerdem wandert er schon eine Weile durch das liberale Parteienspektrum, steht nun der Litauischen Freiheitsunion vor (hervorgegangen aus den Liberalzentristen, von denen sich die Liberale Bewegung einst getrennt hatte). Zuokas und Šimašius sind zwar beide im ähnlichen Alter sowie modern, pragmatisch und liberal eingestellt, aber auch in herzlicher gegenseitiger Abneigung miteinander verbunden.

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Wer wird Nachfolger von Präsidentin Grybauskaitė?

Im Mai finden außerdem Wahlen zum Präsidenten Litauen statt. Anders als in Lettland oder Estland wird das Staatsoberhaupt von den litauischen Bürgern direkt gewählt. Amtsinhaberin Dalia Grybauskaitė, die ehemalige Finanzministerin und EU-Kommissarin, kann  nach zwei Kadenzen nicht mehr kandidieren. Wer wird also für die nächsten fünf Jahre in den Präsidentenpalast mitten in Vinius zwischen Kathedrale und Universität einziehen und die Nachfolge der eisernen Dalia antreten?

Auch in diesem Wahlkampf führen Parteilose die Umfragen an. Favorit ist Gitanas Nausėda, der dem liberal-konservativen Lager zuzurechnen ist. Viele Jahre war der aus Klaipeda stammende Ökonom Chefvolkswirt der litauischen SEB, der größten, aus Schweden stammenden Privatbank des Landes. Daher war er durch seine häufigen Kommentare zu wirtschaftlichen, aber auch politischen Fragen schon länger einem breiten Publikum bekannt. Als Kandidat für politische Spitzenposten wurde er schon jahrelang gehandelt. Im vergangenen Herbst gab er schließlich seine Kandidatur bekannt. Tatsächlich dürfe der hochgewachsene und immer staatmännische auftretende Nausėda (Jg. 64) die beste Figur in dem Amt machen. Allerdings machen ihm nun manche sein Bankkarriere zum Vorwurf. Übrigens befindet sich sein Wahlkampfbüro in unserem Nachbarhaus in der Pylimo-Strasse in Vilnius (s. Foto ganz oben).

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Führt die Umfragen schon lange an: Gitanas Nausėda

Der litauische Präsident leitet die Außen- und Sicherheitspolitik des Landes. Viele Bürger projizieren in das Amt aber einen Überpremier, der so gut wie alle Probleme im Land lösen soll. Die Verfassung gibt ihm zwar einige Vollmachten bei der Benennung von Regierungsmitgliedern und anderen hohen Beamten, doch die Grundlinien der Innenpolitik werden von Parlament und Regierung bestimmt.

Regierungsverantwortung hatte schon Ingrida Šimonytė (Jg. 74) als Finanzministerin. In der liberal-konservativen Regierung Kubilius (2008-12) musste sie mit den dramatischen Folgen der Finanzkrise 2009 zurecht kommen. Diesen Job meisterte sie und war seitdem nicht selten für höhere Ämter im Gespräch. Sie gehört nicht der konservativen Partei an, sitzt aber in ihrer Fraktion im im Parlament und wurde von den regionalen Bezirken mehrheitlich zur Kandidatin gekürt. In der Partei ist sie recht populär, nicht zuletzt wegen ihrer sachlichen und zugleich sympathischen und unprätentiösen Art. Bis heute pflegt die Unverheiratete zuhause ihre Mutter.

Es ist durchaus denkbar, dass Šimonytė und Nausėda in die Stichwahl, den zweiten Wahlgang, kommen werden – zwei Kandidaten aus dem Mitte-Rechts-Spektrum. Aus dem linken Lager hat eigentlich nur Saulius Skvernelis (Jg. 1970) Chancen, seit 2016 Regierungschef Litauens. Zwei Jahre vorher amtierte er als Innenminister. Karriere machte Skvernelis in der Polizei, in der es bis ganz an die Spitze zum Generalkommissar brachte. Im durchgreifenden Stil eines Polizisten arbeitet der Premier auch weiterhin und redet schon mal gerne, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Mit der Präsidentin befindet er sich im Dauerclinch. Politisch versucht er sich durch Linkspopulismus zu profilieren.

Oft genug enttäuschen die Politiker in Litauen, doch insgesamt kann man nur dankbar über stabile politische Verhältnisse und die Abwesenheit von Skandalen sein, die an den Grundfesten der demokratischen Ordnung rühren (wie jüngst in Rumänien). Mit Links- und Rechtpopulismus ringt man auch in der litauischen Politik, doch scharfe Ausschläge in die eine oder andere Ausrichtung gibt es nicht. Und immer wieder machen einzelne Amtsträger oder Kandidaten Hoffnung wie einst Präsident Adamkus, Premier Kubilius und nun wieder Nausėda.