Selbstbetrug

Selbstbetrug

In Litauen ist man allgemein recht stolz darauf, katholischer Vorposten im Norden Europas zu sein. Nur die überwiegend katholische Region Lettgallen (Latgale) im benachbarten Lettland liegt noch weiter nordöstlich. Beim Besuch von Papst Franziskus im vergangenen September kehrte das Land wieder gerne seine fromme Seite heraus. Tatsächlich war die Kurzvisite ein Erfolg, viele Zehntausende kamen z.B. zur großen Freiluftmesse in Kaunas.

Die älteste anerkannte Marienerscheinung in Europa (1608), das Original des 1934 gemalten „Gnadenbildes des barmherzigen Jesus“ in Vilnius, ein Dutzend wichtiger Marienbildnisse und -schreine, im Sommer zahlreiche Ablässe, der Berg der Kreuze bei Šiauliai, immer noch an die 90% aller Kinder werden getauft – braucht es noch mehr Beweise, dass die Litauer ein besonders religiöses, frommes Volk sind? Schließlich rechnen sich doch knapp Vierfünftel der Einwohnerschaft im südlichsten der baltischen Staaten der katholischen Kirche zu (in der polnischen Minderheit beträgt ihr Anteil fast 90%). Nur gut 10% der litauischen Bürger glaubt an keinerlei Gott, und wirklich bekennende Atheisten gibt es kaum.

Allerdings täuscht dieses Bild. Tatsächlich kann man in katholischen wie evangelischen Gemeinden den Eindruck gewinnen, dass die Gottesdienste an Sonntagen besser besucht sein könnten. Und die sozialwissenschaftlichen Daten zeigen nun eindeutig: Litauen ist vom „katholischen Europa“ überraschend weit entfernt.

Zwischen „Frömmigkeit“ und „Vernunft“

Im „Spiegel“ vom 29.12. wurde im Beitrag „Gewissensfragen an die Welt“ der World Values Survey (WWS, Weltweite Werte-Erhebung) vorgestellt. Bei diesem „akademischen Mammutprojekt“ werden seit 1981 die menschlichen Werthaltungen und ihr Wandel in zahlreichen Staaten untersucht. In jedem Land wurden in bisher fünf Erhebungsintervallen oder  „Wellen“ Tausende Einwohner mit rund 250 Fragen zu einem breiten Themenspektrum interviewt. So kam eine klares Bild von den tatsächlichen sozialen, kulturellen, politischen und religiösen Einstellungen der Menschen eines Landes über Jahrzehnte hinweg zustande. Eine der Verantwortlichen des Projekt ist der Politologe Christian Welzel von der Universität Lüneburg.

Inglehart

Die Inglehart-Welzer-Karte aus dem „Spiegel“

Nach ihm und dem Mitbegründer des WWS Ronald Inglehart ist die bekannteste Darstellung des Surveys benannt: die Inglehart-Welzel-Karte. Auf ihr sind alle Länder auf einem kulturellen Koordinatensystem mit zwei Dimensionen verortet. Die Vertikale gibt die Rolle der Religion oder, so der „Spiegel“, den „Grad der Aufklärung“ wieder: „den Übergang von einer religiös-traditionellen Werthaltung zu weltlich rationalen. Je tiefer ein Land auf der Vertikalen liegt, desto dominanter sind dort religiöse Werte und Institutionen, desto größer ist die Achtung vor Autoritäten…“. Im „Spiegel“ sind die Pole „Frömmigkeit“ (unten) und „Vernunft“ (oben).

Die Horizontale gibt die Rolle des Individuums wieder; hier stehen „Überlebenswerte“ im Kontrast zu „Selbstentfaltungswerten“. Im „Spiegel“ sind die Pole „Unterordnung“ (links) und „Selbstverwirklichung“ (rechts).  „Je weiter links im Schema, desto stärker ist im jeweiligen Land der Überlebenskampf duch Armut, desto stärker ausgeprägt sind dort Werte wie Sicherheit, Verteidigung, Disziplin. Je weiter nach rechts, desto größer die Selbstverwirklichung, das wechselseitige Vertrauen, die Gleichheit der Geschlechter, die Toleranz gegenüber Ausländern, Andersgläubigen, sexuellen Minderheiten.“

Inglehart und Welzel haben die Länder auf der Karte zu neun großen Gruppen oder „kulturellen Zonen“ zusammengefasst. Der wichtigste Vorteil dieser Gruppen gegenüber Samuel Huntingtons geographischen „Kulturkreisen“ (in seinem Bestseller Kampf der Kulturen von 1996) ist, dass eine gewisse kulturelle Nähe von weit entfernten Ländern erkennbar wird: Litauen steht neben China, Italien nicht weit von Indien, Portugal neben Vietnam. Umgekehrt bedeutet geographische Nachbarschaft nicht unbedingt kulturelle Nähe: die Slowakei und Tschechien sind rel. Weit voneinander entfernt, noch viel mehr Estland und Finnland.

Oben rechts auf der Karte befinden sich die Skandinavier und das „protestantische Europa“ – stark säkularisierte Gesellschaften, in denen die Rolle des Individuums großgeschrieben wird; darunter die angelsächsischen Länder, in den Religion eine etwas größere Rolle spielt. Den Gegenpol zu Schweden ganz oben rechts bilden die Länder der „afrikanisch-islamischen“ Zone. In der Mitte befinden sich das „katholische Europa“ und „Südasien“. Links in der Mitte liegt u.a. mit Serbien, Bosnien und Russland der „orthodoxe“ Kulturkreis – mittlere Werte für die Rolle der Religion, schwache Individuen. Darüber sind die „baltischen“ Ländern angesiedelt: Litauen, Estland, Lettland, deren dichte Nachbarn – Südkorea, Taiwan – in die „konfuzianische“ Zone hineinreichen.

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Weit weg vom „katholischen Europa“

Trotz allem Gerede vom „Land Mariens“ oder dem der Kreuze – Litauen gehört zu den Ländern, die am weitesten oben auf der Inglehart-Welzel-Karte liegen. Der Pol „Frömmigkeit“ ist weit weg; die Säkularisierung ist kaum weniger fortgeschritten, die Religion spielt im Leben der Menschen kaum mehr eine Rolle als im bekanntlich sehr stark entkirchlichten Estland. Litauen liegt in etwa auf einer Höhe wie Tschechien, die Niederlande oder Dänemark – und auch Deutschland. Dies zeigt ja, dass nicht nur auf die Kirchenmitgliedschaften geschaut werden darf. Sie ist teilweise sehr niedrig (Estland, Tschechien, neue Bundesländer), teilweise im Mittelfeld (Niederlande, Gesamtdeutschland) oder immer noch recht hoch (Norwegen, Dänemark und Litauen, jeweils um die 80% und mehr).

Litauen befindet sich also im Hinblick auf die tatsächlichen religiösen Werte und Einstellungen in einiger Entfernung vom „katholischen Europa“, auch von anderen postkommunistischen Ländern dort wie der Slowakei oder Kroatien, ganz zu schweigen von Polen. Noch lässt man allermeist die Kinder taufen, heiratet ebenfalls noch überwiegend in der Kirche, und sicher muss am Grab auch ein Pfarrer stehen. Ansonsten scheren sich die Litauer nicht viel mehr um Gott und den Glauben als die Esten (45% Konfessionslose unter den Erwachsenen) oder Tschechen (72% Konfessionslose).

Auch katholische Fachleute aus Litauen gehen davon aus, dass nur rund jeder siebte Katholik seinen Glauben wirklich ernst nimmt. So praktizieren nur rund 15% der Einwohner in Litauen tägliches Gebet. Religiöse Gottlosigkeit oder frommer Selbstbetrug – so könnte man die Grundeinstellung der meisten Einwohner kennzeichnen.