Kirche und Inkarnation

Kirche und Inkarnation

Am 22. September traf Papst Franziskus zu einem zweitägigen Besuch in Litauen ein – fünfundzwanzig Jahre und zwei Wochen nach der Visite seines Vorgängers Johannes Paul II. Zufälligerweise am gleichen Tag erschien in Deutschland „Der Spiegel“ mit Franziskus auf dem Titel und der Überschrift „Du sollst nicht lügen“. Die Titelgeschichte hatte die Missbrauchsskandale in der Kirche und ihre eher mangelhafte Aufarbeitung zum Thema. Anfang dieser Woche demonstrierten sogar im frommen Polen Tausende gegen die Kirche und für Aufklärung – Rom bekommt das Thema nicht mehr vom Tisch.

Natürlich bemühen sich die säkularen Medien so gut wie nie um eine theologische Deutung der Vorgänge in der römischen Kirche. Die allermeisten evangelischen Kirchen helfen hier ebenfalls kaum weiter, scheuen sie doch vor Kritik zurück. Man hat schließlich genug eigene Probleme. Außerdem lässt das samtweiche ökumenische Klima der Zeit eine ernsthafte Analyse und Durchdringung der Zusammenhänge im Katholizismus durch Protestanten kaum zu.

Umso mehr ist Leonardo De Chirico zu danken, der Anfang des Monats in einem Beitrag auf seinem Blog „Vatican files“ eine erhellende Sicht zu den jüngsten Vorgängen in Rom und den Skandalen dargestellt hat. Er sieht als tiefere Ursache das theologische Verständnis des Priesteramtes in der römischen Kirche, konkret die Verbindung des Priesters mit Christus. „In seinem Amt handelt der Priester in persona Christi, als ob er Christus selbst wäre“, so De Chirico.

Im römischen Katholizismus ist dies am deutlichsten bei den Worten in der Messe, die die Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi vollziehen und ankündigen. Der Priester handelt außerdem in der Person Christi, wenn er Gottes Vergebung im Bußsakrament zuspricht. In der Leitung der Kirche durch Priester und vor allem Bischöfe ist Christus gegenwärtig, wobei die Hierarchen ihn nicht nur repräsentieren, sondern handeln, als wären sie der Gottessohn. „In den Bischöfen, denen die Priester zur Seite stehen, ist also inmitten der Gläubigen der Herr Jesus Christus, der Hohepriester, anwesend“, so in der Dogmatischen Konstitution Lumen gentium des II. Vatikanischen Konzils (21; Hvhg. H.L.).

Priester und Bischöfe sowie der Papst an der Spitze der Kirche werden nicht zu Gott; ihre Vollmachten bleiben begrenzt. Dennoch haben sie eine äußerst starke Machtposition über den nichtordinierten Kirchenmitgliedern inne, die eben nur zu oft missbraucht wird. „Diese Lehre ist im römisch-katholischen Verständnis der Beziehung von Christus und der Kirche gegründet“, schreibt der italienische Theologe und Pastor weiter. Rom zufolge setzt die Kirche die Inkarnation Christi fort, verlängert sie sozusagen. Über die Fortsetzung der Inkarnation schreibt De Chirico auch in diesem Beitrag.

Christus prolongatus 

Dass der Protestant aus Italien die katholische Lehre richtig darstellt, zeigt die Lektüre von Der Papst – Sendung und Auftrag (2017). Autor ist niemand anderes als Gerhard Kardinal Müller, der bis 2017 Leiter der Glaubenskongregation im Vatikan, also der ‘Cheftheologe’ Roms, war.

Müller betont an zahlreichen Stellen im Buch, dass die Kirche selbst Sakrament ist, ein sichtbares Zeichen und Instrument des Heils. Er spricht von der „inkarnatorisch-sakramentalen Gestalt des Christentums“ und sieht die „geschichtlich gewachsenen Gestalt“ der Kirche „in der in der Inkarnation begründet“. Auch das „Geheimnis der apostolischen Vollmacht und Sendung“ sei „in der Logik der Inkarnation begründet und stellt eine wesentliche Form seiner Repräsentation dar“.

Es geht bei Müller immer um die konkrete römisch-katholische Kirche mit ihrer gesamten Struktur. „Der Bau der sichtbaren Kirche… ist geradezu eine Folge der Inkarnation und ihre bleibende leibhafte An-wesenheit in der Welt“. „Die Kontinuität der Kirche aller Zeiten mit der Kirche der Apostel“ gründet „in der Inkarnation und [ist] darum sakramentaler Natur.“ Hier ein ausführlicheres Zitat:

„Die Sakramentalität der Kirche gründet in der Inkarnation. In Analogie zur gott-menschlichen Einheit Christi besteht die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche als geistlich-unsichtbare Lebensgemeinschaft mit Gott und als sichtbare, hierarchisch verfasste Kirche. Die Einheit zeigt sich in der gemeinsamen apostolischen Lehre, dem sakramentalen Leben und der hierarchischen Verfassung… Als Kirche für den Menschen in seiner geist-leiblischen Verfassung und seiner historischen und sozialen Existenzform konkretisiert sie sich gemäß den kulturellen Lebensbedingungen des Menschen in den Koordination von Raum und Zeit.“

Bemerkenswert sind auch diese Ausführungen: „Die Quellen der Heiligen Schrift, der Tradition und des Lehramtes sind eben nicht nur Ausdruck von menschlichen Gedanken und Aktionen. Aufgrund der Inkarnation sind diese auch Informations- und Datenträger von Gottes Wort im Geist und Mund der verkündigenden und glaubenden Kirche.“ Hier wird die Brisanz des katholischen Ansatzes deutlich. Nach evangelischem Verständnis sind menschliche Traditionen und Lehren genau das, was Müller hier leugnet: menschliche Gedanken. Gott benutzt diese und kann durch und mit ihnen wirken insoweit das göttliche Wort zur Sprache kommt, aber sie selbst sind nicht göttlich. Gerade der Bezug auf die Inkarnation macht eine protestantische Interpretation dieser Sätze unmöglich. Denn die Inkarnation sagt ja aus, dass in Christus Göttliches und Menschliches untrennbar verbunden sind. Gerade die Übertragung dieses Aspektes auf die sichtbare Kirche, ihre Amtsträger und Lehren, schafft die ganzen Probleme.

Müller lehrt also, dass die Kirche der fortlebende Christus ist, lat. Christus prolongatus.  Die Kirche nimmt teil an der Doppelnatur Christi. Eine klare biblische Begründung dieses organologisch-mystischen Leib-Christ-Verständnis erhalten wir jedoch nicht. Natürlich ist Christus mit seiner Kirche auf vielerlei Weise verbunden. Die biblischen Bilder wie das Haupt und der Leib, Bräutigam und Braut, Eckstein und Gebäude, Weinstock und Reben usw. drücken ja alle eine enge Beziehung aus. Doch alle Bilder beinhalten genauso einen klaren Unterschied zwischen Christus und seiner Kirche: der Leib ist nicht das Haupt, die Braut nicht der Bräutigam, die Reben sind nicht der Weinstock. Gerade diese Unterscheidung wird von der römisch-katholischen Lehre verwischt.

Im Ergebnis hat die Kirche die gleiche Autorität wie der Gottmensch und sind die   Sakramente effektive Instrumente der Rettung, ja die Kirche als Sakrament rettet (was der Katechismus der Katholischen Kirche mehrfach bekräftigt, s. z.B. 776). Daher muss Versöhnung nicht nur mit Gott, sondern auch mit der Kirche geschehen (KKK, 1462, 1469, 1484).

„Eine ungeheure Differenz“

Die Kirche als sichtbare, hierarchische Organisation ist die Fortsetzung der Inkarnation Christi. Der deutsche katholische Theologe Johann Adam Möhler (1796–1838), der auch von Kardinal Müller fleißig zitiert wird, schreibt: „So ist denn die sichtbare Kirche… der unter den Menschen in menschlicher Form erscheinende, stets sich erneuernde, ewig sich verjüngende Sohn Gottes, die andauernde Fleischwerdung desselben… Die Kirche, seine bleibende Erscheinung, ist göttlich und menschlich zugleich… Sie hat darum eine göttliche und menschliche Seite in ungeschiedener Weise, so daß das Göttliche nicht vom dem Menschlichen, und dieses nicht von jenem getrennt werden mag.“ Die sichtbare Kirche ist daher in gewisser Weise der Sohn Gottes, und daher müsse ihr auch „herzliche Achtung, Liebe und Hingabe“ entgegengebracht werden (Symbolik, 1832, § 36).

Möhler unterstreicht, dass Christus selbst „auf eine gottmenschliche Weise fortwirken“ wollte (Symbolik, § 40). Der letzte Grund der Sichtbarkeit der Kirche liegt in der Menschwerdung des göttlichen Wortes. Die Inkarnation dient dazu, die sichtbare Seite der Kirche, ihre Institutionalität, zu fundieren. Diese Seite ist die primäre und ausschlaggebende wie Möhler in seinem Werk auch betont: „Die Katholiken lehren: die sichtbare Kirche ist zuerst, dann kommt die unsichtbare: jene bildet die erste. Die Lutheraner dagegen umgekehrt: aus der unsichtbaren geht die sichtbare hervor, und jene ist der Grund von dieser. In diesem scheinbar höchst unbedeutenden Gegensatze ist eine ungeheure Differenz ausgesprochen.“ (§ 48)

Möhler lehrte vor bald zweihundert Jahren, aber es war kein anderer als Papst Paul VI., der Gastgeber des Zweiten Vatikanischen Konzils vor gut fünfzig Jahren, der die Lehre von der Kirche als Fortsetzung der Inkarnation neu ins Spiel brachte. Mehrere Zitate ließen sich hier anführen. In den Dokumenten des Konzils selbst wurde jedoch eher vorsichtig formuliert (in Lumen gentium, 8, heißt es, die Kirche sei „in einer nicht unbedeutenden Analogie dem Mysterium des fleischgewordenen Wortes ähnlich“).

Was ist von all diesem zu lernen? Gewiss haben auch die evangelischen Kirchen zahlreiche Probleme, aber es sind oft andere als die, mit denen gerade nun Rom zu ringen hat. Wenn manche konservativ gesinnte Evangelischen manches mal mit einer gewissen Sehnsucht nach Rom blicken, sollte man nicht vergessen: die inkarnatorische Ekklesiologie wertet die Kirche und ihre Amtsträger gewaltig auf, doch der Preis dafür ist hoch, sehr hoch. Die katholische Kirche wird, angetrieben durch die Missbrauchsskandale, keine tiefgreifenden Reformen durchführen, denn dann müsste das Fundament der Lehre von der Kirche neuformuliert werden – und dies wird nicht geschehen.

Viele Evangelische und auch Evangelikale reden heute die Unterschiede zwischen den Konfessionen klein. Je auf ihre Weise erinnern De Chirico und Müller daran, dass es bis heute „ungeheure Differenzen“ zwischen Evangelischen und Katholiken gibt. Protestanten sind daher zweitens aufgerufen, ihre Ekklesiologie wieder neu zu entdecken. Andernfalls wird man im ökumenischen Dialog nur an der Oberfläche kratzen.

Drittens ist es nötig, dass gerade die missionarisch engagierten Evangelikalen ab und an auf ihre Wortwahl achten. So heißt es in den 15 Thesen zur missionalen Ekklesiologie des IGW aus der Schweiz unter dem Stichwort „Wesen“ der Kirche: „Die Kirche ist die gegenwärtige Inkarnation Jesu Christi in der Welt. Sie verkörpert die Liebe, die Barmherzigkeit und die Zuwendung Gottes zur Welt.“ Diese These 5 sagt vieles Richtige aus, doch die Kirche ist nach evangelischem Verständnis nicht die Inkarnation Jesu Christi. Das, was hier positiv gemeint ist, sollte unbedingt mit anderen Worten formuliert werden. Andernfalls tappt man am Ende noch in Fallen, die sich Rom schon vor Urzeiten selbst gestellt hat.