Gute Nachricht für die Armen

Gute Nachricht für die Armen

Bis heute wird Christen nicht selten vorgeworfen, ihnen ginge es nur um das ewige Seelenheil – das Evangelium als Eintrittskarte in den Himmel. Progressive Christen wiederum greifen diese Kritik gerne auf, hauen nicht selten in die gleiche Kerbe und betonen die soziale Verantwortung der Kirche.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass dieser Gegensatz in der Reformationszeit in dieser Schärfe gar nicht gesehen wurde. Natürlich ging es den Reformatoren um das ewige Leben, die Rechtfertigung vor Gott und die Gewissheit der Errettung. Das irdische Leben wurde weitgehend als Jammertal angesehen – und das auch aus ganz objektiven Gründen, denn das Dasein war zu der Zeit im Vergleich zu heute ein einziges Elend. Dabei vergaßen sie aber ganz und gar nicht die irdischen Folgen und Belange des Glaubens, im Gegenteil. Deutlich wurde dies vor allem in der Erneuerung des Amts des Diakons, vor allem in der reformierten Konfession.

Die Armenfürsorge und der Schutz ihrer Rechte waren schon im alttestamentlichen Israel ein wichtiges Thema. Die Kirche des Neuen Testaments knüpfte an dieser Tradition an. Grundlage des Amts des Diakons ist 1 Tim 3,8–16 und natürlich Apg 6,1–6: die Einsetzung der ersten Diakone in der Urgemeinde, obwohl dort der Begriff Diakon selbst nicht fällt.

Die christliche Gemeinde ist für ihre eigenen Mitglieder sozial verantwortlich, sofern nicht Verwandte die Versorgung übernehmen können. Die einzige Qualifikation, die der Diakon im Unterschied zum Ältesten/Aufseher nicht notwendig vorweisen muss, ist die Fähigkeit zu lehren. Dazu passt, dass die Diakone in Apg 6 eingesetzt werden, damit die Apostel – und in ihrer Nachfolger Pastoren/Älteste – den „Dienst am Wort“, also die Lehre und Verkündigung, nicht vernachlässigen. Der soziale Dienst der Diakone steht daher sicher im Vordergrund, was jedoch nicht ausschließt, dass sie auch weitere Aufgaben wahrnahmen (s. die evangelistische Tätigkeit von Stephanus und Philippus, Apg 6,8f und 8,4f).

Leider geriet das Amt des Diakons in der Kirchengeschichte ab dem 3./4. Jahrhundert immer mehr in Vergessenheit bzw. wurde umgedeutet. Der Diakon diente bald nicht mehr den Armen, sondern den Bischöfen und Priestern. Auch heute sind Diakone in der römisch-katholischen Kirche vor allem Assistenten der Priester und übernehmen allermeist nur liturgische Aufgaben. In manchen evangelischen Kirchen ist das Diakonat bloß ein Schritt auf dem Weg zum Amt des Pfarrers, hat also mit der biblischen Füllung so gut wie nichts mehr zu tun.

Thomas Schirrmacher schreibt hier: „In vielen Kirchen wurde das Diakonat zu einem reinen Durchgangsstadium auf dem Weg zum Presbyterat. Diese Entwicklung war maßgeblich schuld daran, dass Frauen keine Diakone werden konnten, weil dies praktisch bedeutet hätte, dass sie auch Älteste bzw. Pastoren bzw. Priester hätten werden können. Es macht durchaus Sinn, im Diakonenamt eine natürliche, wenn auch nicht zwingende Vorstufe für das Presbyteramt, also mit Calvin darin eine ‘Stufe zur Presbyterwürde’, zu sehen. Aber dies erfordert nicht, dass das Diakonenamt zwingend zum Presbyteramt führen muss und man sich mit Übernahme des Diakonenamtes bereits verpflichtet, das Presbyteramt in absehbarer Zeit anzustreben.“

Die Reformation führte nun zu einer grundlegenden Erneuerung und Umgestaltung der Armenfürsorge. Die Armut wie z.B. der Mönche wurde nicht mehr idealisiert und geistlich überhöht, das Geben von Almosen verlor seinen Verdienstcharakter. An ihrer Stelle trat das Interesse, das Los der Ärmeren tatsächlich zu verbessern. Erstmals kam es zu so etwas wie einer echten Sozialpolitik. In vielen evangelischen Kirchen wurden sog. „Gemeine Kästen“ aufgestellt, in denen Geld für die Armen gesammelt wurde.

Martin Luther wandte sich schon 1520 in seiner Schrift Von der Babylonischen Gefangenschaft der Kirche gegen das römisch-katholische Verständnis des Amts des Diakons. „Das Priestertum [gemeint sind die Pfarrer/Pastoren der Kirche] ist im eigentlichen Sinne nichts anderes als Dienst am Wort… Das Diakonenamt dagegen besteht nicht, wie heute üblich, in der Aufgabe, Evangelium oder Epistel zu verlesen, sondern darin, kirchliche Güter an die Armen zu verteilen, damit die Priester von der Sorge um die zeitlichen Dinge entlastet werden…“

Der Armenfürsorge widmete auch Johannes Bugenhagen (1485–1558), zeitweise Luthers Kollege in Wittenberg, in seinen Kirchenordnungen viel Aufmerksamkeit. Allerdings nahm schließlich in den meisten lutherischen Ländern die Obrigkeit die gesamte soziale Hilfe unter ihre Fittiche. Ähnliches geschah auch in einigen reformierten Territorien wie in Zwinglis und Bullingers Zürich. Eine eigene Gemeindediakonie entstand dort nicht, weshalb die Diakone im Zweiten helvetischen Bekenntnis leider auch keine Erwähnung finden.

Erst der Straßburger Reformator Marin Bucer (1491–1551) erneuerte das Diakonat konsequent. Hierbei spielte sicher eine wichtige Rolle, dass die Stadt damals nicht wenige französische Glaubensflüchtlinge aufgenommen hatte. In seinem Werk Von der wahren Seelsorge (1538) behandelt Bucer das Amt des Diakons vor dem des Ältesten/Pastors. Er bedauert, dass die Gemeindediakonie in Vergessenheit geraten war. Bucer unterstreicht, dass die Sorge um die körperlichen Bedürfnisse des Menschen keineswegs weniger wichtig als die Seel-Sorge ist. Diener am Wort und Diener am Leib sind daher für die Kirche unerlässlich.

Auch in seinem großen Spätwerk De Regno Christi (1550) nimmt Bucer zu den Diakonen Stellung. Ohne Hilfe und Unterstützung für die Armen der Gemeinde ist die Kirche keine wahre Gemeinschaft der Heiligen, so der damals in England lebende Reformator.  Diakone haben genau zu prüfen, ob Gemeindemitglieder wirklich hilfsbedürftig sind oder ob sie sich nicht selbst helfen und versorgen können. Bucer unterstrich auch die primäre Verantwortung der Familie, also Angehörigen. Außerdem forderte er die Reichen zu großzügigem Geben auf, vor allem und in erster Linie für die Armen der eigenen Gemeinde.

An dieser Stelle muss auch noch Johannes a Lasco (1499–1560) erwähnt werden. Der Adelige aus Polen war 1542–1549 Superintendent der ostfriesischen Kirche in Emden. Später betreute er die Flüchtlingsgemeinde in London. Wie Bucer berief auch er dort Diakone.

Johannes Calvin lernte während seines Aufenthalts in Straßburg viel von Bucer, gerade im Hinblick auf die konkrete Ordnung und Struktur der Kirche. In den Spuren seines Mentors und Lehrers betonte auch Calvin dann, ab 1541 wieder in Genf, die Wichtigkeit der Diakonie und die Unerlässlichkeit des Amts des Gemeindediakons.

Hintergrund war hier, ähnlich wie in Straßburg, London und Emden, eine Flüchtlingskrise, die mit den Anstoß zur Diakonie gab. Ab etwa Mitte der 1540er Jahre waren zahlreiche Protestanten in die Stadt der Eidgenossenschaft geflohen. Ihr Anteil an der Bevölkerung des bisher überschaubar großen Ortes war bald erheblich. Dies brachte nicht wenige soziale Probleme mit sich. Calvin strebte in Genf möglichst große Unabhängigkeit der Kirche von staatlichen Einrichtungen an, und so wurde ein breites System der kirchlichen Diakonie eingerichtet. Es  unterstand Gemeindediakonen, also nicht der Stadtverwaltung. Zu nennen ist hier die  „Bourse française“, die französische Börse – eine Art großes kirchliches Sozial- und Arbeitsamt für die Immigranten aus Frankreich.

Calvin bezeichnete den Dienst an den Armen der Kirche als eine „heilige Sache“. In der Genfer Kirchenordnung (1561), weitgehend aus seiner Feder, heißt es: „In der Alten Kirche hat es immer zwei Arten von Diakonen gegeben: Die einen waren damit beauftragt, das Armengut entgegenzunehmen, zu verteilen und zu verwalten, sowohl tägliche Almosen, als auch Besitztümer, Zinsen und Renten. Die anderen waren damit beauftragt, sich um die Kranken zu kümmern und sie zu pflegen, und die Armen zu speisen.“ Auch in der Institutio (1559) spricht Calvin von zwei Gestalten des Diakonats: „Die einen [Diakone] dienen der Kirche, indem sie die Angelegenheiten der Armen verwalten, die anderen, indem sie für die Armen selber sorgen“ (Inst. IV,3,9).

Der Schwerpunkt der Arbeit der Diakone liegt also im sozialen Bereich. Dem widerspricht eine zeichenhafte Teilnahme in der Gottesdienstliturgie nicht. Calvin bekräftigte, dass Diakone zur „Lesung des Evangeliums“, „Ermahnung zum Gebet“ und bei der „Feier des heiligen Abendmals zur Darreichung des Kelches herangezogen werden“ können; dies geschieht auch deshalb, „um ihr Amt zu zieren“, also aufzuwerten (Inst. IV,4,5). Dennoch legte Calvin Wert darauf, dass die Aufgabenbereiche von Ältesten/Pastoren und Diakonen klar getrennt bleiben.

Kirchengeschichtlerin Elsie A. McKee bemerkt im Artikel „Johannes Calvins Lehre vom Diakonat“ zur Neubelebung dieses Amtes in den reformierten Kirchen: „Die maßgeblichen Beiträge der Lehre Calvins vom Diakonat sind das Prinzip der Kollektivverantwortung der Kirche als Körperschaft für die ‘Geringsten’ sowie das Prinzip, dass dieses Amt Teil der notwendigen Arbeit jeder geordneten christlichen Kirche ist und von einem bestimmten Amt geführt werden sollte. Jede Ortskirche müsse sich um die Bedürftigen kümmern, ausgeführt durch ein Diakonat aus Laienamtsträgern, die besonders ausgewählt und hervorgehoben werden, um die Gemeinde im diakonischen Dienst zu leiten.“ (Calvinismus – Die Reformierten in Deutschland und Europa, 2009)

Vor allem reformierte Kirchen französischen, niederländischen und schottischen Ursprungs haben das Diakonat neu belebt. Im Bekenntnis der Hugenotten von 1559 und im Niederländischen Glaubensbekenntnis (1562) ist das Amt des Gemeindediakons eindeutig vorgesehen. Ähnliches gilt für die meisten presbyterianischen Kirchen. So sieht die heutige Evangelisch-reformierte Kirche Westminster Bekenntnisses (Schweiz und Österreich) in ihrer Verfassung das Amt des Diakons vor. „Diakonen ist durch das ‘Amt der Nächstenliebe’ Verantwortung übertragen, dafür zu sorgen, dass die geschöpflichen Bedürfnisse der Gemeindeglieder ernsthaft wahrgenommen werden und Hilfe geleistet wird.“ (3.4)

Im deutschsprachigen Raum hat sich das Amt des Diakons, zuständig für Wohlfahrt und soziale Angelegenheiten, leider wenig durchsetzen können. Der Staat hatte, s.o., schon früh den Bereich der Armenhilfe an sich gezogen; im Zuge des Aufbaus eines staatlichen Wohlfahrtssystem wurde die Hilfe weiter bürokratisiert. Die Diakonie wurde zwar im Zuge des Pietismus im 18. und 19. Jahrhundert erneuert (Stichworte A.H. Francke und Diakonissenbewegung), doch dies geschah im Rahmen der „Anstaltsdiakonie“ – zu einer Neubelebung der Gemeindediakonie kam es nur ansatzweise.

So wundert es nicht, dass sich auch viele evangelikale Christen auf die Lösung der globalen Probleme konzentrieren. Zahlreiche internationale Hilfswerke rufen zu Spenden für ihre Projekte in den ärmsten Regionen der Welt auf. Daran ist nichts zu bemängeln. Die reichen Christen der Welt haben eine Verantwortung für die armen Geschwister. Aber fängt diese Hilfe nicht vor Ort an – und dies auch in der eigenes Gemeinde? Warum hat man sich einer der Kernaufgaben der Kirche berauben lassen – der Fürsorge für die Leidtragenden in den eigenen Reihen? Das „Kümmert euch um die Armen!“ und die Nächstenliebe beginnt beim tatsächlich Nächsten, beim Christen vor Ort. Das Diakonat ist wichtiger Teil der guten Nachricht des christlichen Glaubens für die Armen. Reformatoren wie Bucer und Calvin können neu dazu anstiften.

(Bild o.: Fra Angelico, Die Weihung von Stepahnus und der ersten Diakone, 1449)