Aller Aufbau ist schwer
Der Lukiškės-Platz in Vilnius ist – abgesehen vom bewaldeten Drei-Kreuze-Hügel – das größte unbebaute Areal im Zentrum der litauischen Hauptstadt. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war das Stadtgebiet gen Westen erweitert worden. Von der Kathedrale im Herzen der Altstadt aus führte nun der Hl. Georg-Prospekt, der heutige Gediminas-Prospekt, als baldige Prachtstraße (ähnlich des Ku’damms in Berlin) in die neue Vorstadt.
Am nördlichen Rand von Lukiškės siedelten seit dem 15. Jahrhundert muslimische Tartaren, die Großfürst Vytautas ins Land gerufen hatte. Am Neris-Bogen in der heutigen Mečetės gatvė, der Moschee-Straße, stand seit dem 16. Jahrhundert eine kleine Moschee, die nach dem letzten Weltkrieg abgerissen wurde. Heute befinden sich im Lukiškės-Viertel das Parlament Litauens, die Nationalbibliothek, das Außenministerium und ein großes Gefängnis, erbaut in der Zarenzeit Anfang des vorigen Jahrhunderts.
Der russische Staatsapparat hinterließ auch sonst Spuren in dem Stadtteil. Auf dem Lukiškės-Platz wurden vom Gouverneur der Stadt nach dem polnisch-litauischen Aufstand von 1863–64 Aufrührer erschossen. Am Hl. Georg-Prospekt an der Südseite des Platzes errichteten die russischen Herren Ende des 19. Jahrhunderts einen imposanten Justizpalast, in den fünfzig Jahre später der KGB einzog. In die Mauersteine an der Straßenseite sind heute Zig Namen von im Gebäude in den 40er Jahren ermordeten litauischen Bürgern eingemeißelt.
Der große Platz, etwa einen Kilometer westlich des historischen Zentrums gelegen, diente lange als Marktplatz. Im 20. Jahrhundert wurde er mehr und mehr zum politischen Repräsentationsort. Unter polnischer Herrschaft nach dem Ersten Weltkrieg wurde er in „Pilsudski-Platz“ umbenannt. In der Sowjetunion machten die Kommunisten den „Sowjet-Platz“ daraus. 1952 errichteten die Kommunisten ein gewaltiges Lenindenkmal im Zentrum, entsprechend benannten sie das Areal in „Lenin-Platz“ um.
Fast vierzig Jahre lang, bis zum Sommer 1991, stand der erste Chef der Sowjetunion mit erhobener Rechten auf seinem hohen Postament. Nach dem gescheiterten Augustputsch in Moskau machte man in Vilnius dann kurzen Prozess mit Lenin und demontierte die Statue. Ende August waren nur noch die Granitblöcke des Fundaments zu sehen. Im Herbst wurden auch die Reste des Sockels komplett beseitigt (s. Foto ganz o. von Hansjörg Baldinger).
Innerhalb von einigen Wochen verschwanden alle Spuren der einst dominierenden Skulptur. Mit großer Entschlossenheit wurden die Spuren des Bösen vernichtet. Dieser Anfang war gar nicht schwer. Aber was sollte nun mit dem großen Platz geschehen? Fast ein Vierteljahrhundert lang präsentierte sich der Lukiškės-Platz im Prinzip so wie früher – nur ohne Lenin in der Mitte. Dort liefen die Fußwege auch weiter sternförmig zusammen und endeten in bloßem Schotter.
In die Neugestaltung des so wichtigen Platzes kam erst vor etwa zehn Jahren Bewegung. Viele Diskussionen folgten. Im vergangenen Herbst wurde der neue Platz mit modernen Wegen und Grünanlagen und neuer Beleuchtung schließlich eingeweiht. Endlich. Nach 26 Jahren hat man auf dem Platz das Gefühl, im 21. Jahrhundert gelandet zu sein – und nicht mehr in den 50er Jahren.
Im Zentrum weht nun an einem riesigen Fahnenmast die historische Nationalflagge: der Ritter „Vytis“ auf rotem Grund. Doch dies ist nur ein Provisorium. Seit langem ist beschlossen, dass auf dem Lukiškės-Platz dem litauischen Freiheitskampf ein Denkmal gesetzt werden soll – gleichsam als Gegenakzent zur trüben Vergangenheit des Ortes. Vor einigen Monaten gewann ein junger Architekt den vom Kultusministerium organisierten Wettbewerb: Eine Art Erdhügel soll an einen Partisanenbunker erinnern. Das patriotisch und nationalkonservativ gesinnte Lager empörte sich über diesen Beschluss und fordert geradezu ultimativ, dass ein klassisches Denkmal des „Vytis“ auf dem Platz errichtet wird.
Für den „Vytis“ in Bronze sammelt nun ein privater Verein Spenden. Er wird wohl in Kaunas an den Resten der alten Burg aufgestellt werden. Das Hickhack um das Denkmal auf dem Lukiškės-Platz ist aber noch lange nicht zuende. Inzwischen beschäftigen sich sogar die Gerichte mit dem Fall. 2018, im Jahr der Feierlichkeiten zu einhundert Jahren erneuerter Staatlichkeit Litauens, wird es sicher nichts mehr mit einem bedeutenden Nationaldenkmal in Vilnius.
In Diktaturen, Demokraturen und Tyranneien haut der starke Mann auf den Tisch, und die Sache ist entschieden. Im demokratischen Litauen geht vieles nur schleppend voran. Eine Reform der Steuerbehörde, ein solides Katasteramt oder funktionierender Grenzschutz – all das bekommt man schon gut hin. Aber wenn es um historisch sensible Themen und um kulturelle Fragen geht, in denen sehr kontrovers diskutiert wird, zeigt sich, wie schwach die Zivilgesellschaft noch ist.
Die Kommunisten hatten es vor allem auf die Zerstörung dieser Zivilgesellschaft abgesehen. Denn nichts war für ihre Macht gefährlicher, als wenn die Bürger sich selbst organisieren und ihre Positionen zum Ausdruck bringen. Der Schaden, den sie mit ihrem erschreckend effektiven Zerstörungswerk über fast ein halbes Jahrhundert lang anrichteten, ist bis heute zu spüren.
Der Lukiškės-Platz steht symptomatisch dafür. Einen Presslufthammer nehmen und Bauruinen abreißen, ist recht leicht; konstruktiv etwas ganz Neues zu schaffen, gleichsam ein neues gesellschaftliches Gebäude hochziehen, etwas ganz anderes.
„Latvia shall be saved, Estonia shall be saved, Lithuania shall be saved“
Ähnliches gilt für die christlichen Kirche und Werke des Landes. Die Anfänge in den Jahren ab 1988, nachdem faktisch wieder Religionsfreiheit herrschte, waren in mancher Hinsicht sicher nicht leicht. Wer aus dem Westen kommend die baltischen Länder oder Russland in den Jahren bis etwa 1993 bereiste, kann ein Lied davon singen. Alles war kompliziert wie Telefonate oder Reisen, viele Waren bekam man nicht, einige Jahre herrschte Treibstoffknappheit. Selbst der frisch gekürte Erzbischof von Vilnius, der späteren Kardinal Audrys Juozas Bačkis, der von seiner Nuntiatur in den Niederlanden 1992 nach Litauen berufen worden war, musste anfangs in einer ärmlichen Kammer wohnen.
Bačkis schildert in Taip, laimingas (einer Art Autobiographie) sehr offen den schwierigen Neuanfang der katholischen Kirche nach 1988. Dabei erleichterten die streng hierarchische Struktur der Kirche, klare Kompetenzen ihrer Amtsträger und eine breite Mehrheit in der Bevölkerung Prozesse der Neuordnung. Dennoch gab es mitunter große Schwierigkeiten. Diese wohl vorausahnend hatte Johannes Paul II sicher ganz bewußt mit Bačkis einen Exillitauer als Erzbischof ausgewählt. Der Sohn eines Diplomaten wuchs in Frankreich auf, studierte dort und in Rom. Zwei Jahrzehnte leitete er die katholische Bischofskonferenz Litauens – und dies sehr erfolgreich. Sein Nachfolger, Erzbischof Gintaras Grušas, ist auch im Ausland (in den USA) groß geworden. Er verfügt ebenfalls über großes organisatorisches und diplomatisches Talent (1993 managte der junge Priester vom Ausland aus den Papstbesuch in Litauen!).
Diese „Wessis“ (in kultureller Hinsicht) an der Spitze der Kirche waren und sind ein großer Gewinn für Litauens Katholiken. Sie haben es weitgehend geschafft, die arg geschwächte Kirche halbwegs fit fürs 21. Jahrhundert zu machen.
Auf Seiten der Evangelischen sieht dies schon ganz anders aus. Die Mitgliedschaft vieler Kirchen schoss in den frühen 90er Jahren – in der Presslufthammerzeit – oft nach oben. Die katholische Kirche mit damals recht vielen älteren Priestern sah im Vergleich dazu tatsächlich alt aus, gleichsam wie eingefroren in der Sowjetzeit. Inzwischen haben sich diese beeindruckenden Wachstumszahlen oft auf ein Bruchteil reduziert (wie im Fall der „Wort des Glauben“-Bewegung, seit Anfang des Jahres der Bund evangelischer Gemeinden Litauens). Der Baptistenbund krebst seit gut zehn Jahren vor sich hin; die methodistische Kirche befindet sich in einer akuten Krise und hat einige Ort wie z.B. Šiauliai praktisch aufgegeben; auch beim Bund freier Christen, der sich international den Mennonitenbrüdern angeschlossen hat, schrumpfen die Gemeinden eher; in der reformierten Kirche übersteigen die Beerdigung die Zahlen von Taufen und Konfirmationen seit langem deutlich (ähnliches gilt für lutherische Kirche, die komischerweise ihre Situation dennoch gerne als „gut“ bezeichnet). Wirklich gut aufgestellt sind, so scheint es, die Adventisten, stabil steht wohl auch der Pfingstbund da. Und nun auf einmal wirkt die katholische Kirche mit einigen jungen Bischöfen in den 40ern, überall Alpha-Kursen, reformierten Strukturen, litauischen Ausgaben von YOUCAT und DOCAT jung und dynamisch wie kaum eine protestantische Kirche…
Die Anfänge von gemeindlicher und missionarischer Arbeit waren allgemein schwierig, aber dies eher in praktischer Hinsicht. Alle waren hochmotiviert, Aufbruchstimmung und volle Säle halfen über viele Probleme hinweg. Inzwischen sind diese Hindernisse fast ganz verschwunden. Mitgliedschaft in EU und Schengen-Raum machen auch EU-Ausländern das Arbeiten in Litauen viel leichter als noch in den 90er Jahren. Kommunikation und Reisen ist billig geworden, Bankgeschäfte sind nun ein Kinderspiel. Und seit einer Weile kann man auch bei IKEA und Lidl einkaufen. Als Westeuropäer hat man gar kein Problem mehr hier zu leben und zu arbeiten.
Dafür sieht man nur wenige Früchte der Arbeit, und dies ist sicher einer der Gründe, warum man deutschsprachige Missionare in Litauen an einer Hand abzählen kann. Andere haben da weniger Skrupel. Franklin Grahams Organisation (BGEA) spekulierte gegenüber den eigenen Freunden vor sieben Jahren im Vorfeld des „Festivals der Hoffnung“ in Vilnius über eine mögliche Verdoppelung (!) der Zahl der Christen in Litauen duch die Großveranstaltung – solche phantastischen Aussichten sollen zum Spenden anregen.
Noch voller nimmt nun der in Deutschland lebende Ben Fitzgerald den Mund. „Latvia shall be saved, Estonia shall be saved, Lithuania shall be saved“, so der Evangelist und Leiter von „Awakening Europe“. Vor einhundert Jahren haben sich die baltischen Staaten von der Tyrannei befreit; nun gebe man Gott diese Nation zurück, und das Evangelium solle sich bei einer Großveranstaltung im Spätsommer in Riga wie ein Buschbrand ausbreiten.
Fitzgerald kündigt an, was Gott wirklich zu tun vorhabe: Die ganze Stadt, Riga, werde mit dem Evangelium geflutet werden, Tausende Freiwillige werden das ganze Gebiet geradezu erschlagen, eine „echte Erweckung“ wird ausbrechen, man wird die hohe Selbstmordrate senken, Versöhnung von Nationen und Kirchen erreichen. Gottes Zeit für „Massen von Seelen“ sei gekommen – „souls, souls, souls“. Die ganze christliche Welt werde sehen, was Gott in Lettland tun wird. Nicht nur in Lettland, im Baltikum, und da wird mal eben auch gleich noch Weißrussland miteinbezogen, und ja: Russland ebenfalls. Warum es auch genau nehmen – Fitzgerald meint eine Garantie zu haben, dass Gott etwas Historisches tun wird.
Der Australier Fitzgerald benimmt sich wie ein Wundertäter, der in die Intensivstation eines Krankenhauses tritt und alle sofortige Heilung verspricht. Und wenn sie doch ausbliebt, zieht die Wunder- und Erweckungskarawane eben weiter.
Selbstverliebtes Gerede der obigen Art geht auf Kosten der Kirchen und aller Mitarbeiter in ihnen und Werken, ob nun Litauer oder Ausländer, die sich um den schwächelnden Patienten mühen. Der Aufbau von stabilen Kirchen und Werken ist in den postkommunistischen Ländern oft eben ungeheuer schwierig. Langfristige Überlebenshilfe ist nötig, und das braucht einen langen Atem. Die durchhetzenden Grahams, Fitzgeralds oder wie sie alle heißen, haben diesen meist nicht.
Es geht aber auch anders. Die Osteuropahilfe der vbg (LINK) aus der Schweiz steht den Partnerbewegung in der Studentenmission in Lettland und Litauen (hier wie dort LKSB) treu zur Seite, und das seit Anfang der 90er. Die Mission der kanadischen Mennonitenbrüder fördert das Evangelische Bibelinstitut (EBI) großzügig. Auch das Gustav-Adolf-Werk (GAW) und die Evangelische Partnerhilfe sind zu nennen, die u.a. Projekte der reformierten Kirche Litauens fördern. Sie alle helfen treu seit vielen Jahren oder gar Jahrzehnten, haben sich der Hilfe beim schwierigen Aufbau verschrieben – und machen kein Aufsehen davon.
So ist es schon als Erfolg anzusehen, dass die christliche Studentenmission nach 25 Jahren überhaupt noch existiert. Ähnliches gilt für das EBI. Kirchen sind von Natur aus stabiler, aber unsere reformierte Kirche hätte ihre große Krise vor etwa zehn Jahren mit gewaltigen juristischen Herausforderungen auch als Komapatient beenden können.
Natürlich müssen die litauischen Kirchen und Werke auch an sich selbst arbeiten. Hier ist vor allem Kooperation der Evangelischen gefragt. Wegen der Schwäche der Zivilgesellschaft ist sie immer noch unterentwickelt, das Misstrauen immer noch groß. Jeder kocht gerne seine Suppe, Koordination ist unterentwickelt. Aber es gibt auch Hoffnung. Im Rahmen von LKSB und EBI funktioniert die Zusammenarbeit von Geschwistern aus unterschiedlichen protestantischen Kirche gut bis sehr gut! Und auch die reformierte Kirche ist seit etwas sechs, sieben Jahren auf den Kurs der Vertiefung von evangelischer Partnerschaft eingeschlagen. Noch bleibt viel zu tun, und auch wenn keine „Massen von Seelen“ geworden werden – dafür können wir Gott dankbar sein.