Der Prozess Jesu

Der Prozess Jesu

(Fortsetzung; Teil 1 hier)

Der jüdische Prozess

Jesus wurde das Opfer einer Verschwörung. Am Beginn der Leidensgeschichte steht bei Matthäus der Plan der „führenden Priester und der Ältesten“ des Volkes Jesus zu beseitigen. Kurz vor dem Passahfest „berieten [sie ] miteinander, zu welcher List sie greifen könnten, um Jesus festzunehmen und dann umzubringen“ (Mt 26,3–4). Dieser Plan war sicher schon vorher gereift. Nur im Evangelium des Johannes finden wir den Bericht über die Sitzung des Hohen Rates und den Beschluss zur Tötung (Joh 11,46f), sicherlich eine ganz Weile vor dem Passah im Jahre 30 (oder 33). Dort heißt es in V. 53: „An jenem Tag fassten die führenden Männer des jüdischen Volkes endgültig den Beschluss, Jesus zu töten.“ Der französische Autor Ernest Renan (1823–1892) in seinem sehr populären Buch über Jesus: „Der Beschluss wurde schon damals bekräftigt; das Synedrion suchte nur noch einen Vorwand.“ (Das Leben Jesu) Von einem fairen Prozess kann keine Rede sein, wenn das Gericht zum Mord fest entschlossen ist!

Die älteste überlieferte Stellungnahme zur Verantwortung für den Tod Jesu ist 1 Thes 2,15, wo Paulus von seinen „Landsleuten“, redet, „diese haben Jesus, den Herrn, getötet, wie sie es schon mit den Propheten gemacht hatten“. Aber damit meinte er sicher nicht alle oder auch nur die Mehrheit seines Volkes. Eine Verschwörung zetteln immer nur wenige an, und hier war es die Elite des Volkes. Daher ist das „Volk“ (Mk 15,8) oder „das ganze Volk“ (Mt 27,25) natürlich nicht mit allen Juden geichzusetzen, sondern meint die vor Pilatus anwesenden Menge, wahrscheinlich vor allem die Anhänger von Barrabas. Und auch diese waren ‘nur’ manipulierbare Werkzeuge der Verschwörer.

Was motivierte die Verschwörer? Der Hohepriester Kaiphas bangte um sein Amt. Carsten Peter Thiede: „Wenn Jesus der Messias der Heilgeschichte ist, dann sind seine Tage als Hohepriester gezählt.“ Daher war „Kaiphas Sorge begründet“ (Jesus. Der Glaube. Die Fakten). Möglicherweise steckte hinter allem Kaiphas Schwiegervater Hannas, denn zu ihm wird Jesus zuerst geführt (Joh 18,12). Renan nennt ihn „den wahren Schuldigen des geplanten juristischen Mordes“; Kaiphas sei nur „blindes Werkzeug seines Schwiegervaters“. Papst Benedikt XVI entdeckt auch ein positives Ziel, nämlich „die echte Sorge um die Bewahrung des Tempels und des Volkes“, doch er identifiziert als Hauptantrieb „die selbstsüchtige Gier der herrschenden Gruppe nach Macht“ (Jesus von Nazareth, II).

Jesus hatte folglich keine unparteiischen Richter. Jesus kritisierte in einigen seiner Gleichnisse die Leiter des Volkes, und sie verstanden diese Kritik durchaus (s. Mt 21,43–45). Sie hatten die Absicht ihn zu töten (Joh 7,1; Lk 6,6–7.10–11). Mit diesem Hass mischten sich Angst und Eifersucht. Nach der Tempelreinigung heißt es über die „führenden Priester und die Schriftgelehrten“, dass sie „Angst vor ihm [hatten], weil das ganze Volk von seiner Lehre tief beeindruckt war.“ (Mk 11,18)

Ein fairer Prozess ist völlig ausgeschlossen, wenn der Richter eine böswillige Einstellung gegenüber dem Angeklagten hat, ja ihn hasst. Hier gilt es zu bedenken, dass Parteilichkeit für die Juden vor Gericht streng verboten war. In Dt 16,19 heißt es: „Du sollst das Recht nicht beugen. Du sollst kein Ansehen der Person kennen. Du sollst keine Bestechung annehmen…“ Dt 1,17: „Kennt vor Gericht kein Ansehen der Person! Klein wie Groß hört an! Fürchtet euch nicht vor angesehenen Leuten“ (s. auch 2 Chr 18,7; Spr 24,23; Job 13,10).

Parteilichkeit zeigt sich auch darin, dass es wohl niemanden gab, der Jesus verteidigte! Sicher standen auch Ratsmitglieder auf Jesu Seite. Zu ihnen gehörte Joseph von Arimathäa, der am Prozess wahrscheinlich aber erst gar nicht teilnahm (Lk 23,50–51). Wenn in Mt 26,59 vom „ganzen Rat“ die Rede ist, dann sind sicher alle Anwesenden gemeint, nicht ausnahmslose alle der 71 Ratsmitglieder. Die Verschwörer hatten sicher dafür gesorgt, dass Jesu Sympathisanten erst gar nicht teilnahmen.

Ob Gerichtsort und Zeit den Regeln entsprachen, wissen wir nicht. Jesus wurde in den Palast des Hohepriesters geführt (Mk 15,54; Lk 22,54). Der übliche Versammlungsort des Sanhedrins war wohl jedoch ein Raum im Tempelkomplex. Nach dem Talmud war ein Todesurteil nur dort zu fällen (s. Dt 17,8.10). Der jüdische Prozess spielte in der Nacht (Mk 15,1; Mt 27,1); am Morgen wurde Jesus zu Pilatus geführt. In nur einigen Stunden wurde in so einem harten Fall das Urteil gefunden. Der Talmud schreibt vor, dass ein Todesurteil erst am folgenden Tag gefällt werden darf. Doch ob diese Regeln auch schon zu Jesu Zeiten beachtet wurden, wissen wir nicht sicher. Aber dass man in Fällen, in denen es um Leben und Tod geht, besser eine Nacht darüber schläft, ist ja sinnvoll und bis heute einsichtig.

Alle Evangelien berichten, dass Jesus durch falsche Zeugen zu Fall gebracht werden sollte. Man ließ nach belastbaren Zeugenaussagen suchen (Mk 14,55), aber die Aussagen der wohl gekauften Zeugen widersprachen sich: „Einige der falschen Zeugen, die gegen ihn auftraten, behaupteten: Wir haben ihn sagen hören: Ich werde diesen von Menschenhand gemachten Tempel niederreißen und in drei Tagen einen anderen aufbauen, der nicht von Menschenhand gemacht ist. Aber auch in diesem Fall stimmten die Aussagen nicht überein.“ (Mk 14,57–59) Die Zeugen gaben Jesu Worte aus Joh 2,19 nicht korrekt wieder („Reißt diesen Tempel nieder und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten“). Die Hohepriester verstanden aber sehr wohl, was Jesus wirklich sagen wollte wie Mt 27,63 vor Pilatus verdeutlicht: „Herr, es fiel uns ein, dass dieser Betrüger, als er noch lebte, behauptet hat: Ich werde nach drei Tagen auferstehen.“ Sie wussten also, dass Jesus sich und seinen Körper meinte, nicht das Tempelgebäude.

Mit dem Auftritt der Zeugen sollte natürlich formell die Vorschrift aus Dt 17,6 über mehrere Zeugen erfüllt werden. Für jeden gilt das Verbot der Lüge (Ex 20,16), umso mehr jedoch für Aussagen vor Gericht wie Dt 19,15–21 betont. Zeugen müssen gewährleisten, dass sie die Wahrheit sprechen und niemanden verleumden. Für den falschen Zeugen gilt: „Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen“! In Spr 6,16–19 werden „sechs Dinge“ genannt, die „dem HERRN verhasst“ sind, und „sieben sind ihm ein Gräuel“ – darunter auch „ein falscher Zeuge, der Lügen zuflüstert“.

Da die Zeugen sich widersprachen und Jesus bisher schwieg, wandte sich Kaiphas direkt an Jesus. Mt 26,63–65: „Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, sag uns: Bist du der Christus, der Sohn Gottes?“ Jesu Antwort: „Du hast es gesagt. Doch ich erkläre euch: Von nun an werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen.“ Der Hohepriester darauf: „Er hat Gott gelästert! Wozu brauchen wir noch Zeugen?“

Dieser Abschnitt ist viel diskutiert worden. Nehmen wir an, Jesus wäre ein Betrüger und nicht der Messias gewesen. Hätte er dann mit diesen Worten tatsächlich Gott gelästert? Doch nahm er den Gottesnamen (Jahwe) nicht in den Mund. Wäre damit ein Grund für seine Verurteilung gegeben und diese also rechtlich? Viele geben auch folgendes zu bedenken: Der Hohepriester drängte Jesus dazu, sich selbst zu belasten. Er will das Urteil allein aufgrund Jesu Selbstaussage fällen. Kaiphas will Jesus wegen einer einzigen Zeugenaussage, nämlich der von Jesus selbst, verurteilen. Zumindest nach späterem rabbinischem Gesetz durfte der Angeklagte in keiner Weise gezwungen werden sich schuldig zu bekennen.

Die ganze Farce des Prozesses wird auch daraus erkennbar, dass es keine ordentliche Anklage gab. Jesus wurde, so ist sehr zu vermuten, schon ohne Anklage festgenommen. Außerdem durfte der Sanhedrin nicht selbst Anklage erheben, konnte nur ihm vorlegte Fälle entscheiden. Besonders fragwürdig ist der Wechsel der Anklage: Zerstörung des Tempels (Mt 26,61) hier, Gotteslästerung (Mk 14,62–64) dort. Pilatus fragt dann in Joh 18,29 nach der Anklage gegen Jesus, und die Antwort der Ankläger ist vielsagend unkonkret: „Wenn er kein Übeltäter wäre, hätten wir ihn dir nicht ausgeliefert“ (V. 30), oder mit anderen Worten: einfach ein Verbrecher. Vor dem Römer geht das Jonglieren weiter. Jesus soll zum Aufruhr angestiftet (Lk 23,2), sich zum König erklärt haben (Lk 23,2–5) und „Feind des Kaisers“ (Joh 19,12) sein.

Schließlich gab es keinen korrekten Ablauf des Prozesses. Wir können davon ausgehen, dass entlastende Beweise nicht zugelassen waren. Sehr schwer wiegt, dass der Angeklagte vor Gericht misshandelt wurde (Mt 26,67; Mk 14,65). Viele Fragen bleiben hier jedoch offen wie z.B., ob das Einschreiten des Hohepriesters (Mk 14,61) rechtlich möglich war. Von einer sorgfältigen Untersuchung kann aber sicher keine Rede sein. Dieses Ideal hatten die Juden damals aber! Dt 17,4 fordert „genaue Ermittlungen“ in einem Prozess. Dies macht auch die rhetorische Frage des Nikodemus in Joh 7,51, lange vor dem Prozess, deutlich: „Verurteilt etwa unser Gesetz einen Menschen, bevor man ihn verhört und festgestellt hat, was er tut?“

Zusammenfassend kann man sagen, dass das Schuldprinzip verletzt wurde. Schuld muss vorliegen und nachgewiesen werden. Dt 25,1: „Wenn zwei Männer eine Auseinandersetzung haben, vor Gericht gehen und man zwischen ihnen die Entscheidung fällt“, dann  soll man demjenigen Recht geben, „der im Recht ist“, und denjenigen schuldig sprechen, „der schuldig ist“. Also nur ein wirklich Schuldiger darf auch schuldig gesprochen werden.

Es ist nicht klar zu sagen, wie viele konkrete damalige Rechts- und Prozessvorschriften genau verletzt wurden. Natürlich hat man gewisse Formen aufrechterhalten wie die Aufrufung von Zeugen. Schließlich wollte man Jesus nicht einfach um die Ecke bringen und beseitigen lassen. Es ist sicher ähnlich wie bei den Schauprozessen im 20. Jhdt. unter Hitler und Stalin: eine äußere Form des Rechts wurde erhalten; man bewahrte einen gewissen Rahmen, damit alles legal aussieht. Josef Blinzler spricht selbst von der „böswilligen Einstellung“ der Richter. Selbst wenn der Hohe Rat sich an alle Formalitäten gehalten hätte – sind Richter böswillig und damit völlig parteiisch, bricht jede Legalität schon allein damit zusammen.

Der römische Prozess

Dem jüdischen Prozess folgte der vor Pilatus, dem römischen Statthalter, denn die Juden waren ja damals nicht die Herren im eigenen Haus. Rom hatte ihnen weitgehende administrative und rechtliche Selbstverwaltung überlassen. Todesurteile durften sie aber seit einer Weile nicht mehr verhängen (s. Joh 18,31). Nur einige freie Städte im Reiche wie Ephesus hatten das Recht, außerhalb eines römischen Gerichts Kapitalstrafen zu verhängen.

Nach Matthäus und Markus wurde Jesus im frühen Morgen zu Pilatus geführt. Ein römischer Präfekt begann damals tatsächlich früh mit der Arbeit. Nach einem archäologischen Fund 1961 ist Pontius Pilatus übrigens zweifelsfrei als historische Person identifiziert (Pontius ist der Familienname, sein Vorname ist nicht bekannt; Pilatus der Beiname mit unklarer Bedeutung).

Pilatus hat nun weder ein jüdisches Urteil vollstreckt noch hat er es bestätigt, sondern eine eigene Untersuchung geführt. Er hätte auch das Recht gehabt, die Klage gegen Jesus ganz abzuweisen. Aus freien Stücken begann er einen formellen Prozess und saß daher wie dann üblich „auf dem Richterstuhl“ (Mt 27,19; Joh 19,13). Jesus ging also über in die Jurisdiktion Roms. Thiede schreibt daher: „Die rechtliche und praktische Verantwortung der Römer [bei der Verurteilung Jesu] wird im Neuen Testament nicht geleugnet.“

Nun ist aber zu beachten, dass man sich in einer fernen Provinz Roms befand und Jesus kein römischer Bürger war. Er war auch nicht angeklagt, ein bestimmtes römisches Gesetz gebrochen zu haben. So galt für diesen Fall die cognitio extra ordinem. Diese Prozessordnung in den Provinzen, so Thiede, „bedeutete, dass ein kompetenter Beamter nicht das übliche Verfahren einer Art Geschworenengerichts benutzte, sondern die traditionelle Ordnung umging und selbst dem Prozess vorstand und auch selbst das Urteil fällte. Die Cognitio fand nach klaren Regeln statt, an die sich auch Pilatus hielt.“ Deshalb sehen wir hier also einen Mann ganz allein richtend.

In diesem rechtlichen Rahmen konnte Pilatus aber so ziemlich machen, was er wollte, hatte besonders beim Strafmaß sehr viel Spielraum. Jesus war nicht durch Bürgerrecht geschützt (wie Paulus), und allgemeine Menschenrechte waren damals in Rom unbekannt.

Die Untersuchung des Römers wird vor allem von Johannes ausführlich geschildert. Pilatus war verunsichert durch das Schweigen Jesu (Mt 27,14), denn der Angeklagte musste sich selbst verteidigen. Er erkannte aber schnell, was in diesem Fall wirklich los war, d.h., dass kein echter Rebell vor ihm stand. Der Römer verstand, dass Jesus aus Neid angeklagt wurde (Mt 27,18). In Joh 18,34 wird eindeutig ausgesagt, das Pilatus Jesus nichts vorzuwerfen hatte, ihn also für unschuldig erkläre. Selbst seine Frau warnt ihn: „Lass die Hände von diesem Mann, er ist unschuldig!“ (Mt 27,19) Benedikt XVI: „Pilatus kann die Wahrheit dieses Prozesses und wusste daher auch, was in diesem Fall die Gerechtigkeit  verlangt“.

Warum ließ er Jesus daher nicht einfach frei? Sein Verhalten erscheint noch seltsamer, wenn man seinen überlieferten Charakter berücksichtigt. Flavius Josephus berichtet im Jüdischen Krieg von äußerster Grausamkeit gegen Juden. Philo von Alexandrien erwähnt häufige Exekutionen ohne Urteil (s. auch Lk 13,1–2). Nach seiner Ankunft in Judäa im Jahr 26 begann der Römer gleich mit Provokationen, ließ sogar aus dem Tempelschatz in Jerusalem rauben. König Herodes Agrippa bezeichnete ihn in einem Brief aus dem Jahr 40 als „unbeugsam und rücksichtslos hart“. Joseph Klausner nennt Pilatus einen „blutrünstigen Tyrannen“, dem die Hinrichtung eines Juden nicht mehr bedeutete „als die Tötung einer Fliege“ (Jesus von Nazareth).

Pilatus war ein Gewaltmensch und wohl auch Judenhasser. Wie ist dann aber sein Verhalten im Prozess zu erklären? Hätte solch ein Pilatus die Ankläger Jesu nicht sofort zum Teufel geschickt? Pilatus wirkt eingeschüchtert, ganz und gar nicht unbeugsam, schwankt hin und her. Aber wie kann das sein? Bei ihm?! Die Antwort der modernen Theologie ist eindeutig: Die Evangelien zeichnen ein historisches falsches Bild des Römers; er solle einseitig entlastet und die Juden belastet werden.

Ein Blick auf die damaligen Machtverhältnisse in Rom liefert jedoch eine Erklärung. In den ersten Jahren von Pilatus Herrschaft war der faktische Machthaber nicht Tiberius, der Kaiser, sondern Lucius Aelius Seianus, der Leiter der Prätorianergarde. Der Kaiser hatte sich 26 auf die Insel Capri zurückgezogen. Seianus war ein scharfer Antisemit, der, so Philo, die Juden sogar ganz ausrotten wollte. Die Grausamkeiten des Pilatus in Judäa waren daher ganz nach dessen Geschmack. Um 31 gewann Tiberius aber wieder die alleinige Herrschaft, Seianus wird hingerichtet, 32 erscheint sogar ein judenfreundliches Edikt des Kaisers. Der Wind in Rom hatte sich also völlig gedreht. Pilatus, der alte Gesinnungsfreund von Seianus, musste gehörig aufpassen, um nun in der Hauptstadt nicht in Ungnade zu fallen.

Pilatus war daher auf einmal angreifbar. Das wussten Jesu Feinde sicher genau und nutzten dies aus. Sie tun so, als ob sie willige Untertanten des Kaiser wären (Joh 19,15) und drohen Pilatus offen: Lässt er jemanden frei, der sich als König bezeichnet hat, gefällt so eine Nachsicht dem Kaiser bestimmt nicht. Sie wussten, dass Pilatus den offiziellen Titel des „Freund des Kaisers“ (Joh 19,12), amicus Caesaris, trug, und diese Position nun in Gefahr war. Pilatus sah sich daher gezwungen, den Juden eine Art Gefallen tun. Renan meint sogar: „Pilatus war auf der Seite Jesu“. So sollte man besser nicht formulieren. Pilatus bangte um seinen Job, vielleicht sogar sein Leben. Er war auf seiner eigenen Seite und nirgendwo sonst!

Der Prozess vor Pilatus verlief also wohl ganz ohne Verletzungen der Prozedur und war im römischen Rechtssystem legal. Doch man bedenke, dass in diesem System die Ungerechtigkeit gegenüber eroberten Völkern festgeschrieben war. Gleichheit vor dem Gesetz galt nur für römische Bürger. Pilatus konnte sich über das Schuldprinzip hinwegsetzen, es also legal verletzen.

„Unschuldig vom weltlichen Richter verurteilt“ 

Was sagt uns all das heute? Drei wichtige Dinge zum Abschluss.

Missachtete Gerechtigkeit. Beiden Richtern, Hohem Rat wie Pilatus, ging es in erster Linie nicht um Wahrheit und ihre Findung, sondern um Macht und deren Sicherung. Gerechtigkeit geriet so unter die Füße von Machtgier. Hass auf andere Menschen und Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit sind bis heute Gefahren, die uns immer begleiten und nur zu oft Ungerechtigkeiten hervorbringen – selbst in hochentwickelten Rechtssystemen. Vor den Versuchungen der Macht müssen sich immer noch besonders die in Acht nehmen, die Gesetze verfassen, sie schützen und Recht sprechen.

Wiederhergestellte Gerechtigkeit. In Jesu Prozess und Tod triumphiert, so scheint es, die Ungerechtigkeit. Und die Apostel sagen von Anfang an unverblümt, dass Gott selbst es so gewollt und angeordnet hat (Apg 2,23; 4,28). Wie passt das zusammen? Gott ist der gerechte Richter über uns Menschen (Gen 18,25; Röm 2,2). Sein Urteil über uns Sünder ist klar: ewiger Tod (Gen 2,17; Röm 6,23). Dieses Urteil muss von Rechts wegen auch vollstreckt werden. Einzig Gott selbst konnte unser Gericht abwenden, indem er selbst Mensch wurde und sich zum Tod verurteilen ließ. Jesus wurde tatsächlich von menschlichen Richtern verurteilt, durch Juden wie Heiden, gleichsam Repräsentanten der ganzen Menschheit. An unserer statt wurde er „zu den Verbrechern“ gezählt (Jes 53,12). Er, der Gerechte und Schuldlose, tritt an unsere Stelle. Im Urteil und Tod Jesu spricht Gott sein Recht. Berkhof: „Die Strafe des Pilatus war auch die Strafe Gottes, obwohl natürlich auf ganz anderer Grundlage“. Gott nutzt die Ungerechtigkeit, um Gerechtigkeit wieder herzustellen – das ist das große Paradoxon. Der Heidelberger Katechismus: „Er wurde unschuldig vom weltlichen Richter [Pilatus] verurteilt und hat uns dadurch von Gottes strengem Urteil, das über uns ergehen sollte, befreit.“ (Fr. 38)

Fürsprecher der Gerechtigkeit. Gott „schafft Recht den Unterdrückten“ (Ps 146,7); er steht auf Seiten aller unschuldig Verurteilten, ungerecht Behandelten. Das galt schon immer, doch mit Jesu Schicksal kommt etwas Neues hinzu: Kein Mensch hat mehr Unrecht erlitten als er! In Hbr 2,17–18 heißt es, dass er „in allem seinen Brüdern gleich sein [musste]… Denn da er gelitten hat und selbst in Versuchung geführt wurde, kann er denen helfen, die in Versuchung geführt werden.“ Das gleiche gilt für das Leid unter Unrecht: Da er selbst Unrecht erlitten hat, kann er unsere Erfahrung von Unrecht „mitfühlen“ (s. Hbr 4,15). Seit der Apostelzeit litten und leiden Christen unter der Verfolgung von Staat und Religion wie Jesus. Im 17. Jhdt. saß der Baptistenprediger John Bunyan 1660–72 im Gefängnis, da er der Kirche von England nicht gehorsam sein wollte. Aber er wusste, dass Jesus ein ähnliches Schicksal erlitten hatte und er einen wirklichen Anwalt im Himmel hat. 1666 schrieb er: „Jesus Christus ist viel realer und leuchtender geworden. Hier habe ich ihn in Wahrheit gesehen und empfunden!.. Nie vor meiner Gefangenschaft habe ich erfahren, dass Gott mir ständig nahe ist…“ (Überreiche Gnade)

(Bild o.: Antonio Ciseri, „Ecce homo“, 1860/80)