Die Feinde des Gerechten

Die Feinde des Gerechten

Gerecht scheinen oder sein

Gerechtigkeit ist ein Menschheitsthema. Blicken wir mehr als zwei Jahrtausende zurück: schon damals drehte sich in einem der wichtigsten Werke der Philosophie alles um die Gerechtigkeit. Sie ist Hauptthema in Platons Der Staat, verfasst um 370 v. Chr. (Bild o.: Platon in „Die Schule von Athen“ von Raffael, 1510.)

Wie meist legt Platon seine Gedanken in Form von fiktiven Dialogen dar. Im 2. Buch diskutiert Sokrates, der in der Regel für den Philosophen selbst steht, mit Glaukon. Dieser stellt gleich zu Beginn eine provozierende These auf. Glaukon behauptet, dass der Mensch, wenn er könnte, wie er wollte, jederzeit das Leben eines rücksichtslos Ungerechten vorziehen würde. Das Prinzip der Gerechtigkeit habe man unter den Menschen nur aus rein praktischen Gründen eingeführt. Er schlägt ein Gedankenexperiment vor: Man solle sich „den Gerechtesten und den Ungerechtesten“ vorstellen (360e). Letzterer handelt nach dem Motto: bloß nicht erwischen lassen. Er kann „trotz der größten Verbrechen“ doch „den Ruhm höchster Gerechtigkeit“ erheischen (361a).

„Einem solchen Mann wollen wir nun in unserer Unterschung den Gerechten gegenüberstellen, einen einfachen und edlen Mann, der… nicht nur gut scheinen, sondern sein will“, so Glaukon. Er fährt fort: „Ohne ein Unrecht zu tun“ trage er dennoch „den höchsten Ruf der Ungerechtigkeit“. Trotz Verachtung und vieler Gegner lässt sich dieser nicht verunsichern: „Ohne ein Unrecht zu tun“ wird er „in der Gerechtigkeit geprüft“; „so gehe er durchs Leben unwandelbar bis zum Tod“. All die „Lobredner nicht der Gerechtigkeit, sondern der Ungerechtigkeit“ weisen auf das erbärmliche Ende dieses Gerechten hin: „ein Gerechter von solcher Art wird gegeißelt, gefoltert, gefesselt, geblendet, schließlich nach all diesen Leiden gekreuzigt.“ Die Moral des Gedankenexperiment sei, „dass es notwendig ist, gerecht nicht sein, sondern scheinen zu wollen“ (361b-362a). Oder in unseren Wort: das Image ist alles.

Der griechische Begriff, der oft auch mit „gekreuzigt“ übersetzt wird, muss eigentlich „gepfählt“ wiedergegeben werden, was die eigentliche Wortbedeutung ist. Dennoch ist die Parallele zum Schicksal Jesu offensichtlich. Auch dieser war ein vollkommen Gerechter und Heiliger (Apg 3,14), wurde erniedrigt, „gemartert“ (Jes 53,3.7) und gegeißelt (Mt 27,26) und endete schliesslich ebenfalls aufgehängt „am Holz“ (Apg 5,30).

„Lasst uns den Gerechten unterdrücken“

Wir verfolgen die Diskussion bei Platon nicht weiter und kommen zu einem weiteren Text aus der Antike, dem Buch der Weisheit, angeblich von Salomo verfasst und auch Weisheit Salomos genannt. Es entstand wahrscheinlich im 1. Jhdt. v. Chr. in Ägypten. Die Römisch-katholische Kirche hält die Schrift für ein biblisches Buch, die Protestanten jedoch nicht, da es auch nie zum hebräischen Kanon zählte. Griechisches und jüdisches Denken sind hier gemischt, und dennoch sind gerade die ersten Kapitel ganz bemerkenswert.

Das Buch beginnt mit der Aufforderung: „Liebt Gerechtigkeit, ihr Richter der Erde“. Gerechtigkeit ist auch sein großes Thema. Der Gerechte aber hat Feinde, die ihm das Leben schwer machen; dies sind die „Gottlosen“ (1,16). Sie lehren, dass mit dem Tod alles aus ist und der Zufall regiert: „Durch Zufall sind wir geworden und danach werden wir sein, als wären wir nie gewesen…“ (2,2). Also muss man das Leben genießen, solange es geht: „Auf, lasst uns die Güter des Lebens genießen und die Schöpfung auskosten, wie es der Jugend zusteht! Erlesener Wein und Salböl sollen uns reichlich fließen…“ (2,6–7) Doch damit nicht genug. Diese Ungerechten haben es auf den Gerechten abgesehen, den sie bis in den Tod treiben:

„Lasst uns den Gerechten unterdrücken, der in Armut lebt… Lasst uns dem Gerechten auflauern! Er ist uns unbequem und steht unserem Tun im Weg… Er rühmt sich, die Erkenntnis Gottes zu besitzen, und nennt sich einen Knecht des Herrn. Er ist unserer Gesinnung ein Vorwurf, schon sein Anblick ist uns lästig; denn er führt ein Leben, das dem der andern nicht gleicht, und seine Wege sind grundverschieden… Das Ende der Gerechten preist er glücklich und prahlt, Gott sei sein Vater. Wir wollen sehen, ob seine Worte wahr sind, und prüfen, wie es mit ihm ausgeht. Ist der Gerechte wirklich Sohn Gottes, dann nimmt sich Gott seiner an und entreißt ihn der Hand seiner Gegner. Durch Erniedrigung und Folter wollen wir ihn prüfen, um seinen Gleichmut kennenzulernen und seine Widerstandskraft auf die Probe zu stellen. Zu einem ehrlosen Tod wollen wir ihn verurteilen; er behauptet ja, es werde ihm Hilfe gewährt.“ (2,10–20)

Wieder erscheinen die Verse wie eine Vorhersage, die sich in Jesus erfüllte. Man denke nur an die Verspottung Jesu am Kreuz in Mt 27,43, die an 2,18–20 erinnert: „Er hat auf Gott vertraut, der soll ihn jetzt retten, wenn er an ihm Gefallen hat; er hat doch gesagt: Ich bin Gottes Sohn.“

Von der Fiktion zur Wirklichkeit

Ein vorbildlich Gerechter muß viel Leid über sich ergehen lassen (Platon); er ruft den Haß der Ungerechten hervor (Weisheit); beide Texte sprechen von seinem Tod. Doch der vollkommen Gerechte ist bei ihnen ja nur literarisch erdacht, also eine Fiktion. In Jesus wurde die Fiktion Wirklichkeit. Auch Jesus sprach von Haß auf sich (Joh 7,7), von Leid (Mt 16,21), seinem baldigen Tod und der Art des Todes (Joh 12,32–33). Doch nun geht es nicht mehr nur um Philosophie und Moral, sondern um die Erlösung des Menschen.

Christen wissen, daß Gott Mensch werden mußte, um diese Erlösung zu erwirken. Und Jesus, dieser Mensch gewordene Gott, mußte sterben. Und er starb tatsächlich (entegegen den Theorien und bloßen Vermutungen von Autoren wie Michael Baigent, die behaupten, Jesus habe die Kreuzigung überlebt).

Johannes Calvin weist ganz richtig darauf hin, dass Jesus nicht auf irgendeine Art sterben konnte: „Wäre er von Räubern erwürgt oder bei einem Volksaufstand im Tumult umgebracht worden, so hätte in diesen beiden Arten des Sterbens das wesentliche Merkmal der Genugtuung gefehlt“, Erlösung wäre nicht geschehen (Inst. II,16,5). Denn nur der Tod am Kreuz, am Holz, war verflucht (s. Dt 21,23; Gal 3,13). Auf die Art des Todes am Kreuz gehen wir hier aber nicht weiter ein.

Calvin weist ebenfalls darauf hin, dass Jesus „als Angeklagter vor den Richterstuhl gestellt [wurde], Zeugenaussagen klagen ihn an und beschuldigen ihn, der Richter selbst überantwortet ihn zum Tode“. Er wird während eines Gerichtsprozesses als „strafbarer Übeltäter“ behandelt, und das aus freien Stücken. Calvin folgend betont auch der reformierte Theologe Louis Berkhof: „Es war wesentlich notwendig, daß Jesus nicht einen natürlichen Tod oder durch Unfall starb; er durfte auch nicht durch einen Attentäter umkommen. Er mußte vielmehr durch eine gerichtliche Strafe sterben.“ (Systematic Theology) Schon Jesus sah sein Todesurteil (Mt 20,18) voraus. Ein Urteil impliziert natürlich einen Prozeß vor einem Gericht.

Dieser Gerechte wird nicht nur verfolgt, gehaßt und getötet, sondern auch noch von dem Werkzeug des Rechts zu Fall gebracht; die Verkörperung der Gerechtigkeit wird von Rechtsorganen ‘gerecht’ beseitigt; der Richter der Welt wird selbst gerichtet – diese Dimension ist in den beiden Texten eingangs noch gar nicht vorhanden, im Neuen Testament also ganz neu.

Vollkommen gerecht bedeutet auch ohne Schuld, ohne Sünde. Jesus kannte keine Sünde (2 Kor 5,21); so konnte „der Gerechte für die Ungerechten“ (1 Pt 3,18) sterben. Kein Makel war an ihm, und dennoch wurde er verurteilt. Schon einer der Verbrecher am Kreuz wusste: Jesus wurde zu unrecht verurteilt, er zurecht (Lk 23,41). Wenig später der erste Märtyrer Stephanus: „Er wurde erniedrigt und all seiner Rechte beraubt“ (Apg 8,33). Wie kann so etwas passieren? Worin lag nun diese Ungerechtigkeit  im Urteil? Welche Rechtsprinzipien wurden verletzt? Welches Bild zeigt sich in den Evangelien? Und was hat all das uns zu sagen?

Über den Prozeß Jesu existieren keine unabhängigen Berichte, es gibt keine Mitschriften des Ablaufes. So bleibt manches Vermutung, und daher werden auch immer wieder neue Bücher über den Prozeß Jesu geschrieben. Wir stellen hier im kurzen Überblick dar, welches Unrecht Jesus in den beiden Prozessen vor dem jüdischen Rat und dem Römer Pilatus angetan wurde.

(Fortsetzung folgt)