Kind dreier Kriege

Kind dreier Kriege

Am 16. Februar verfiel ganz Litauen in patriotische Hochstimmung. Überall gelb, grün und rot – geradezu allgegenwärtig strahlen die Farben der litauischen Trikolore im winterlichen Grau, schließlich waren einhundert Jahre Staatlichkeit zu feiern. 1918 hatte der Litauische Landesrat in Vilnius in einem „Beschluss“ in litauischer und deutscher Sprache einen unabhängigen Staat ausgerufen. Letten und Esten folgten noch im selben Jahr mit ähnlichen Schritten. Auch in anderen Ländern wie Georgien und Österreich wird gefeiert.

Für viele Länder im Zentrum Europas und bis hin in den Kaukasus stellte 1918 die große Zäsur dar (den Reigen eröffnete Finnland im Dezember 1917).  Alle nutzten das Ende des Ersten Weltkrieges aus, den Zusammenbruch des Zarenreichs und auch die sich anbahnende Niederlage Deutschlands. Ohne das große Gemetzel zwischen 1914 und 1918 hätten sich die vielen Völker sicher nicht so zügig aus den großen Imperien befreien können – wenn es ihnen überhaupt noch gelungen wäre.

Die Litauer haben ihren 16. Februar dem 28. Juni 1914 zu verdanken. An dem Tag fielen die Schüsse von Sarajewo, der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau wurden in der bosnischen Stadt in ihrem Wagen erschossen. Die sich immer weiter zuspitzende Krise des folgenden Monats führte zum Weltkrieg.

Dabei war der Tod des Thronfolgers das Ergebnis eines tragischen Zufalls. Die serbischen Terroristen hatten ihr Attentat nur höchst dilettantisch geplant – es hätte  eigentlich scheitern müssen. Eine geworfene Bombe hatte nur ein paar Männer verletzt. Franz Ferdinand wollte sie noch am selben Tag im Krankenhaus besuchen, doch es gab Verwirrung, welche Route die Autokolonne nehmen sollte. Der offene Wagen des Fürsten musste in einer Nebenstraße stoppen, um ein kompliziertes Wendemanöver einzuleiten (es gab in Automobilen noch keinen Rückwärtsgang). Dabei kam er – man glaubt es kaum – direkt neben einem der serbischen Attentäter zum Stehen. Gavrilo Princip, kein guter Schützer, musste nur seine Pistole ziehen und traf das Paar auf kurze Distanz tödlich.

Dieser äußerst dumme Zufall führte zum „Höllensturz“ – Ian Kershaws Buchtitel über die Zeit von 1914 bis 1949. „Europas Epoche der Selbstzerstörung“, so die Einleitung im Werk des bekannten Historikers und Hitler-Biographen, nahm ihren Anfang (Historiker Gerd Krumeich in einem guten Vortrag zur Vorgeschichte des Krieges). Der völlige Zusammenbruch nicht nur von schwächelnden Riesen wie dem Osmanischen Reich oder Österreich-Ungarn, sondern auch von Russland oder dem Kaiserreich, das plötzliche Verschwinden alter Dynastien wie der Romanow, Habsburg und Hohenzollern – um 1900 war noch gar nicht abzusehen, dass solch eine Katastrophe bald den Kontinent radikal verändern würde. Für Litauen und andere Länder bedeutete dies, dass sich auf einmal, ganz unerwartet und letztlich völlig zufällig ein Fenster auftat. Die Chance wussten die kleinen Völker zu nutzen.

Litauen ist ein Kind des Ersten Weltkriegs und hat die Existenz des modernen Staates dem Höllensturz, der Jahrhundertkatastrophe und dem grausigen Zerfleischen zu verdanken. Am Ende waren die Starken alle so geschwächt, dass die Kleinen aufstehen konnten.

Die jungen Staaten ergriffen die Möglichkeit beim Schopfe und machten sich überraschend erfolgreich an die Aufbauarbeit. In kurzer Zeit entstanden im Baltikum moderne politische Gemeinwesen. Alles hätte gut werden können, und mit etwas Glück hätten die Länder des Baltikums damals den direkten Weg Richtung Skandinavien eingeschlagen, wohlhabend und frei.

Doch der Weltkrieg Nr. 1 hatte ja schon, wie wir nun wissen, die böse Saat für das nächste Gemetzel gesät. Kershaws Buch heißt im Original „To Hell and Back“ – zur Hölle und zurück, d.h. noch mal, ein zweites Mal in die Hölle: der noch blutigere Zweite Weltkrieg. Im Osten konnte sich 1917 die Demokratie nicht durchsetzen; die Kommunisten ergriffen noch im Herbst des Jahres durch einen Putsch die Macht in Russland. Den baltischen Staaten stand von Anfang an ein aggressiver Nachbar gegenüber, der 1919/1920 die Eroberung versuchte. Polen und Balten schlugen damals die Rote Armee zurück – für zwanzig Jahre war Ruhe.

Dummerweise marschierte auch Deutschland, der große Nachbar im Westen, in eine Diktatur. Durch den Versailler Vertrag gedemütigt und auf Revanche sinnend waren weite Teile der Bevölkerung und der Führung im Deutschen Reich zu neuen militärischen Auseinandersetzungen bereit. Als dann durch die Weltwirtschaftskrise auch noch Hitler ganz nach oben gespült wurde, bahnte sich ein neues Disaster an. Zentraleuropa wurde zwischen zwei mächtigen Tyrannen zerrieben. Die einst geschwächten Imperien schlugen 1939/1940 zurück, verleibten sich Polen und die baltischen Staaten (wieder) ein.

Aus Litauen wurde im Sommer 1940 eine Sowjetrepublik. Als Staat verschwand das Land nicht ganz von der Landkarte, doch mit der Freiheit war es für fast 50 Jahre vorbei. 1941 besetzte die Wehrmacht zügig das Baltikum. Drei Jahre deutsche Besatzung und die direkten Folgen des Zweiten Weltkriegs prägen Litauen bis heute.

Im Krieg und in den Nachkriegsjahren wurde Litauen in einem erschreckenden Ausmaß „ethnisch gesäubert“, wie man heute sagt. Das Großfürstentum Litauen war über Jahrhunderte hinweg ein Land der vielen Völker, Kulturen, Sprachen und Religionen. Am deutlichsten war dies in der historischen Hauptstadt Vilnius zu sehen mit z.B. orthodoxen, unierten, katholischen und evangelischen Kirchen sowie zahlreichen Synagogen und auch einer Moschee. Man sprach polnisch, russisch, jiddisch, deutsch und litauisch. Nur auf dem flachen Land dominierte die litauische Sprache.

In der Zwischenkriegszeit beschränkte sich das Territorium des Staats auf das von ethnischen Litauern besiedelte Gebiet. Die Litauer übernahmen allgemein die Führung.  Aber auch hier gab es zahlreiche Minderheiten, nicht zuletzt auch nach dem Anschluss des vormals deutschen Memelgebiets. Die lutherische Kirche war damals eine dreisprachige (deutsch, lettisch und litauisch Sprechende). Größte Minderheit waren die Juden, die seit dem späten Mittelalter im Land lebten und in vielen Städten und Städtchen einen großen Teil (ein Drittel oder sogar mehr) der Einwohner stellten. Die polnische und jüdisch/jiddische Kultur war ein fester Bestandteil des litauischen Lebens.

Der Weltkrieg Nr. 2 machte all dem ein Ende. Die jüdische Bevölkerung wurde fast vollständig ermordet. Schon in den ersten Kriegsmonaten erschossen Deutsche und litauische Helfer weit über einhunderttausend jüdische Bürger. Die einheimischen Deutschen wurden umgesiedelt oder flohen nach dem Krieg; bis auf ein paar Tausend verließ der Rest bis in die 60er Jahre das Land. Die lutherische Kirche verlor so an die 90% ihrer Mitglieder. Und um die Polen zugeschlagenen deutschen Ostgebiete zu ‘füllen’, wurden hunderttausende Polen aus dem Raum Vilnius umgesiedelt.

Das Judentum ist aus Litauen bis auf ein paar kleine, kümmerliche Reste vollständig verschwunden. Die lutherische Kirche des Landes ist erstmals in ihrer Geschichte sprachlich rein litauisch. Das historische „Deutschtum“ ist so gut wie ausgestorben. Und eine Elite, die zwar polnisch spricht, aber sich Litauen zurechnet, gibt es auch nicht mehr. Im Südosten Litauens dominieren Polen zwar immer noch einige Landkreise, doch insg. machen sie nur noch knappe 6 % der Einwohner aus. Heute sind fast 87 % der Bürger Litauens ethnische Litauer.

In Litauen konzentriert man sich heute bevorzugt auf die litauischen Opfer der 40er Jahre – nach Sibirien Vertriebene, getötete Partisanen und andere von den Sowjets Ermordete. Jeder Einzelne ist hier zu beklagen, aber die ethnischen Litauer kamen damals noch eher glimpflich davon. Das ganze Land wurde jedoch hart getroffen durch den langfristigen Verlust der über Jahrhunderte gewachsenen kulturellen und sprachlichen Vielfalt.

Der erste Krieg eröffnete Litauen den Weg in die staatliche Selbständigkeit, der zweite führte nicht nur in die Sowjetunion, er verarmte das Land, beraubte es einem alten kulturellen Erbe. Der dritte Krieg war der Kalte Krieg, der in den 40er Jahren begann und bis Ende der 80er Jahre dauerte. Gott sei Dank wurde er nie richtig heiß. Litauen, an vorderster westlicher Front der UdSSR, wäre wohl auch direkt ausradiert worden.

In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wuchs die Bevölkerung Litauens stark an, das ganze Land wurde industrialisiert. Verkehrswege, Bibliotheken, Hochschulen, Krankenhäuser, Museen, Theater usw. – vieles wurde in der Sowjetzeit geschaffen und gebaut. Rein äußerlich hat die Zeit der ganzen Gesellschaft ihren Stempel aufgedrückt. Ob nun Klaipėda oder Šiauliai, Kėdainiai oder Jonava, Kuršėnai oder Alytus – die litauischen Städte der Gegenwart sind immer noch mehr oder weniger stark von den Folgen der kommunistischen Planwirtschaft geprägt.

Die Sowjetisierung über mehrere Generationen hat noch tiefere Spuren in der Seele der Gesellschaft hinterlassen. Demokratie und Marktwirtschaft wurden recht erfolgreich eingeführt; Mitgliedschaften in Nato, EU und bald auch OECD bringen Früchte. Das Wohlstandsgefälle zu den wohlhabenden Staaten in Europa hat sich innerhalb einer Generation in etwa halbiert.

Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Jahrzehnte der Atheisierung recht erfolgreich waren. Dies bedeutet nicht, dass die Litauer zu überzeugten Atheisten geworden waren. Die kommunistischen Herrscher hatten bald begriffen, dass dies kaum zu bewerkstelligen ist. Schließlich kann die Seele der Menschen tatsächlich nicht direkt erreicht werden. Sie hatten es aber auf die Zerstörung der Zivilgesellschaft abgesehen – all die Strukturen zwischen Individuum und Staat, angefangen bei der Familie über Vereine und alle Arten von freiwilligen Zusammenschlüssen wie auch der Kirche. Und hier kamen sie erschreckend weit voran.

In den zivilgesellschaftlichen Strukturen – vor allem in ihnen – wird Kultur geprägt und werden Traditionen und Werte, Normen und Moral, auch Glaube und Religion weitergegeben. Ist hier ein Kahlschlag erfolgt, braucht es viele Jahrzehnte, bis eine neue Kultur heranwächst. Und genau dies ist in Litauen nun zu sehen. Die Zeit des kalten Krieges hat Litauen äußerlich nicht in eine Katastrophe gestürzt. Allerdings wurde das moralische Rückgrat gebrochen.

Man vergleiche das heutige Litauen nur mit der Vorkriegsrepublik. Auf den ersten Blick ist das Land wie damals katholisch dominiert. Waren Scheidungen damals so gut wie unbekannt, hat Litauen heute eine der höchsten Scheidungsquoten in Europa. Immer noch hält man sich allgemein für religiös und christlich; fast 90% der Kinder werden getauft. Doch der Besuch von Gottesdiensten ist allgemein auf äußerst niedrigem Niveau; die kirchliche Bindung ist dünn, die Autorität der Kirche bzw. der Kirchen als Institution gering.

Die Sowjetzeit hat zu einer Veräußerlichung der Religion geführt, einer Konzentration auf Rituale, hinter denen wenig innerliche Anteilnahme und Überzeugung stehen. Exemplarisch stand dafür der letzte Kommunistenchef Litauens, der erste gewählte Präsident und dann auch noch langjährige Regierungschef Algirdas Brazauskas. Er nutzte jede Gelegenheit, sich mit Kirchenvertretern zu schmücken und der Kirche Gutes zu tun – obwohl er sich innerlich natürlich keinen Deut um deren Botschaft scherte. Ein einziges großes Theater, und Schauspieler dieser Art gibt es bis heute genug.

Philosophin Nerija Putinaitė (geb. 1971) analysierte in ihren Büchern die Folgen der Sowjetherrschaft für Kultur und Mentalität. Sie beschreibt, wie die Kommunisten den Menschen zwar nicht den Glauben an Gott austreiben konnten, es aber dennoch schafften, sie von echter und auch kirchlicher Religiosität zu entfernen. Das Ergebnis war der religiös Indifferente oder auch Gleichgültige; und in moralischer Hinsicht der weitgehend Prinzipienlose. Die allgemeine Entmoralisierung war recht erfolgreich. Jüngst musste z.B. der Rektor der TU Kaunas seinen Hut nehmen, weil er in seiner Habilitationsschrift abgekupfert hatte – und das ist nur die Spitze des Eisbergs.

Moral ist eine persönliche Angelegenheit, weshalb es auch in den Ländern des Westens mehr oder weniger moralisch zugeht. Noch schlimmer wird es aber, wenn das tragende Fachwerk eines Gebäudes zerstört wird, die kulturellen Balken, die das Verhalten von Individuen prägen, lenken und ermöglichen. Über die Folgen schreibt auch Kardinal   Audrys Juozas Bačkis in seinen Erinnerungen. Der in Frankreich und Italien aufgewachsene Erzbischof, bis vor einigen Jahren Leiter der katholischen Kirche in Litauen, ist ein Kind des Exils (wie auch Expräsident Valdas Adamkus) – ein Litauer, aber von einer nichtsowjetischen Kultur geprägt. Am meisten machte ihm zu schaffen, wenn ihm Priester (!) direkt ins Gesicht die Unwahrheit sagten. Auf der ganzen Welt wird gelogen, doch wenn auch die für moralische Erziehung Mitverantwortliche kaltblütig und ohne mit der Wimper zu zucken lügen?

Litauen kann nun dankbar auf einhundert Jahre zurückblicken, denn letztlich ging das Jahrhundert für die Balten gut zu Ende: Noch nie in seiner Geschichte stand das Land so wohlhabend und sicher da. Zwar droht wieder ein Alleinherrscher mit seiner Demokratur im Osten, aber im Westen hat man starke Verbündete. Doch gerade der unblutige Krieg der Jahrzehnte im Kommunismus, der Vernichtungskrieg gegen alles Zivile und letztlich auch gegen die Moral (man lese dazu nur Anne Applebaums Der Eiserne Vorhang), hat tiefe Verwundungen hinterlassen. Es wird noch lange dauern, Generationen vermutlich, bis der durch die atheistische Ideologie angerichtete Schaden halbwegs behoben sein wird. Bei dieser Arbeit wird den Kirchen des Landes entscheidende Bedeutung zukommen, und nun, in einem freien Land haben gerade die kleinen evangelischen Kirchen Möglichkeiten wie wohl nie zuvor. Sie bzw. ihre Mitglieder waren schon 1918–1920 aktiv am Aufbau der ersten Republik beteiligt (die Brüder Yčas waren Minister, General Žukauskas Armeechef, und Jokūbas Šernas gehörte zu den 20 Unterzeichnern der Unabhängigkeitserklärung von 1918 – alle waren Mitglieder der reformierten Kirche). Heute können und müssen sie ihre christliche Position einbringen, die Vielfalt in Freiheit und klare Wertorientierung verbindet. Erneut hat die Stunde der Protestanten geschlagen.

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Turm des Rathauses in Šiauliai

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Die Unabhängigkeitserklärung von 1918 projiziert auf die Fasade der Fachhochschule in Šiauliai (im Stil der Neoklassik aus der Stalin-Epoche)

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Gebäude in Vilnius