Denkmal einer Idee

Denkmal einer Idee

Öffentliche Denkmäler des Reformators Johannes Calvin gibt es weltweit nur ganz wenige. Eine freistehende, mannshohe Skulptur – die einzige dieser Art – befindet sich in Budapest, der ungarischen Hauptstadt. Als Teil des evangelischen Unionsdenkmals in der Stiftskirche in Kaiserslautern repräsentiert Calvin die reformierte Konfession, Luther die lutherische. Außerdem befindet sich an der Friedrichstadtkirche in Berlin am Gendarmenmarkt eine Bronzeplatte, die den Genfer Reformator zeigt (angefertigt zur 250-Jahr-Feier der Aufnahme der Hugenotten in Brandenburg 1935).

Das war‘s dann auch. In Calvins Geburtsstadt Noyon in Nordfrankreich würde man vergeblich ein Denkmal suchen. Dass jeglicher Personenkult eines Kirchenmannes zu verwerfen ist, haben die reformierten Christen also weitgehend beherzigt. Die deutschen Lutheraner machten dagegen nach den Kriegen gegen Napoleon Martin Luther zu einem ihrer großen Nationalhelden. 1821 wurde das Lutherdenkmal in Wittenberg errichtet, künstlerisch verantwortlich waren die Top-Künstler der Zeit, Schinkel und von Schadow (Letzterer schuf auch die Quadriga auf dem Brandenburger Tor). Der Wittenberger Luther war übrigens das erste Denkmal für einen Bürgerlichen überhaupt im Land. Bis dahin waren diese Fürsten und Adeligen vorbehalten. Dutzende Lutherdenkmäler, vor allem natürlich in Deutschland, folgten im 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Lutherdenkmal (copyright Thomas Vollmer churchphoto.de) - ID 28176 b

Luther in Wittenberg (von Schadows Skulptur; Baldachin von Schinkel)

Prägend wurde außerdem das Lutherdenkmal in Worms aus dem 1868; die Figur von Ernst Rietschel ließ man in vielen Ländern nachgießen. Die Komposition gilt auch als „Reformationsdenkmal“, da dem alle überragenden Luther andere Reformatoren beigeordnet sind wie Melanchton und Vorreformatoren wie Hus und Wycliff.

Das „internationale Reformationsdenkmal“ befindet sich aber in Genf in der Schweiz. Es ist ein Kunstwerk ganz eigenen Stils. Im Zentrum der Maueranlage befindet sich Calvin selbst – sechs Meter hoch, neben ihm stehend Guilliaume Farel, der ihn einst nach Genf holte, Theodore Beza, sein Nachfolger in der Stadt, sowie John Knox, der Reformator Schottlands, der sich auch einige Jahre in der Schweizer Stadt aufhielt. Nur rund einhundert Meter entfernt liegt Calvins einstige Predigtkirche St. Pierre.

Das Denkmal wurde 1917, vor einhundert Jahren, eingeweiht. Es war die erste öffentliche Ehrung Calvins in dieser Form. Jahrhundertelang achteten die Genfer Calvins letzten Willen, ihn persönlich in keiner Weise zum Objekt der Verehrung zu machen. Bekanntlich verhinderte er sogar die Kennzeichnung seines Grabes (was heute als Grab besucht werden kann, markiert nicht den tatsächlichen Ort der Bestattung, der unbekannt ist).

Initiator des Denkmals war der Genfer Professor für Kirchengeschichte Auguste Chantre. Von ihm stammte die Idee, zum 400. Geburtstag des Reformators 1909 ein Monument zu errichten. Um Calvins Anliegen aber dennoch gerecht zu werden, sollte das Kunstwerk „weniger einem Menschen als einer Idee“ gewidmet sein. In der Vorgabe zu einem Wettbewerb war die Abbildung zahlreicher Personen vorgesehen, darunter auch „Männer des Staates und des Degens“. Sage und schreibe 71 Entwürfe gingen ein.

Der erste Preis ging an das Projekt von vier Schweizer Architekten mit dem schlichten Namen Le Mur – die Mauer. Die Grundsteinlegung erfolgte noch 1909. Zweidrittel der Kosten wurden durch Spenden aus Genf selbst aufgebracht. Die „Volkstümlichkeit“ war eine der Vorgaben des Wettbewerbs, und tatsächlich erfreute sich das Monument international de la Réformation in der Stadt sofort großer Beliebtheit. Bis heute ist es ein Besuchermagnet. Die vier Personen im Zentrum werden bis heute gerne ikonographisch herausgegriffen als Symbol der Reformation überhaupt, so auch in Litauen im Rahmen des diesjährigen Reformationsjubiläums.

Reformationsdenkmal

Farel, Calvin, Beza und Knox (v.l.n.r.)

Die Stärke des Monuments ist sicherlich, dass die Figur Calvins in die Gruppe der drei anderen Reformatoren eingebunden und nur ganz dezent, vor allem durch die Haltung seiner Arme, herausgehoben ist (ganz anders war dies beim zweitplatzierten Entwurf vorgesehen). Es gilt jedoch zu beachten, dass alle vier mit der Genfer Reformation verbunden sind (Knox gleichsam als deren Exporteur). Das Denkmal erinnert damit nicht an die Schweizer Reformation oder die reformierte Konfession allgemein, schließlich fehlten dafür so wichtige Personen wie Ökolampad, Musculus und natürlich Bullinger. Trotz des Namens ist auch nicht die europaweite Reformation als solche Thema, denn deren ‘Urväter’ finden nur wie beiläufig Erwähnung: In den Seitenmauern sind die Namen „Luther“ und „Zwingli“ eingemeißelt.

Die Figurengruppe im Zentrum ist nur der Mittelteil des an die einhundert Meter breiten Monuments. Links und rechts der Vier befinden sich die Skulpturen von sechs weiteren Personen, die jeweils um die drei Meter hoch sind. Abgesehen vom Puritaner Williams ist keiner von ihnen ein ordinierter Pfarrer oder Theologe; sind die vier Figuren Männer der Kirche, so handelt es sich bei den anderen um die ja schon in den Vorgaben geforderten Männer des Staates (als solcher ist auch Williams als Gründer von Rhode Island in Nordamerika aufgenommen).

Das dritte Element der komplexen Komposition stellen Flachreliefs und dazugehörige Texte dar, die Episoden aus der Reformationsgeschichte in Deutschland, Frankreich, Ungarn oder der Schweiz veranschaulichen. Sie sind den sechs Personen zugeordnet. Hier ein kurzer Überblick:

Gaspard de Coligny war Armeeführer und einer der Köpfe der Hugenotten in Frankreich, das prominenteste Opfer des Massakers in der Bartholomäusnacht im Jahr 1572. Damals wurden innerhalb weniger Tage Tausende reformierte Christen umgebracht. Ein Vierteljahrhundert später kamen die Religionskriege zu einem Ende, als der französische König Heinrich IV 1598 das Toleranzedikt von Nantes unterzeichnete, festgehalten im Relief.

Wilhelm von Nassau, der Schweiger oder der Schweigsame, ist abgebildet, Anführer der niederländischen Unabhängigkeitsbewegung. Der später „Vater des Vaterlands“ Genannte war maßgeblich beteiligt an der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Provinzen der Niederlande von Spanien, vorgenommen durch die Generalstaaten 1581.

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Friedrich Wilhelm von Brandenburg wird ebenfalls geehrt (im Bild o. links). Der Große Kurfürst nahm nach der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 durch Ludwig XIV in seinen Territorien hugenottische Glaubensflüchtlinge auf.

Viel weniger bekannt ist Stephan Bocskai: Im Relief ist dargestellt, wie der reformierte Fürst von Siebenbürgen 1606 dem ungarischen Landtag den Friedensvertrag von Wien übergibt. Darin sicherte der katholische Kaiser Rudolf II von Österreich den Protestanten Ungarns Religionsfreiheit zu.

Viele werden überrascht sein auch Oliver Cromwell zu sehen. Der General im englischen Bürgerkrieg Mitte des 17. Jahrhunderts übernahm in der kurzzeitigen Republik als „Lordprotektor“ die Herrschaft; gerne bezeichnet man ihn als Diktatoren. Vergessen wird dabei meist, dass der Puritaner Independent war, also „Freikirchler“. Er widerstand einer protestantischen Nationalkirche, und sei sie auch presbyterianisch. Sein Ruf war „Gewissensfreiheit!“. Daher blickt das ihm zugeordnete Relief nach vorne: Vertreter der Parlamentskammern überreichen 1689 Wilhelm von Oranien und seiner Frau Maria die „Declaration of Rights“. Aus dem Dokument ging im selben Jahr die „Bill of Rights“ hervor, die einen Meilenstein auf dem Weg zu modernen Parlamentarismus darstellt. In der Genese der Menschen- und Bürgerrechte spielt die Bill of Rights ebenfalls eine wichtige Rolle.

Schließlich ist Roger Williams zu sehen. Der englische Puritaner war einer der Väter des Baptismus und Vorkämpfer der Trennung von Kirche und Staat. 1654 wurde er zum Präsidenten von Rhode Island in Nordamerika gewählt, setzt sich für Glaubens- und Gewissensfreiheit ein. „Soul Liberty“ ist auch auf dem Buch zu lesen, das die Figur des Monuments in der Hand hält (s.u. Foto). Im Relief wird dargestellt, wie die Pilgerväter der Mayflower 1620 die Kolonie Plymouth in Neuengland gründen. (Zwei weitere Reliefs beziehen sich auf Farel und Knox.)

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Über das ganze Denkmal zieht sich außerdem in sehr großen Lettern die Inschrift POST TENEBRAS LUX („Nach der Dunkelheit Licht“) – seit dem 16. Jahrhundert der Wappenspruch des reformierten Genf und aller Reformierten, die in der protestantischen Reformation eine Rückkehr zum Licht sahen.

Aber nicht nur die konfessionell reformierten Christen schätzen diesen Spruch. Genf selbst führt ihn immer noch in seinem Wappen, obwohl die Stadt inzwischen weitgehend säkular geprägt ist und die Reformierten nur noch 10 Prozent der Bevölkerung des Kantons ausmachen. Das Reformationsdenkmal zeigt recht klar, dass schon um 1900 das „Licht“ eine Prägung gewonnen hat, an die Calvin und Kollegen so sicher kaum gedacht hatten.

Die Idee des Denkmals ist nämlich nicht die Erneuerung des Evangeliums, des Glaubens oder der Kirche; es ist also nicht der konfessionelle Protestantismus und auch nicht die Reformation als solche. Die Idee des Monuments ist die in ganzen Staatswesen verankerte und konkret umgesetzte Religions-, Glaubens- und Gewissensfreiheit. War unter Calvin und Beza Genf theologisches Zentrum und Ausgangspunkt einer breiten Missionsbewegung, so schlägt das Reformationsdenkmal eine andere Brücke: von Genf zur modernen Toleranzidee. Genf als Hort des modernen politischen Freiheitsgedankens.

Diese Idee ist sicher nicht zu verwerfen. Der Calvinismus hat mit dazu beigetragen, dass sich Glaubens- und Gewissensfreiheit nach und nach etablierten. Allerdings war dies ein sehr gewundener Weg, auf dem viel gestolpert wurde; das Genf Calvins und das Schottland des Knox kannten noch keine moderne Religionsfreiheit. Außerdem nahm dieser Weg seinen Ausgang sicher nicht allein in Genf (Basel, wo Sebastian Castellio wirkte, und die Niederlande können hier sicher auch ‘Urheberrechte’ anmelden).

Das Genfer Reformationsdenkmal zeigt uns eine Deutung der Reformation, die als „kulturprotestantisch“ bezeichnet werden kann (diese Deutung nimmt auch der bekannte evangelische Theologe Jan Rohls ganz am Ende dieses Vortrags vor). Der Kulturprotestantismus entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Teil der breiten Strömung des Neuprotestantismus. Der evangelische Glaube sollte aus kirchlichen und dogmatischen Bindungen gelöst und zu einer modernen Bildungsreligion jenseits konfessioneller Beschränkungen umgeformt werden. Man glaubte an die kulturelle Führerschaft und Überlegenheit des Protestantismus. Angestrebt wurde eine Synthese oder Durchdringung der Kultur durch Religion. Durchdringung der Welt mit Freiheit und Toleranz – dies wird konkret im Reformationsdenkmal ausgedrückt.

Dieser freie oder liberale Protestantismus betonte vor allem Bildung und Fortschritt. In der Satzung des Deutschen Protestantenvereins hieß es, eine „Erneuerung der protestantischen Kirche im Geist evangelischer Freiheit und im Einklang mit der ganzen Kulturentwickelung seiner Zeit“ werde angestrebt. Seinen Höhepunkt erreichte der Kulturprotestantismus um 1900; Namen wie Adolph von Harnack und Ernst Troeltsch sind hier für Deutschland zu nennen. Der Kulturprotestantismus strahlte aber auch in andere Länder wie die Schweiz ab, und dass im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts dort solch eine Gedenkstätte geschaffen wurde, ist alles andere als Zufall.

Mit dieser Einordnung in den kulturellen Geist der damaligen Zeit soll das Genfer Monument nicht entwertet werden. Aber wir wissen ja inzwischen nur zu gut, welchen Luther man im 19. Jahrhundert in Deutschland aufleben ließ und in gewissem Sinne schuf – eine kulturelle deutsche Überfigur. Ganz im Sinne des Kulturprotestantismus trat die kirchlich-konfessionelle Dimension weit zurück. Im Calvinismus der Genfer hatte der Kulturprotestantismus nicht diese nationale Ausprägung. Das dortige Denkmal ist tatsächlich erfrischend international. Aber es ist eben fast gar nicht mehr ein Ort, an dem es um eine kirchliche Reformbewegung geht. Das „Licht“ des Evangeliums hat Kulturen verändert, wurde dabei aber auch säkularisiert und ein Stück womöglich sogar entkernt. Beim Betrachten des „internationalen Reformationsdenkmals“ sollte man auch dies beachten.