Die unerwartete Nation

Die unerwartete Nation

Gott „ hat festgelegt, wie lange jedes Volk bestehen und in welchem Gebiet es leben soll.“ (Apg 17,26)

Im Februar 1918 rief der Litauische Landesrat den Staat Litauen aus, erklärte damit die Unabhängigkeit. 2018 wird daher in Litauen ein Anlass für große Feierlichkeiten sein: einhundert Jahre wiederhergestellte Staatlichkeit. Bei dieser Gelegenheit wird natürlich wieder recht stolz auf die lange Geschichte des litauischen Volkes hingewiesen werden. Die Litauer – ein kleines, aber zähe Völkchen, das sich nicht hat unterkriegen lassen und als Nation im 20. Jahrhundert endlich wieder auferstand.

Das nicht auferstehen und als moderne Nation keineswegs entstehen musste – so würde Kęstutis Girnius ergänzen. In seinem Beitrag „Nelaukta tauta“ (etwa: das unerwartete Volk) im katholischen Journal „Naujasis Židinys“ (2017/5) bürstet der bekannte Politologe kräftig gegen den Strich des nationalen Diskurses. Die Litauer können von Glück reden, dass zwischen den Weltkriegen aus den litauischen sprechenden Bauern ein Volk der litauischen Bürger und eigentlich erst eine Nation wurde. Denn im 19. und frühen 20. Jahrhundert lief für sie fast nichts auf das Werden eines litauischen Staates zu.

Anders als Letten und Esten können die Litauer tatsächlich auf ein großes mittelalterliches Reich zurück blicken. 1569 ging man aber eine enge Union mit Polen ein und machtpolitisch und kulturell letztlich in Polen-Litauen auf. Schon während der Reformation war die Sprache der Adeligen und der gesamten Oberschicht Litauens das Polnische. Auch diejenigen, die sich als Litauer bezeichneten wie z.B. der Kopf der Reformierten Litauens um 1600, Andreas Volanus, sprachen polnisch. (Das Polnische war in der reformierten Kirche Litauens bis ins 20. Jahrhundert kirchliche Amtssprache.)

Das Bewusstsein einer Nation als einer kulturellen und politischen Gemeinschaft ist entscheidend von einer gemeinsamen Sprache abhängig, die in Büchern, Zeitungen, Bildungseinrichtungen usw. gepflegt wird. Eine gemeinsame kulturelle Identität wächst vor allem dann, wenn man gemeinsam liest und kommuniziert (man denke an die Bedeutung der Reformation und Luthers Bibelübersetzung für die Bildung des Selbstverständnisses der Deutschen). Vorangetrieben werden diese kulturellen Prozesse natürlich in den Städten eines Landes.

„Es gab jedoch keine litauischen Städte“, so Girnius zur Situation um 1900 auf dem Gebiet des heutigen Litauens. Über eintausend Jahre hinweg bewahrten die Litauer ihre Sprache, aber eben nur auf dem Land. Im russischen Gouvernement Kaunas machten litauischsprachige Bewohner nur 11,5% der städtischen Einwohner aus; im Bezirk Vilnius gar nur 1,8%. In Vilnius selbst sprachen damals nur 2,6% der Bewohner litauisch (Kaunas: 6,6%). In vielen kleineren Städten machten die Litauer um die Jahrhundertwende gerade ein Viertel der Bevölkerung aus. Die Orte mit den meisten Litauern waren 1913 Riga und St. Petersburg!

Die Litauer lebten bis Anfang des 20. Jahrhunderts in der großen Masse in Dörfern; die Städte wurden kulturell dominiert von Polen, Juden, Russen und Deutschen. Anders sah dies z.B. in Estland aus: Um 1900 waren knapp 70% der städtischen Einwohner Esten. Damals schätzte man die Chancen der Esten zur Nationenbildung auch viel höher als die der Litauer ein.

Die litauischsprachige Bevölkerung um 1900 war daher auf einem vergleichsweise niedrigen Bildungsstand. In den litauischen Gouvernements Kaunas, Vilnius und Grodno lebten damals an die 5 Millionen Einwohner, 27.000 von ihnen hatten höhere Bildungsabschlüsse – gerade 2500 davon waren Litauer. Auch unter den Unternehmern mit größeren Industriebetrieben machten die Litauer nur 4% aus. Einzig unter den katholischen Geistlichen gab es einen hohen Anteil von Litauern.

Ein litauische Intelligenzschicht schien so gar nicht recht heranzuwachsen, denn an höheren Schulen wie Gymnasien stellten die Litauer wenige Schüler. 1913 gab es an den sechs Gymnasien in Vilnius bloß acht litauische Abiturienten, in Kaunas im gleichen Jahr neun. Im stärker litauisch geprägten Šiauliai war 1912 nur jeder dritte Gymnasiast Litauer; am Mädchengymnasium der Stadt lernten 390 Schülerinnen, 15 davon Litauerinnen. 1911 gab es in ganz Litauen 29 litauische Abiturienten, 1913 machten 31 Litauer einen Hochschulabschluss.

Unter den litauischen Einwohnern mit Bildung steuerte außerdem viel auf eine weitere Polonisierung hin. Im Zarenreich wurde allgemein die Slawisierung vorangetrieben – wenn auch nicht so konsequent und streng wie die Germanisierung im benachbarten Ostpreußen (unter Masuren und Litauern). In den östlichen Gebieten des Bezirks Vilnius, im heutigen Weißrussland, zog sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die litauische Sprache immer weiter zurück. Auf dem Territorium des heutigen Litauens drang die polnische Sprache weiter vor.

So gut wie nichts deutete also um 1914 darauf hin, dass die Litauer bald die Herren in einem eigenen politischen Gemeinwesen sein werden – und sein könnten, d.h. überhaupt die Fähigkeit zur Nation- und Staatenbildung verfügen. Der Erste Weltkrieg, so Girnius, führte zum Kollaps von Imperien, aber für die Litauer und ihr Volk kam er gerade rechtzeitig. Wenn die kulturelle und sprachliche Entwicklung ihren Trend fortgesetzt hätte, hätten sich die Litauer zuerst im Deutschen Reich und dann auch im Zarenreich weiter dem Druck von oben angepasst, d.h. langfristig wohl die nationale Identität der Herrschaftsvölker angenommen.

1914 konnten die Völker Mitteleuropas von Eigenständigkeit nur träumen. Wer wird uns dominieren – Deutschland oder Russland? Das schien die einzig relevante Frage. Dass diese Imperien beide zu den Verlierern des großen Krieges werden sollten, konnte kaum jemand ahnen. Auf einmal ergab sich dann 1918 ein Machtvakuum, in dem diese aufsteigenden Nationen ihre Chance sahen und ergriffen.

1988–1990 nutzen die baltischen Völker die Schwäche der Sowjetunion, um sich aus der Umklammerung des kommunistischen Imperiums zu lösen. Allen drei Ländern gelang der weitgehend unblutige Austritt aus der UdSSR. Noch viel unwahrscheinlicher, ja das noch viel größere Wunder war die Staatenbildung 1918.

In blutigen Kämpfen bis 1921 gelang es den Litauern sich gegen die Rote Armee und vor allem auch gegen Polen zu behaupten. Letztere beanspruchten wie selbstverständlich ganz Litauen als Teil ihres Großreichs. Noch erstaunlicher war der Aufbau eines funktionierenden Staatswesens in den beiden kommenden Jahrzehnten. Fast aus dem Nichts wurden Verwaltung, Wirtschaft und ein ganzes Gemeinwesen aufgebaut. Ein Volk, das noch zu weiten Teilen aus Analphabeten bestand, wurde innerhalb einer Generation an das Niveau der skandinavischen Staaten herangeführt – was für eine Leistung! Zwischen 1920 und 1940 wurden die Litauer wie aus dem Stand zu einer modernen Nation. An dieser Aufbauleistung konnte dann 1990, nach fast fünf Jahrzehnten Kommunismus, wieder angeknüpft werden.

Völker und Nationen haben kein ewiges Schicksal, sie kommen und gehen, ihre Entwicklung folgt keineswegs historischen Gesetzen. Die Geschichte der litauischen Nation zeigt, dass zufällige Ereignisse entscheidend Einfluss nehmen können. Die litauische Staatengründung 1918 demonstriert aber noch eindrücklicher, zu welchen unerwarteten Leistungen Menschen fähig sind. Den Litauern, dem wenig gebildeten Bauernvolk, gelang innerhalb einer einzigen Generation der Aufbau eines Staates – und das eingekeilt zwischen nicht gerade freundschaftlichen Nachbarn im Osten, Süden und Westen.

Heute ist Litauen in EU und Nato eingebunden, hat so zahlreiche Verbündete wie nie zuvor. Die kulturelle und nationale Identität ist so klar wie selten in der lange Geschichte. Nun droht nicht die Auflösung in Imperien und die sprachliche Assimilierung – die demographische Entwicklung verheißt nichts Gutes: Das litauische Volk schrumpft fast unaufhaltsam vor sich hin. Völker haben keine Ewigkeitsgarantie. Es bleibt daher abzuwarten, auf welche unerwarteten Wege sich Litauen bewegen wird.