Zeit für echte Gerechtigkeit

Zeit für echte Gerechtigkeit

Staatsversagen

Mitte August bestimmten die Unruhen im amerikanischen Charlottesville die Schlagzeilen. Die verunglückte Reaktion des US-Präsidenten auf die Proteste der Ultrarechten und Neonazis brachten diesen auch auf das Titelblatt des „Spiegels“ – unter einer Haube des Ku-Klux-Klans („Das wahre Gesicht des Donald Trump“, 34/2017).

Die bisher vorgesehene Titelgeschichte der Nummer war dagegen gewiss „Made in Germany“: Auf zwanzig Seiten ging es um eine „Geschichte des deutschen Versagens“ (S. 64–83): „Seit elf Jahren wird in Berlin an einem Flughafen gebaut. Er ist noch immer eine Ruine, die täglich eine Million Euro kostet. Hier ist ihre Geschichte. Sie erzählt vom Versagen deutscher Politik, deutscher Industrie – und vom Kollaps deutscher Tugenden.“

Bis heute gibt es keinen offiziellen Terminplan für die Eröffnung des BER-Hauptterminals – fünf Jahre nachdem doch alles angeblich schon einmal fix und fertig war, im Mai 2012. Ein Skandal, der Seinesgleichen sucht. Die ausführlich recherchierte  Story hat es in sich und verschwand leider ganz im Inneren des Heftes.

Die Zusammenfassung spricht auch von einem „Versagen deutscher Industrie“, ja vom Zusammenbruch „deutscher Tugenden“. Im Beitrag heißt es, der Skandal um den Willy Brandt-Flughafen „nährt Zweifel an der nationalen Erzählung vom rationalen Hochtechnologieland.“ Das Scheitern „in diesem unerhörten Ausmaß schlägt Kerben ins Konzept der deutschen Tugenden von Pünktlichkeit bis Pflichtbewusstsein, von Ordnung bis Fleiß“.

Dies führt aber an der eigentlichen Botschaft des Artikels eher vorbei. Dessen Stoßrichtung ist ganz eindeutig. Eingangs wird festgehalten, „dass es vielen, wenn nicht den meisten Verantwortlichen, den Bauherren zumal und den sogenannten Aufsichtsräten, in teils eklatantem Maß an Verantwortungsbewusstsein mangelte. Über einschlägige Sachkenntnis verfügten die meisten Entscheider ohnehin nicht.“

Eine Geschichte des Politikversagens, denn die Industrie darf ausbaden, was die Verantwortlichen in den beiden Ländern und im Bund einbrockt haben. Natürlich werden die deutschen Tugenden beschädigt, muss sich nun das „Made in Germany“ Spott gefallen lassen. Aber das „ernüchternde deutsche Panorama“ zeigt doch vielmehr, wohin der tiefsitzende Glaube an den Staat führt. Berlin, Brandenburg und der Bund – „es ist ihr Flughafen, es ist ein volkseigener Betrieb“, so bissig der „Spiegel“. Und nun haben wir den Salat, der leider zu keinem großen Aufschrei führt.

Das Projekt Privatisierung sprengen

„Made in Germany“ rollt detailliert die ganze Geschichte des neuen Hauptstadtflughafens auf, geht dafür 25 Jahre zurück. Eigentlich geht es bei so einem Projekt ja nicht um Flüge zum Mars – nicht wenige Flughäfen, manche ähnlicher Dimension, werden jedes Jahr gebaut, nun auch gerade in Asien und selbst in Afrika. Nüchtern wird überall auf die wachsenden Verkehrsströme reagiert. In Berlin dagegen träumte man „von den Möglichkeiten, mit dem Kopf in den Wolken“.

Der „Spiegel“ benennt den Allergrößten der Traumtänzer: „Wenn man sich festlegen müsste auf nur einen Schuldigen am Schlamassel, wäre Klaus Wowereit eine naheliegende Wahl. Er spielt bis zum Sommer 2001 keine Rolle, aber danach eine so verheerende, dass sich damit leicht ein eigenes Kapitel füllen ließe. Wowereit tritt auf als ebenso herrischer wie selbstherrlicher Zerstörer.“

Der SPD-Politiker mit den litauischen Vorfahren (in litauischer Schreibweise Voveraitis; von voverė – Eichhörnchen) wurde vor sechzehn Jahren Regierender Bürgermeister in Berlin, führte ab 2002 eine rot-rote Koalition von SPD und PDS an. „Für Leute, die glauben, der Flughafen solle von privaten Investoren gebaut und betrieben werden, ist das keine gute Nachricht. Eine Privatisierung des Flughafenbaus war 1999 unterschrieben worden; ein Konsortium ‘Flughafen-Partner für Berlin und Brandenburg’ hatte den Zuschlag bekommen, der Essener Hochtief-Konzern, die Flughafen Frankfurt AG, die ABB Calor Schaltanlagen und die Berliner Bankgesellschaft würden den neuen Airport planen, bauen und betreiben.“

„Wenn dieses Geschäft von 1999 Bestand gehabt hätte, wäre der Flughafen 2003 fertig gewesen, diese Ansicht teilen viele Experten.“ Doch es geht alles schief. Hochtief z.B. „investiert Millionen im Lauf der Jahre in die Vorarbeiten, sie erstellen schon Zeitpläne für die Organisation der Baustelle, aber es wird am Ende verbranntes Geld sein. Das Ende beginnt, als in Berlin Klaus Wowereit an die Macht kommt.“ Der damalige Hochtief-Chef musste feststellen, „dass dieser neue Regierende Bürgermeister von Anfang an darauf aus ist, das Projekt Privatisierung zu sprengen.“

Beteiligte an den Diskussionen haben in der Rückschau den Eindruck, „dass Wowereit fest daran glaubte, der Berliner Politik- und Verwaltungsbetrieb mit ihm selbst an der Spitze könne den Flughafenbau allein stemmen. Außerdem scheint Wowereit in der Gewissheit zu leben, dass Konzerne an Gewinnmaximierung interessiert sind und an sonst nichts… Am 7. Februar 2003 wird das Ende aller Privatisierungsverhandlungen erklärt mit der Begründung, dass die Investoren dem Staat zu große Risiken aufdrücken wollten. Der Flughafen ist von nun an das Projekt von Berlins Regierendem Bürgermeister Klaus Wowereit, der Airport soll sein Denkmal werden – das schicke Einfallstor ins arme, aber sexy Berlin.“

Konzerne sind an Gewinnmaximierung interessiert, leben also ihre Gier aus; die öffentliche Hand kümmert sich selbstlos um das Gemeinwohl – von dieser schönen  Aufteilung von Gut und Böse profitieren bis heute viele. Vor rund zweihundert Jahren unterschieden die ersten Vordenker des modernen Liberalismus wie Frederic Bastiat zwischen zwei Arten, durch die man zu Wohlstand kommen kann: Produzieren und das Hergestellte mit anderen frei tauschen, handeln usw.; oder die Früchte der Produzenten diesen mit Zwang oder Gewalt abnehmen – illegal durch Raub, Plünderung und Kriege, legal durch den Staat durch Steuern, Abgaben, Verstaatlichungen usw. Allein schon diese Gegenüberstellung zeigt, wo ‘die Guten’ sitzen und wem gegenüber Skepsis angebracht ist.

Karl Marx übernahm diese Grundaufteilung von Produzenten sowie Wegnehmenden und Herrschenden, machte aber das Privateigentum, die private Produktion und den Kapitalismus zu den Grundübeln. Tatsächliche beherrsche das Kapital die Welt, versklave alle – und siehe da, auf einmal wirken die Zwangsmaßnahmen des Staates wie das große Heilmittel. Hauptsache natürlich, die Staatsgewalt ist in den richtigen Händen, in der der Partei der Arbeiterklasse oder anderer Gesalbter…

Der Kommunismus ist gescheitert, aber dieses Narrativ von den bösen Produzenten und dem gutem Staat ist immer noch bei uns, ja durchseucht den gesamten Diskurs. Gier wird immer noch mehr mit Konzernen assoziiert als mit Ministern und Beamten. Als Christ kann man nur sagen, dass Gier natürlich alle Menschen verfolgt und jeder sündhafte Antriebe in sich trägt. Der große Vorteil einer wirklich freien Wirtschaft ist nun jedoch, dass die Strafe auf dem Fuß folgt, wenn du es mit der Gier übertreibst. Der Staatsapparat ist in seiner Gier jedoch kaum zu stoppen.

Null Konsequenzen

Dummerweise versagt Wowereit darin, „das Projekt auf der Schiene zu halten. Er ist der Chef des Aufsichtsrats, als kein Generalunternehmer für die Bauarbeiten gefunden wird. Er ist Chef des Aufsichtsrats, als die Bauorganisation zusammenbricht. Er ist Chef des Aufsichtsrats, als der Eröffnungstermin 2010 platzt, er ist es, als der Termin 2011 platzt, und er ist es immer noch, als die für 2012 geplante Party krachend scheitert.“ Und es wird gelogen wie gedruckt: „Man könnte lange Tabellen erstellen mit den falschen Behauptungen dieses Politikers…“

Natürlich hat es in all den Jahren nicht an warnenden und kompetenten Stimmen gemangelt, doch „Wowereit interessiert derlei Expertise nicht. Er fährt den Kurs: Allein können wir es besser. Und billiger.“ Der „Spiegel“ zitiert einen bis 2014 bei der Flughafengesellschaft arbeitenden Abteilungsleiter: Es herrschte ein Geist, „dass Kritik als etwas Zersetzendes zurückgewiesen wurde. Wer nicht gesagt hat, dass alles toll ist, wurde vor versammelter Mannschaft fertiggemacht. Das ging aus von ganz oben, vom Aufsichtsrat, von Wowereit, der keine schlechten Nachrichten akzeptiert hat. Vor ihm haben die Geschäftsführer gekuscht, und nach unten haben sie getreten.“

Das Ende vom Lied: Nun ist von „Stillstandskosten“ von monatlich 35 Millionen Euro auszugehen. Gegen Schluss der Beitrags fassen die Autoren zusammen: „Viele Ursachen des Scheiterns wurden hier entwickelt, eine Erkenntnis ist nicht widerlegbar: Die Regierenden Bürgermeister von Berlin, die Ministerpräsidenten von Brandenburg und die in Bundes- und Landesregierungen zuständigen Minister und Staatssekretäre waren und sind mit der Aufgabe, in staatlicher Regie einen Flughafen zu bauen, überfordert. Konsequenzen daraus: null… Der deutsche Staat, die Steuerzahler, sie bürgen für dieses wenig geliebte Flughafenprojekt. 6,6 Milliarden Euro, neunmal so viel wie anfangs veranschlagt, sind nach jetzigem Stand insgesamt aufzubringen. Konsequenzen? Keine.“

Nun wäre dies für viele noch ertragbar, wenn man am Ende auf ein schönes Objekt stolz sein könnte wie im Fall der Elbphilharmonie in Hamburg. Aber der BER wird möglicherweise eine Bauruine: „Es ist denkbar, es ist möglich, dass dem Projekt im Jahr 2018 das Geld ausgeht.“ Und was dann?

Gerechtigkeit!

Nun heißt es von vielen nach so einer Story geradezu reflexhaft, dass es Skandale solchen Ausmaßes auch woanders gibt, und nun fallen einem natürlich die Bosse in der deutschen Autoindustrie und bei einer deutschen Bank ein. Die Gier nimmt in der Wirtschaft aber nur da schlimme Ausmaße an, wo die Nähe zum Staat am größten ist, wo sich also die Unternehmen mit dem Staat so verfilzt haben, dass besser von crony capitalism (Vetternwirtschaft) gesprochen wird. Banken und Unternehmen, die der Staat zur Not raushaut, müssen fast schon unweigerlich unmoralisches Verhalten kultivieren, weil harte Konsequenzen nicht zu befürchten sind.

In einer wirklich freien Wirtschaft haben massive Fehlgriffe auch herbe Folgen für die Unternehmen, ihre Spitzen, Besitzer und Aktionäre. Eine freie Wirtschaft ist sanktionsstark, d.h. schlechte Produkte werden zügig bestraft, in dem sie vom Markt verschwinden oder angepasst werden. Und die Verantwortlichen werden mit Sanktionen bestraft! Jedem Besitzer einer Eisdiele ist dies klar: Läuft der Laden nicht, trägst du die Konsequenzen und bist du bald weg von Fenster.

Das Vertrauen in den Staat und die Erwartungen an ihn sind in den letzten einhundertfünfzig  Jahren gewaltig gewachsen. In Bereichen wie Verkehr, Gesundheit, Bildung, Forschung usw. hat eine ungeheure Ausweitung der Verantwortlichkeit von staatlichen Einrichtungen stattgefunden. Die alte Skepsis gegenüber den Staatsorganen, die immerhin auf das Gewaltmonopol des Staates zurückgreifen und ihre Eingriffe in die Freiheiten der Bürger immer durch entsprechende Gesetz legalisieren können, diese uralte Skepsis gegen zu viel Macht von Oben ist weitgehend verflogen. Fordert man heute ein echtes Zurückfahren von staatlichen Aktivitäten, eine tatsächliche Einschränkung, ja Kappung, würde den Allermeisten als Entgegnung „du böser Neoliberaler!“ reichen. Wer diskutiert denn heute überhaupt noch das Ausmaß der staatlichen Aktivitäten?

Der Staat ist äußert engagiert, und dennoch empfinden etwa Dreiviertel der Bürger, dass es in den Bereichen Steuern, Mieten und Wohnung, Rente und Entlohnung von Frauen ungerecht zugeht. Wie kommt das eigentlich? Die Ungerechtigkeiten rufen nach weiteren Maßnahmen der öffentlichen Hand, und so dreht sich Interventionsspirale weiter. Wer einmal zum Glauben gefunden hat, dass der Staat alle Probleme lösen und überall Ordnung schaffen muss, der wird auch bei diesen komplexen Gemengelagen weiterhin dem Staat vertrauen – wenn auch zähneknirschend.

Derweil gerät aus dem Blick, was im Fall des BER und natürlich auch anderswo passiert: Der Staat nimmt den Bürgern in Milliardenhöhe verdientes Geld weg und setzt es in den Sand, hier den märkischen. Und keiner wird zur Rechenschaft gezogen. Sollte bei noch vernünftig denkenden Leuten da nicht etwas läuten? Ist das etwa gerecht?

Die SPD macht nun im Wahlkampf Werbung mit dem Ruf nach Gerechtigkeit. Wer wollte da nicht den Chor miteinstimmen. Wenn es denn um die echte Gerechtigkeit ginge! Aber die ist ja schon eine ganze Weile vor die Hunde gekommen. Und sehr viele Christen sind auch noch in die Falle des Staates gelaufen und haben die Gerechtigkeit mit Solidarität, Bekämpfung von Elend, Armut usw. vermischt. Da kommt dann der Staat triumphierend lächelnd daher und verkündigt auch diesen: Genau dafür setzte ich mich ein und das bekämpfe ich; seht her, was ich nicht alles Gutes hier und in der Welt tun will; gebt mir nur noch bereitwilliger euer Geld, und möglichst viel davon…

Das Scheitern des Berliner Flughafens in diesem unerhörten Ausmaß schlägt Kerben ins Konzept der Gerechtigkeit, weniger der beschworenen deutschen Tugenden. Ab dem 16. Jahrhundert haben sich als erste Denker der Reformation dafür eingesetzt, dass Gleichheit vor dem Recht wieder zur Geltung kommt – gleiche Strafen für gleiche Vergehen. Ein biblischer Grundsatz, der erst wieder in der Neuzeit zu seiner Geltung kam. Erst kommt das Recht, das zuoberst steht, dann das Handeln der Regierung. Diese hat Leben, Freiheit und Eigentum zu schützen, Regeln für die freiwillige Kooperation der Bürger aufzustellen – und keine Flughäfen zu bauen.

Die liberale Vision der Gesellschaft ist eine der Freiheit und des Rechts. Sie ist von seinem Wesen her eine begrenzte Vision, die nämlich niemandem zu viel verspricht. Ausgerechnet die Christen, die doch skeptisch gegenüber jeder Machtausweitung von sündigen Menschen sein sollten, haben sich nun einer unbegrenzten Vision der Gerechtigkeit verschrieben – auf einmal ist Gerechtigkeit erst dann erreicht, wenn die Übel der Welt ausgemerzt sind. Da wird dann der allmächtige Staat gerne als Helfer akzeptiert.

Gleiche Gesetze für alle – es ist doch eigentlich ganz einfach. Doch dies reicht uns Menschen nicht mehr. Der Staat soll gefälligst Probleme lösen, Gutes schaffen und Wohlstand gerecht verteilen. Wie viele BER müssen wir noch ertragen, bis über eine wirklich freiheitliche und gerechte Vision ernsthaft nachgedacht wird? Aber nein, die „gefügigen Sklaven des Wohlfahrtsstaates“, so einst C.S. Lewis scharf, werden weiter ihr artig gelerntes Mantra wiederholen, dass ein möglichst mächtiger Staat unbedingt nötig ist, um die bösen Kapitalisten in Schach zu halten, sonst… Und wer hält die Wowereits in Schach?