Rin in die Ehe, raus aus der Ehe
Deutschland diskutiert in diesen Tagen über die „Ehe für alle“, die Ende vergangener Woche im Bundestag beschlossen wurde. Zahlreiche neue Eheschließungen neuen Typus werden erwartet. In Litauen wie in den meisten Ländern Zentral- und Osteuropas (mit den Ausnahmen Estland, Tschechien, Ungarn, Slowenien und Kroatien) wird die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare noch lange auf sich warten lassen.
Gerade in Litauen ist in den letzten Jahren die ‘klassische’ Ehe von Mann und Frau auf dem Vormarsch. Die Zahl der Eheschließungen pro Jahr auf eintausend Einwohner („crude marriage rate“ oder Bruttoeheschließungszahl) stieg 2015 auf 7,6. Der baltische Staat ist damit Spitzenreiter in der EU! Dicht auf folgen Lettland, Malta und Zypern. Außerhalb der EU ist in Europa übrigens Albanien das Land mit dem im Vergleich meisten Eheschließungen. (Hier mehr.)
Die Einwohner von Belgien und Frankreich, Spanien und Portugal sowie Slowenien sind dagegen eher Heiratsmuffel. Schweden, Estland, Österreich, Griechenland und die Slowakei – wie auch Deutschland – liegen im Mittelfeld.
Jahrzehntelang wurden in Litauen eifrig Ehen geschlossen. In der Sowjetunion, zwischen 1960 und1990, lag die Zahl lange bei 10 auf eintausend Einwohner. Dann kam jedoch der Einbruch durch das Durcheinander der ersten Unabhängigkeitsjahre auf nur noch 4,8 zur Jahrtausendwende. Mit der politischen Stabilisierung und neuem Wohlstand stieg auch die Popularität der Ehe wieder.
Allerdings dauert die Ehe in Litauen im Schnitt nur etwa 13 Jahre. Man tritt recht schnell vor den Traualter oder den Standesbeamten, reicht aber auch relativ bald wieder die Scheidung ein. Mit 3,2 Scheidungen im Jahr auf eintausend Einwohner nimmt Litauen auch bei den Scheidungen den statistischen Spitzenplatz ein – auch wenn diese Wert seit 2012 leicht und seit 2000 sogar deutlicher fällt. Etwa 22.000 Eheschließungen im Jahr stehen in Litauen nun fast 10.000 Scheidungen gegenüber (2015 43 Scheidungen auf 100 Ehen). Auch hier folgt das benachbarte Lettland.
Andere katholisch geprägte Länder weisen hier deutlich niedrigere Werte auf (Irland, Italien, Kroatien und Malta, wo Scheidungen noch bis 2011 verboten waren). Auch auf dem Balkan wie in Bosnien, Montenegro, Serbien oder Mazedonien liegt die Zahl unter dem europäischen Schnitt.
Noch höher als in Litauen ist die Bruttoscheidungszahl in Russland und Weißrussland. Und die statistische Wahrscheinlichkeit einer Scheidung in einer Ehe ist in Spanien, Portugal, Belgien, Ungarn und Tschechien am höchsten.
Das widersprüchlich erscheinende Bild in Litauen ist wohl durch die gegensätzlichen Prägungen des Landes zu erklären. Die in ihren Wurzeln katholische und ländliche Kultur lässt die Ehe immer noch sehr vielen als die bedeutendste Form des Zusammenlebens erscheinen. Die Kohabitation (Zusammenleben ohne Trauschein) ist auf dem Vormarsch, aber viele dieser Paare heiraten später dann doch noch. Die hohe Scheidungszahl ist wohl auf die jahrzehntelange Gewöhnung in der UdSSR zurückzuführen. Deren geerbte gesetzliche Praxis der recht einfachen und schnellen Scheidung lässt viele bei Krisen diesen Ausweg nehmen.
Die Kirchen Litauens entdecken die Herausforderung und Chance der Vorbereitung von Paaren auf die Eheschließung und die Eheseelsorge nur langsam. Die katholische Kirche verlangt inzwischen vor der Trauung die Absolvierung eines Grundkurses. In ihren Reihen gibt es auch den einen und anderen Experten auf dem Gebiet. Auf Seiten der evangelischen Kirchen herrscht hier großer Nachholbedarf. Die reformierte Kirche hat zumindest vor vier Jahren ihre Ehe- und Scheidungsgrundsätze formuliert. Darauf lässt sich aufbauen. Doch noch gibt es viel zu tun.
(Foto o.: Trauung in der Auferstehungskirche in Kaunas; Henrikas Kudirka, kudirka.lt)