Von „Germania“ bis „Litavia“
St. Pierre-le-Jeune in Straßburg ist eine der ältesten und schönsten protestantischen Kirchen Frankreichs. Der gotische Bau (evangelisch seit 1524) beeindruckt mit Glasfenstern, einer Silbermann-Orgel und Fresken aus der Renaissance. Das vielleicht bekannteste stellt eine lange Reihe der europäischen Völker dar, symbolisiert durch gekrönte Häupter zu Pferd.
„Germania“ führt den Zug an, es folgen „Galia“ (Frankreich), „Italia“ und „Anglia“. Den Abschluß des „Zuges zum Kreuz“ bilden „Hungaria“ (Ungarn), „Polonia“ (Polen) und schließlich – zu Fuß – „Oriens“ (der orthodoxe Osten, die heutige Ukraine) und „Litavia“ (Litauen). Tatsächlich waren die Litauer die damals Letzten in einer langen Reihe – die letzten Heiden Europas. 1386 hatte Jogaila, Großfürst Litauens, das Christentum angenommen, heiratete die polnische Königin Jadwiga und begann im folgenden Jahr – also vor 630 Jahren – die Christianisierung seiner Heimat.
Natürlich geschah die Taufe der Untertanen von Oben, wurde also mit mehr oder weniger Zwang durchgesetzt. Bis zur Reformationszeit konnte das Heidentum im Volk jedoch nicht wirklich verdrängt werden. Aber so blieb den Litauern zumindest das Schicksal der Prussen erspart. Diese waren Heiden geblieben, gingen aber mit Sprache und Kultur unter. 1389 anerkannte Papst Urban VI Litauen als christlichen Staat. Polen-Litauen unter den Jagiellonen (Dynastie des Jogaila, poln. Jagiello) wurde für mehrere Jahrhunderte zur Großmacht.
Es wird vermutet, dass das Fresko zur Zeit der Hussitenkriege 1419–1436 entstand. Denn unter den Völkern bzw. Reichen finden so gut wie alle Erwähnung (auch Schottland, Friesland/die Niederlande und Sizilien), das Königreich Böhmen fehlt jedoch. Die tschechischen Hussiten hatten sich nämlich durch ihren Aufstand aus damaliger Sicht gleichsam aus dem Reigen der christlichen Völker selbst ausgeschlossen und wurden daher auf dem Fresko einfach ignoriert.