Dank für Seine Wohltaten
„Von der Dankbarkeit“
Die Protestanten mussten sich schon früh gegen den Vorwurf der römisch-katholischen Kirche erwehren, sie würden den Glauben zu stark in den Mittelpunkt rücken; die guten Taten dagegen vernachlässigen sie. Alle Reformatoren konterten mit einer klaren Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Heiligung. Johannes Calvin in seinem Antwortschreiben an Kardinal Sadoleto aus dem Jahr 1539: „Den guten Werken sprechen wir bei einem Menschen vor seiner Rechtfertigung jegliche Bedeutung ab; im Leben der Gerechtfertigten geben wir ihnen die beherrschende Stellung.“
Unsere guten Werke sind keine Verdienste vor Gott. Wir sollen sie nicht tun, damit wir etwas von ihm bekommen. Vielmehr gilt: Weil wir von ihm errettet sind, sind wir aufgerufen, Jesus immer ähnlicher zu werden, in der Heiligung zu wachsen, Gutes zu tun usw.
Als Hauptmotivation für die guten Werke wird schon früh bei den Reformatoren die Dankbarkeit herausgehoben. Johannes Brenz, der lutherische Reformator Württembergs, in seinem Katechismus (1535): „Warum wollen wir gute Werke tun? Nicht darum, daß wir mit unserm Tun die Sünde büßen und ewiges Leben verdienen,… sondern darum, daß wir den Glauben mit guten Werken bezeugen und unserm Herrn Gott für sein Guttaten dankbar sein sollen.“
Ähnlich im Zweiten Helvetischen Bekenntnis von Heinrich Bullinger (1566): Die guten Werke „sollen jedoch nicht getan werden mit der Absicht, damit das ewige Leben verdienen zu wollen…, auch nicht, damit wir von den Leuten gesehen werden, … noch aus Gewinnsucht, … sondern zur Ehre Gottes, zur Zierde unserer Berufung, und um Gott unsere Dankbarkeit zu beweisen und zum Nutzen unseres Nächsten.“ (XVI,6) Auch das Westminster-Bekenntnis (1647) betont: Durch die guten Werke „zeigen die Gläubigen ihre Dankbarkeit“ (16,2).
Schließlich betont auch der Heidelberger Katechismus (1563), dass Christen gute Werke als „Frucht der Dankbarkeit“ (Fr. 64) hervorbringen. „Wir sollen gute Werke tun, weil Christus, nachdem er uns mit seinem Blut erkauft hat, uns auch durch seinen Heiligen Geist erneuert zu seinem Ebenbild, damit wir mit unserem ganzen Leben uns dankbar gegen Gott für seine Wohltaten erweisen…“ (Fr. 86) Hauptautor Zacharias Ursinus hat diesem noch mehr Nachdruck gegeben, indem er den gesamten dritten Teil des Katechismus „über das christliche Leben“ mit einer geradezu genialen Überschrift versah: „Von der Dankbarkeit“.
In diesem Teil behandelt er die Gebote und das Gebet, die Antwort der Christen auf das Erlösungshandeln (erläutert in Teil 2). All dies habe unter dem großen Vorzeichen „Dankbarkeit“ zu geschehen. Aller Werkgerechtigkeit und Gesetzlichkeit wird so ein Riegel vorgeschoben; und die gesamte Ethik und Jüngerschaft wird unter ein positives Vorzeichen gestellt – pädagogisch geht‘s kaum besser. Allein wegen dieser eingängigen Dreiteilung (Elend–Erlösung–Dankbarkeit) ist der Heidelberger ein theologisches Meisterwerk.
„Aus seiner väterlichen Hand“
In den protestantischen Bekenntnisschriften steht meist das Erlösungshandeln Gottes im Mittelpunkt, folglich auch die Dankbarkeit für die zahlreichen geistlichen Segnungen, die uns durch Christus aus der Gnade Gottes zukommen. Neben dieser rettenden, „speziellen“ Gnade gibt es die „allgemeine“ Gnade Gottes, von der auch die Nichtgläubigen Nutzen haben und für die jeder Mensch dankbar sein soll. Der Gott des Evangeliums zeigt sich nicht nur in der Erlösung als gnädig, sondern auch in der Erhaltung und Lenkung der Schöpfung.
Sehr schön wird dies in Luthers Auslegung von „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer Himmels und der Erden“ in seinem Kleinen Katechismus deutlich:
„Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit aller Notdurft und Nahrung dieses Leibes und Lebens (mich) reichlich und täglich versorget, wider alle Fährlichkeit beschirmet und vor allem Übel behütet und bewahret; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohne all mein Verdienst und Würdigkeit: des alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gewißlich wahr.“
Auch der Heidelberger Katechismus erläutert zum ersten Artikel des Apostolischen Bekenntnisses über den Schöpfer: Gott hat die Erde „aus nichts erschaffen und erhält und regiert sie noch immer durch seinen ewigen Rat und seine Vorsehung“ und zwar so, „dass er mich mit allem versorgt, was ich für Leib und Seele nötig habe“ (Fr. 26). Die Schöpfung ruht nicht in sich selbst, sondern wird von einem mächtigen und guten Gott unverdient erhalten. Dies ist genauso Grund für Dankbarkeit wie das Erlösungshandeln.
In Fr. 27 führt Ursinus dann zur Vorsehung Gottes aus, dass diese die „allmächtige und gegenwärtige Kraft Gottes“ ist, mit der er die Schöpfung regiert und lenkt, so dass „Laub und Gras, Regen und Dürre, fruchtbare und unfruchtbare Jahre… Gesundheit und Krankheit, Reichtum und Armut… uns nicht durch Zufall, sondern aus seiner väterlichen Hand zukommt.“
„Thank God for the Bourgeois Deal“
Welches sind nun die Güter, mit denen wir täglich versorgt werden? Was kommt uns denn heute aus seiner väterlichen Hand zu? Wofür sollen wir nun, im 21. Jahrhundert, dankbar sein?
Wir haben nun viel mehr, als „Kleider und Schuh, Essen und Trinken“, viel mehr, als wir zum bloßen Überleben nötig haben. Gründe zum konkreten Danken in dieser irdischen Hinsicht gibt es genug, aber kirchliche Quellen leiten uns kaum dazu an.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Es gibt in den christlichen Gesangbüchern gute Danklieder, die auch den Dank für die Schöpfergaben thematisieren. „Alle gute Gabe“ von Matthias Claudius (EG 508) sei hier genannt, das im Refrain wiederholt fordert „drum dankt ihm, dankt“. Ein weiterer Klassiker ist Paul Gerhardts „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ (EG 503) – ein großes Lob der Natur. Gott lässt „uns so lieblich gehn / auf dieser armen Erden“. Diese Linie führt bis zu Martin Gotthard Schneiders (er verstarb Anfang diesen Monats) „Danke“ aus dem Jahr 1961 (EG 334): „Danke für diesen guten Morgen, danke für jeden neuen Tag“. Das populäre Lied, mit dem auch ich aufgewachsen bin, nennt in Strophe drei die „Arbeitsstelle“ – Gott sei Dank.
Allgemein kann jedoch behauptet werden, dass die kirchliche Dankkultur gleichsam um Jahrhunderte hinterher hinkt. Nicht zuletzt beim Erntedankfest wird dies deutlich. Natürlich ist nichts, aber auch gar nichts gegen das Danken für gute Ernten zu sagen. Es ist schließlich die Landwirtschaft, durch die Gott die Menschen auf diesem Planeten ernährt (mein Großvater mütterlicherseits war Bauer, meine Schwiegereltern arbeiteten bis zum Ende ihres Lebens auf dem Acker und im Stall). Allerdings sind landwirtschaftliche Güter heutzutage nur ein kleiner Bruchteil der Waren, die wir tagein, tagaus Jahr produzieren; außerdem arbeiten in diesem Sektor nicht mehr 80% der Bevölkerung wie noch vor Jahrhunderten, sondern nur noch 2%.
Kürbis, Kohlköpfe und Kartoffelsack machen sich als Deko gut am Altar. Aber unsere Lebenswirklichkeit spiegeln sie nur begrenzt wieder. Was spricht eigentlich dagegen, das Erntedankfest zu einem Dankfest zu erweitern? Warum nicht auch eine Mikrowelle und einen Laptop, eine Großpackung Pampers und Waschpulver (stellvertretend für die Waschmaschine, die Unzähligen Frauen vor allem das Leben erleichtert), einen Reifen und eine Autobatterie (für unsere Mobilität, den elektrischen Strom und die Kunststoffe, die unser Leben radikal verbessert haben) oder was auch immer aus unserem reichen Alltagsleben dort aufzustellen?
Was würden die Reformatoren aus dem 16. Jahrhundert und Dichter wie Gerhardt und Claudius aus dem 17. bzw. 18. Jahrhundert heute sagen? Bis um etwa 1800 lebte die Masse der Weltbevölkerung, auch in Europa, im Elend. Dürre, Missernten, Seuchen und Hunger waren fast schon alltägliche Bedrohungen. Warum ist dies keine existentielle Sorge mehr? Wenn die Väter im Glauben damals Grund zum Dank fanden, müssten wir es heute nicht umso mehr?
Das größte säkulare Ereignis der Weltgeschichte sind nicht die vielen Kriege und Revolutionen. Es ist in den Worten von Deidre McCloskey „the Great Enrichment“, der große Wohlstandszuwachs in den letzten zweihundert Jahren. Wir produzieren und konsumieren nun siebzig Mal mehr Waren und Dienstleistungen als um 1800. Der Planet ernährt sechs Mal so viele Menschen wie damals, die durchschnittliche Lebensdauer hat sich weltweit mehr als verdoppelt, die realen Einkommen sind um das Neunfache gestiegen. In den OECD-Ländern hat das reale Pro-Kopf-Einkommen sogar um den Faktor 30 zugenommen, also nicht um 30% – es ist 30 Mal höher als noch einige Generationen zuvor.
Der materielle Lebensstandard hat sich allein im vergangenen Jahrhundert zumindest in den Industrieländern um das Zehn- bis Zwanzigfache (so C. Christian von Weizsäcker) erhöht. Und auch in den früher Entwicklungsländern genannten Staaten ist der Fortschritt mitunter gewaltig. Den größten Sprung hat wohl das einst bettelarme und von Kriegen geplagte Südkorea gemacht. Auch andere asiatische Länder mit schwerem Erbe wie Vietnam machen große Fortschritte. Heute leben die meisten Mexikaner und Brasilianer auf einem ähnlichen Wohlstandsniveau wie die Briten vor sechzig Jahren. Fast allen geht es besser, nicht wenigen geht es viel besser als in den 50er Jahren, und nur sechs Ländern geht es tatsächlich schlechter als damals: Haiti und Afghanistan sowie in Afrika die von Bürgerkriegen ausgelaugten Sierra Leone, Liberia, DR Kongo und Somalia.
Der große Wohlstandszuwachs muss erklärt werden, und McCloskey hat dies in den drei Bänden ihrer „Bourgeois Era“-Reihe (2006–2016) umfassend getan. Im abschließenden Bourgeois Equality – How Ideas, Not Capital Or Institutions, Enriched the World ruft sie, die sich selbst als gläubige episkopale (anglikanische) Christin bezeichnet, zum Dank an Gott für den „Bourgeois Deal“ auf. Dieser setzte sich zuerst in den Niederlanden und Großbritannien durch und lässt sich so umschreiben: Lasst uns, die Bürger und Unternehmer, in Freiheit erfinden und produzieren und handeln, und am Ende wird Wohlstand für alle das Ergebnis sein.
McCloskey betont ausdrücklich, dass das „thank God“ kein reines Ornament ist; sie meint dies tatsächlich so. Ein Geist der Dankbarkeit, so die Professorin aus Chicago, durchzieht bewußt ihre Buchreihe. Sie setzt sich als Christin auch kritisch mit Mutter Teresas Sicht der Dinge auseinander. Wirtschaftswachstum war für diese unbedeutend, ja wurde verachtet. Gott will jedoch, so McCloskey, dass es uns im Diesseits wie im Jenseits gut geht; wir sollen für alle seine Gnadengaben dankbar sein und daher genau hinsehen, was tatsächlich zum Wohlstand auf dieser Erde beiträgt: „Gott sei Dank herrschen der Wettbewerb, die Kooperation und das Preissystem…“
Viele Christen sträuben sich gegen solche Formulierungen. Doch die Berufspessimisten müssen nur ihre Augen aufmachen und sich mit den Fakten auseinandersetzen. Hier helfen z.B. die Grafiken (s. auch ganz o.) und Videos von Hans Rosling und seiner „Gapminder“-Stiftung. Rosling, der große Optimist, verstarb leider vor einigen Wochen (mehr zu ihm hier und hier). Er inspirierte übrigens den „Spiegel“ zu dessen wöchentlicher „Früher war alles schlechter“-Kolumne.
Rosling war selbst Mediziner und konzentrierte sich auf das Bevölkerungswachstum. Auch wenn wir vom der Wirtschaft im engeren Sinne auf den großen Bereich der Gesundheit blicken, ist der Fortschritt beeindruckend. Die Kindersterblichkeit ist radikal zurückgegangen, die Lebensdauer hat sich fast überall deutlich erhöht, der Impfschutz ist auch in den ärmeren Ländern inzwischen schon überraschend gut. Immer neue Medikamente und Therapien nehmen den einstigen Geiseln der Menschheit ihren Schrecken. Noch vor ein paar Generationen starben Millionen an heute banalen Infektionen, Seuchen und Epidemien rissen Unzähligen in den Tod. Nun steht sogar schon ein Impfstoff für Ebola zur Verfügung, und womöglich kann auch bald die Malaria besiegt werden.
Schließlich könnte auch noch der Bereich der Kriminalität untersucht werden. In Zeiten des irgendwie allgegenwärtigen Terrorismus ein wichtiges Thema. Doch auch hier gilt, dass unsere Welt – allen erschreckenden Nachrichten zum Trotz – viel sicherer geworden ist, und auch hier sind im historischen Vergleich Faktoren im Dezimalbereich zu gebrauchen (die Wahrscheinlichkeit, eines gewaltsamen Todes zu sterben, war im Mittelalter oder in den frühen Neuzeit noch um das Zigfache höher).
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Industrie und Innovation, Marktwirtschaft und Globalisierung (und McCloskey buddelt noch tiefer: Ideen, Ethik und Rhetorik) – all diesen Faktoren haben wir „the Great Enrichment“ zu verdanken. Hier sei abschließend nur noch Thomas Straubhaar aus Hamburg, sicher nicht irgendwelcher neoliberalen Umtriebe verdächtig, aus dem „Spiegel“ zitiert: „Erst einmal hat es die Globalisierung geschafft, dass es heute so vielen Menschen so gut geht wie nie zuvor. Noch nie haben so viele so gut und so lange und so gesund gelebt wie heute, und das erleben praktisch alle Gesellschaften.“ (7/2017)
„Die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer“
Christen sind zum Dank auch für die allgemeine Gnade Gottes und seine Güte der Vorsehung aufgerufen. In historischer Perspektive gibt es hier sehr viel, wofür wir konkret sehr dankbar sein können. Doch „the Great Enrichment“, die – um es noch einmal zu erwähnen – sicher wichtigste säkulare Tatsache (im Sinne von außerhalb der Heilsgeschichte Gottes) der letzten Jahrtausende, wird in den Kirchen fast komplett ignoriert. Oder sogar gescholten.
Alle möglichen sozialen Mißstände werden in unseren Gemeinden thematisiert; es gibt Gottesdienste, die sich der Armut, Sklaverei und Christenverfolgung widmen. Dagegen ist nichts zu sagen, schließlich gibt es noch genug Übel in der Welt. Aber warum nicht auch einen Dankgottesdienst für die Globalisierung? Oder die Industrialisierung? Allein für die Äußerung solch einer Idee würde man jedoch in den meisten frommen Kreisen geteert und gefedert werden.
Die politischen und kirchlichen Eliten haben sich angewöhnt, unsere Zeit und die aus Gottes Gnade geschenkten Errungenschaften über die letzten zweihundert Jahre hinweg schlechtzureden. Anstatt zu danken wird miesgemacht. Über das große „Ja“ wird immer gleich hinweg zum kleinen „aber“ gesprungen.
Mit schöner Regelmäßigkeit kritisiert der Weltkirchenrat „die Herrschaft des globalen freien Marktes“ scharf; ein Dokument der letzten Jahre erwähnt ein „globales vom Mammon bestimmtes System“, ja es ist vom „Götzendienst in der freien Marktwirtschaft“ die Rede. Leider heißt es auch in der evangelikalen „Micha-Erklärung“, es sei „vielleicht die wichtigste [!] soziale Aufgabe der Kirche“ „überzeugende Alternativen“ für die aus dem Gleichgewicht geratene „ökonomische Weltordnung“ zu finden. „Obwohl Globalisierung dazu beiträgt, offenere Gesellschaften zu schaffen, bewirkt sie aufs Ganze gesehen eine massive Benachteiligung der Armen.“
Nein, das tut sie „aufs Ganze“ eben nicht. Wer so blind für die Tatsachen ist, braucht offensichtlich einen Sehendmacher. Den können auch die Autoren von Der Preis des Geldes, T. Giudici und W. Simson, gebrauchen. Sie meinen tatsächlich, in den „real existierenden Märkten“ sei „nichts [!] zu sehen von einer Realisierung der Versprechen von Wohlstand und Glück. Im Gegenteil.“ Es stimme nicht, „dass dadurch der Wohlstand aller wächst. Eine Erkenntnis, die durch die Einkommens- und Vermögensstatistiken laufend bestätigt wird: Die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer, und neuerdings verarmt auch der Mittelstand immer mehr.“
Die ständige Wiederholung macht diesen Unsinn nicht wahrer. Der Hinweis auf Statistiken ist pure Augenwischerei und in diesen kategorischen Worten schlicht gelogen: Wo, bitte schön, werden die Armen landesweit tatsächlich ärmer? (Ja, im Venezuela dieser Tage. Dort jedoch wegen einer Abwesenheit und der Unterdrückung von real existierenden Märkten. Ähnliches gilt für ein paar andere sozialistische Experimentierfelder wie Simbabwe.) Was rechtfertigt solch eine pauschale Ausdrucksweise?
Der Tenor ist leider immer der gleiche. Angeblich müsse, so auch evangelikale ‘Experten’, der Kapitalismus überwunden werden. Über seine Reform muss gestritten werden, doch vor einer wirklichen Überwindung bewahre uns Gott! Und ein professioneller Armutsbekämpfer unter den Christen verbreitet auch lieber Pessimismus: „80% der Weltbevölkerung [geht es] teilweise absolut schlecht“. Nein. 80% der Weltbevölkerung geht es schon recht gut. Die Folge all dieser einseitigen Akzente: Selbst im reichen Deutschland sind fast 80% (!) mit dem Wirtschaftssystem nicht zufrieden. Kein Wunder, dass kaum einer für das ach so verkommene System und seine Früchte danken will.
Dennoch bestreitet komischerweise kaum jemand, dass wir ein nie gesehenes hohes Wohlstandsniveau erreicht haben. Nur wird uns das meist als ein grundlegendes Problem verkauft. Warum eigentlich? Systematisch reden uns auch Christen ein schlechtes Gewissen ein. Anstatt uns zur Dankbarkeit anzuhalten. Wohl kaum etwas vergiftet hier so sehr wie der Denkfehler des „Nullsummenspiels“: „Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“ Die Armen sind arm, weil die Reichen reich sind; weil wir im reichen Norden uns im Wohlstand suhlen und diesen überbordenden Lebensstil haben, geht es anderen dreckig. Diese Denke ist wohl kaum auszurotten, aber dennoch schlicht falsch. Hier ist ein gewaltiger „Bildungsschub“ (wie S. Zimmer sagen würde) auch unter Christen nötig. Ansetzen sollte man wohl schon in der theologischen Ausbildung, wo Grundsätze einer Wirtschaftsethik gelegt werden müssen; denn es ist zu befürchten, dass die Kenntnis von Grundsätzen der Ökonomie gerade unter den Theologen und Pastoren dramatische Tiefststände erreicht hat. Leider helfen hier christliche Werke und Initiativen oft auch nicht weiter, da sie hoch auf dem moralischen Ross sitzen und offensichtlich überhaupt nicht daran denken, etwas Ordentliches aus anderen Perspektiven als den gewohnten dazuzulernen (man denke an die Verantwortlichen der „Micha-Initiative“).
All dies ist aber nicht nur eine Bildungsfrage. Im Kern geht es auch um ernste geistliche Dinge. Gott wird uns dereinst sicher fragen, wie wir reiche Christen mit unserem Reichtum umgegangen sind. Haben wir genug abgegeben? Haben wir die Not des Nächsten gesehen? Haben wir auf die Schreie der Armen gehört? Er wird uns aber auch fragen, ob wir dankbar für all das Gute, ja die fast schon unermesslich große Menge des Guten waren, mit der Er uns beschenkt hat. Haben wir für die Not der Armen und Entrechteten im Gebet und Gottesdienst Fürbitte getan? Aber das Gebet ist auch die „wichtigste Gestalt der Dankbarkeit“ (Heidelberger Katechismus, 116). Haben wir Ihm für die irdischen Wohltaten aus seiner Hand in gleicher Intensität entsprechend großen Dank dargebracht?