Abgedriftet

Abgedriftet

Im vergangenen Herbst erschien Torsten Hebels Freischwimmer. Der Schauspieler, Kabarettist, Theologe sowie Gründer und Leiter der blu:boks in Berlin beschreibt darin seine Glaubenszweifel, findet schließlich aber zu einem neu entdeckten Glauben. Die  Geschichte des ehemaligen Evangelisten spricht viele an. Offensichtlich ist das Buch in eine Marktlücke gestoßen, denn es verkauft sich nach Angaben des Autors vortrefflich. Zu guten Umsätzen trägt sicher auch bei, dass SCM-Verlag und Hebel jede Möglichkeit nutzen, um das Buch einem breiten Publikum bekannt zu machen. Hier ein abschließender Beitrag zu den öffentlichen Äußerungen Hebels in den letzten Monaten.

Das Göttliche im Menschen

Am 22.06. stellte sich Hebel den Fragen der Moderatorin in der ERF-Radiosendereihe „Calando – Kultur & Charaktere“. Es ging in der langen Sendung um Biographisches, Hebels Arbeit in Berlin und natürlich um die Themen aus Freischwimmer. Nach einem „Gottesmoment“ in der Art einer „Eruption“ im Frühjahr 2015 glaubt Hebel inzwischen wieder. Er sei zwar kein klassischer Evangelist mehr, aber immer noch „werbend für Gott unterwegs“.

Es gehe beim Glauben aber „nicht darum, was ich für wahr halte oder nicht für wahr halte“; nicht darum, welche Dogmen man aufstellt und wie man Menschen aufteilt: „wer das glaubt, der gehört dazu“, und wer nicht, der eben nicht. „Es geht bei Spiritualität, bei einer Beziehung mit Gott, um gelebte Liebe, und darum, dass ich mich selbst in Gott finde und Gott in mir finde.“

Wir brauchen, so Hebel, das richtige Glaubens-, Gottes- und Menschenbild. Er betont, dass den Menschen ihre „angeborene Würde“, ihr Wert, zugesprochen werden muss. „Den Menschen in die Position zu rücken, das zu erkennen“ – darum geht’s. Für Gott Werbung machen bedeutet nun, dass man Menschen hilft, das Göttliche oder Gott in sich selbst zu entdecken. Bei JesusHouse im Jahr 2007, als Hebel neben Christina Brudereck predigte, hätte die Kollegin das damals deutlich besser als er begriffen.

Hebel hält gar nichts vom Dualismus und der Unterscheidung „entweder du bist Christ oder du bist keiner“. Das sei eine „total dumme Aussage“. „Wer will das denn entscheiden?“ All das ist ihm zu eng gedacht, und hier kommt das Bild hinter Freischwimmer in den Blick. Er befindet sich gleichsam nicht mehr im abgegrenzten Swimmingpool, sondern im Meer, im Ozean des Göttlichen. Das Meer ist so groß, „dass man es gar nicht verlassen kann“. Ähnlich drückte er sich auch im Interview mit „idea“ aus (6/2016): „Ich bade in der Präsenz Gottes: Gott in dir und du in Gott. Es geht weniger um den Verstand, sondern darum, die Präsenz Gottes zu spüren und zu erleben.“

„Was glaubt der Hebel nun eigentlich?“

Natürlich ist das Echo auf das Buch unterschiedlich. Hebel hat dabei auch nichts gegen Kritik, wünscht sich einen „offenen Diskurs“ und ließe sogar eine „authentische Schimpftirade“ über sich ergehen. Von der einfühlsamen und ungeheuer netten Moderatorin hatte er aus dieser Richtung nichts zu erwarten bzw. zu befürchten. Sie berichtet von der Frage ihres Mannes: „Was glaubt der Hebel nun eigentlich?“ Gute Frage. Allerdings will man auch noch hinzufügen: Was glaubt die Moderatorin eigentlich?

Vielleicht gehört es ja zum Konzept der Sendung, dass der Ton immer freundlich bleibt, wenn das Gespräch so dahinplätschert. Natürlich muss nicht in jedem Format immer Tacheles geredet werden. Aber hätte man bei der einen und anderen Äußerung Hebels nicht einhaken können, ja müssen? Hat Christentum im Kern nur noch etwas mit Ethik („gelebte Liebe“) und gar nichts mehr mit Lehren, die irgendwie wahr sind oder Wahrheit beanspruchen, zu tun? Geht es vor allem darum, das Göttliche in sich zu finden und sich im Göttlichen freizuschwimmen? Ist die Kernbotschaft des Christentums nicht auch die Befreiung von Schuld – Schuld, die Menschen von Gott trennt? Warum soll die Unterscheidung zwischen Christ und Nichtchrist so dumm sein? Muss sie nicht jede Gemeinde in irgendeiner Weise treffen? Soll eine Kirche etwa jeden, aber auch wirklich jeden spirituell Bewegten aufnehmen, um ja jede Dualität zu meiden? Und geht es nur noch darum, Menschen zur Erkenntnis ihrer angeborenen Würde zu verhelfen? Erschöpft sich darin die Aufgabe der Kirche bzw. der Christen? Geht es womöglich nur noch darum, dem SCM-Verlag zu höheren Umsätzen zu verhelfen (der ERF-Verlag ging in der SCM auf), und kritische Fragen stören da nur?

Werbung für ein Verb

Hebel war auch in der ERF-Fernsehsendung aus der Reihe „Gott sei Dank“ vom 8. Juli zu Gast (s. Bild o.). Früh fällt im Gespräch im Hinblick auf christliche Unterweisung das Stichwort „geistlicher Missbrauch“. Eine Argumentationslinie, die sich (natürlich verschärft) auch im Gotteswahn von Richard Dawkins findet, was wohl aber niemandem aufgefallen ist. Kinder hätten laut Hebel ein Recht darauf, dass man ihnen sagt, dass sie „fehlerlos“ sind; dass ein Kind „so wie es ist, gut ist. Punkt.“ Keinerlei Rückfrage des Moderatorenduos. Haben sie etwa auch fehlerlose Kinder?

Natürlich sind auch hier Hebels Glaubenszweifel Thema. Eine ganze Weile wusste er nicht, ob es Gott gibt oder nicht. Und wie er es heute mit der Religion hält, will Ingo Marx wissen. „Mit der Religion? Finde ich einfach Scheiße.“ Ungewöhnlicher Ton im ERF. Es gehe nicht um Zughörigkeit zu einer Konfession und Religion (!) – „alles schnurz“. „Es geht beim Christsein nicht darum, dass ich dogmatisch abgrenze, wozu ich gehöre […], sondern es geht um einen Zustand. Gott ist für mich kein Substantiv, sondern ein Verb. Es ist ein Lebensgefühl, dass ich begriffen habe, im Hier und Jetzt, jetzt, wo wir hier sitzen, in diesem Moment […], jetzt und hier ereignet sich Gott“. Er ist eine Macht, die ihn hält, „richtig erlebbar, nicht hier [im Kopf], sondern hier [im Herz]. Das hat mich verändert. Es ist ein Zustand geworden.“ Er müsse nicht mehr klären, ob etwas so oder so und nicht anders sei; vom entweder-oder sei er zum „sowohl-als-auch“ gelangt. Menschen sollen in dem Wissen ruhen, dass „egal, was ich tue“, Gott immer bei ihnen und in ihnen ist.

Gott, das Ereignis, Verb oder Lebensgefühl; Glaube an einen Zustand; Spiritualität jenseits aller Dualismen – man muss wahrlich nicht jahrelang Religionswissenschaft studiert haben, um zu bemerken, dass sich solche Sätze allen christlichen Kategorien entziehen. Hebel stört dies jedoch nicht im Geringsten. Gerade die Ablehnung aller Kategorien und „Eingrenzungen“ weht dabei vom populären Buddhismus rüber. Er polemisiert immer heftig gegen fromme Phrasendrescher, doch was ist „Gott, das Verb“ anderes? Nur eben nicht eine fundamentalistische, rechtskonservative, bibeltreue Phrase, sondern eine progressive, postmoderne, postevangelikale.

Gleich zu Beginn der Sendung fragt Moderatorin Hinrichs die Zuschauer: „Glauben Sie an Gott?“ Auch Hebel selbst nennt zwei Fragen, die jeder im Leben zu lösen habe: „Wer bin ich?“ und „Wozu gehöre ich?“ Daraus hätte man doch etwas machen können, auch in Auseinandersetzung mit diesem Gesprächspartner. Drückt sich Zugehörigkeit zu Gott nicht auch in der Zugehörigkeit zu einer konkreten Gemeinde und Kirche aus?

„Wer bin ich?“ ist die erste Frage im (polnischen, später auch litauischen) Kleinen Katechismus aus Vilnius (1581). Der Emder Katechismus von Johannes A Lasco (1554) fragt gleich zu Beginn: „Wozu bist du als Mensch geschaffen?“ Und nicht zu vergessen die erste Frage des Kurzen Westminster-Katechismus (1647): „Was ist das höchste Ziel des Menschen?“ Die Frage, wozu bzw. wem wir gehören, wird bekanntlich gleich in der Antwort der ersten Frage des Heidelberger Katechismus gegeben. Die protestantische Tradition hat dieses Feld der existentiellen Fragen also schon gut beackert (am Ende noch mehr dazu), aber man war eben – um in Hebels Ausdruckswelt zu bleiben – im Dogmatischen gefangen. Man meinte damals wirklich, dass man echte Wahrheiten weitergeben könne.

Offensichtlich sahen sich aber auch die beiden Presenter der Sendung kaum noch an eine autoritative Tradition gebunden. Zumindest unterbrach man Hebel in seinem „Duktus“ in keiner Weise. Ron Kubsch bemerkte treffend (s. hier): „Eine Sache würde ich allerdings gern wissen. Warum wird Torsten in der Talksendung nicht eine kritische Frage gestellt? Hätte es bei diesen steilen Thesen nicht Gelegenheiten dafür gegeben oder gar Notwendigkeiten geben müssen?“

Er zitiert die Moderatorin: „Ist es im Leben nicht so, dass wir eigentlich auf dem Weg sind und keiner eigentlich eine richtige Antwort hat. Das ist ja Glauben, es ist nicht Wissen.“ Worauf Hebel antwortet: „Wenn wir uns darauf einigen können, dass wir alle Suchende sind, und wir sind alle auf diesem Weg […] und aufhören, uns irgendwelche Wahrheiten um die Ohren zu hauen und auch noch: Du musst so glauben, wie ich glaube, […]“. Das sei ein „schlechter Weg“. Vielmehr gehe es um „Demut und Liebe, das sind die zwei Kennzeichen eines Menschen, der glaubt. Wenn wir uns da treffen können, […]“. Die Moderatorin ergänzt: „Das wäre großartig!“

Wir sind alle auf einem Weg – hier kann man in Hebel-Sprech nur entgegnen, dass dies eine der neumodischen und total dummen Phrasen ist. Ist es von gebildeten Christen zu viel verlangt, dass sie diese ja neutestamentliche Metapher des Weges auch einmal biblisch füllen? Spricht die Bibel nicht penetrant von wahren und falschen Wegen? Gibt es die in Hebels Vorstellung überhaupt noch? Und wie steht es um das Suchen? Gibt es auch ein Finden?

Glaubt man auch in der Leitung des ERF, dass „keiner eigentlich eine richtige Antwort hat“? Wozu dann die ganze Veranstaltung? (Und der ganze Laden?) Gleich zu Beginn wird eingeblendet, dass dieser Beitrag eine „spendenfinanzierte Sendung“ ist. Wer das Göttliche in sich selbst sucht und wem die Grenzen zwischen Konfessionen und Religionen schnurz sind, der wird sich wohl lieber das neueste Buch vom Dalai Lama kaufen und wohl kaum das Geld nach Wetzlar für so ein Programm schicken.

„So wie ich bin, bin ich gut“

In den verschiedenen Interviews sowie im Buch geht es immer auch um die evangelikale Umwelt, die Hebel in eine Glaubenskrise stürzte: „Garniert mit Sätzen wie ‘Du bist, was du tust!’ wurde in mir das Bewusstsein genährt, dass ich, so wie ich bin, falsch bin. Und weil ich falsch bin, bin ich nicht wertvoll. Und weil ich nicht wertvoll bin, ist die Gnade Gottes umso größer, dass er solch einen sündigen Menschen überhaupt liebt.“ (Freischwimmer)

Im Hossa-Talk #43 geht Hebel ebenfalls auf das früher prägende Motto „Das, was du tust, ist das, was du bist“ ein (schon über ein Jahr zuvor war Hebel bei den beiden Hessen im Hossa-Talk #5 zu Gast). Dort umschreibt Hebel „überspitzt“ die Denkweise, von der er sich nun distanziert hat: „Wenn du sündigst und Sünde tust, bist du auch sündig in den Augen Gottes, und er behandelt dich dann eben auch als Sünder, und dann bist du so schlimm und so schlecht, dass er seinen eigenen Sohn qualvoll foltern und abschlachten muss am Kreuz, damit der schlechte Torsten überhaupt auch nur ansatzweise geliebt und gerettet werden kann.“

Nun sieht er dies ganz anders: „Mein neues Gottesbild ist völlig losgelöst von meiner moralischen und ethischen Integrität. Das bedeutet eine Liebe zu begreifen, die mich wirklich brutto meint, und zwar auch gefühlsmäßig, egal, ob ich jetzt gut drauf bin oder schlecht drauf bin“, egal, ob er nun sündigt oder nicht – „die Liebe Gottes ist jeden Tag gleich, und jeden Tag unantastbar für jede Biographie auf diesem Planeten“. So habe er ein neues „Bewusstsein für die Gegenwart Gottes“ bekommen: „Gott ist also nicht mehr der Gott, der kommt und geht, der sich entfernt, wenn ich unattraktiv und schmutzig und dreckig bin, sondern der Gleichbleibende mit einer Güte und Gnade und Freude bei mir, in mir und um mich herum, über mir, unter mir, der überall halt ist und mich trägt, und den ich gar nicht verlieren kann.“

Hebel nennt Richard Rohrs Buch Pure Präsenz und das neue, nämlich „mystische Gottesverständnis“, das er nun gefunden habe. Der Franziskanerpater Rohr erläutert darin, dass der hebräische Gottesname Jahwe dem Geräusch des Ein- und Ausatmens ähnlich sei. Bei jeder Atmung spreche man gleichsam den Namen Gottes aus. Hebel: „Kann es sein, dass jeder Mensch, der geboren wird, mit dem ersten Atemzug schon den Namen Gottes ausspricht?“ Dass auch beim letzten Gott auf unseren Lippen ist?

Hebel weiter: „So wie ich bin, bin ich gut, und Gott in mir bedeutet die Akzeptanz meiner selbst, die Akzeptanz meines Seins, so wie ich bin, ganz nackt, ganz roh, ganz so, wie ich halt im innersten Kern meines Wesens bin. Das anzunehmen, das zu akzeptieren, das zu sagen: ich akzeptiere mich jetzt mal selbst – durch Gott möglich gemacht. Ich habe eine Selbstannahme erfahren, dadurch habe ich eine Annahme Gottes erfahren, und dadurch habe ich ein Bewusstsein erfahren, das ich so vorher nicht kannte.“

Im Mai 2015 habe er zu einem neuen „Frieden in meiner Seele“ gefunden und eine „Vereinigung mit Gott“ oder dem Göttlichen erlebt: „das, was wir suchen, ist schon längst da und in uns“. Das „Paradigma hat sich geändert“. Er hat gelernt, „im Hier und Jetzt zu leben“. „‘Ich bin, wer ich bin’ ist fast eine meditative Übung für mich geworden“.

„So leben wie Jesus“

„Wie würdest du jetzt das Evangelium beschreiben? […] Hast du einen neuen Zugang zum Evangelium gefunden? Was wäre für dich jetzt eigentlich die Gute Nachricht?“, so die Hossa-Talker. Hebel: „Also die Gute Nachricht ist tatsächlich, dass das Evangelium überhaupt nichts mit moralischer Schwäche zu tun hat oder damit, dass es bei Gott entscheidet, was ich tue oder was ich nicht tue.“ Das Evangelium habe für ihn etwas damit zu tun, „zu wem ich gehöre und bei wem ich bin und dass ich dort meine Würde und meinen angeborenen Wert erlebe, den ich per se als Mensch habe.“ So versteht er den Paradigmenwechsel: „Du bist nicht, was du tust, sondern du bist, wer er ist. Weil er in dir lebt und dich heilig macht.“ Und noch einmal: „Eine der größten Schwächen der evangelikalen Entwicklung in den letzten 30, 40 Jahren [war], dass dieser Satz ‘du bist, was du tust’ sehr eingehämmert wurde.“ Etwas später: Das Evangelium bedeutet „so zu leben wie Jesus“.

Die Talker wenden ein, dass Gott den Menschen zwar so annimmt, wie er ist, doch Jesus stehe doch „für eine herausfordernde Ethik“, d.h. unser Tun und Handeln bleibe doch wichtig. Hebel bestätigt: Es sei „total wichtig“ zu lesen, was Jesus gesagt hat über das, wie wir leben sollen, „und das dann auch wirklich ernst zu nehmen“. „Ich finde es aber total unwichtig, in irgendeiner Form irgendwelche Kirchenleute oder Kleriker zu befriedigen, die meinen, mit ihrem Regelwerk in irgendeiner Form Kontrolle ausüben zu müssen und mir sagen zu müssen, wie Spiritualität oder Gott funktioniert. Dagegen bin ich sehr allergisch. Das hat viel mit Selbstdarstellung zu tun, viel mit Macht, mit Missbrauch zu tun […]. Viele Dinge, die im christlichen Bereich geschehen, haben null, absolut null mit Jesus Christus zu tun, ABSOLUT NULL!“ Gofi und Jay: „Sehr schön gesagt.“

„Scheiß drauf!“ 

Die Kritik am Buch und Hebels geistlichem Werdegang ist natürlich auch Thema. Den Leuten, „die jetzt hier ankommen und sagen, ich bin nicht mehr auf dem Weg, denen möchte ich nur einen einzigen Satz entgegenschmettern: An den Früchten wird man sie erkennen.“ Es gehe beim Christentum „nicht darum, wer recht hat und wer nicht recht hat. Es geht nicht darum, dass man dogmatische Kernbegriffe austauscht und sagt: entweder ich habe recht oder du hast recht. Es geht darum, dass wir demütig werden; es geht darum, dass wir liebend werden; es geht darum, dass wir Empathie für Menschen neu empfinden, für uns selbst und für andere. Es geht darum, dass wir einen Lebensstil leben, der mitfühlend ist mit allem, was uns umgibt. Und wenn diese beiden Parameter nicht da sind, das heißt Demut und Mitfühlen, dann habe ich meine Anfragen.“ Und dann wird er obszön, was wenig später zurückgenommen wird zu einem immer noch derben „Scheiß drauf!“

Jay findet „genau richtig“, was Hebel sagt. „Was in den Evangelien immer wieder passiert, ist Empathie, Liebe, ist gelebtes auf Andere Zugehen, mit ihnen Leben teilen […].“ Hebel setzt fort: „Wenn das deutlich wird, ist das immer und ausnahmslos gegen organisierte Religiosität, es ist genau gegen dieses dogmatische Bollwerk, das aufgebaut wird von Sadduzäern, von Pharisäern“; es ist gegen das  „Einkategorisieren“ von „Christ – Nichtchrist, gläubig – nichtgläubig usw.“ Gott sage vielmehr zu denen, die in diesen Kategorien denken, d.h. zu den konservativen Christen: „Der Wind weht, wo er will – macht euch mal locker! Ihr habt vielleicht viel weniger zu sagen, als ihr denkt.“ Und dann an alle gerichtet: „Wo sind denn unsere barmherzigen Christen? Wo sind denn die Leute, die die Gesellschaft verändern durch ihre Empathie und Liebe?“

„Seitdem ich dies spirituelle neue Leben habe, mache ich mich unabhängiger von Menschen“, so Hebel weiter im Hinblick auf seiner Kritiker. All die Anfragen an seinen Glauben – „das interessiert mich überhaupt nicht, null“. Dass sich selbst theologische Lehranstalten fragen, wie sie sich zu seinem Buch positionieren sollen, findet er „lächerlich“. Hebel ruft vielmehr auf: „Leute, lasst uns ins Gespräch kommen. Vielleicht liege ich auch falsch mit vielen Sachen. Ich bin doch auf dem Weg. Ich hab die Weisheit doch nicht mit Löffeln gefressen.“ Man solle sich doch „mitfühlend und demütig miteinander austauschen.“

„Faschismus und Fundamentalismus“

Hebel setzt sich aber noch einmal mit seinen Kritiker auseinander: „Ich kann es nicht nachvollziehen, dass ein Vorstand eines großen christlichen Verlages eine Sitzung hatte und dort tatsächlich gesagt wurde: Solche Bücher [wie Freischwimmer] sollen nicht mehr herausgebracht werden. Weil sie Menschen verunsichern und weil Menschen weggeführt werden von Christus. Und jetzt frage ich dich: Was sind die Kennzeichen von Faschismus und Fundamentalismus? Es ist genau, dass nichts hinterfragt werden darf.“

Die Einstellung des „und wenn du das nicht glaubst, bist du raus“ sei „ein Zeichen von Fundamentalismus“. Hebel will aber mit „fundamentalistischem Glauben nichts zu tun haben“, er will „auch mit diesen Menschen nichts zu tun haben.“ Trotzdem fühle er mit ihnen und sei „jederzeit zum Dialog bereit“. Er bedauert, dass bisher keiner den Mut hatte ihm direkt zu sagen bzw. zu schreiben „Torsten, dein Buch finde ich Scheiße. Da stehen Dinge drin, die kann ich so nicht glauben.“

„I have church with myself“

Leider findet dieser Dialog öffentlich so gut wie nicht statt. Tatsächlich müsste er viel Zeit in Anspruch nehmen, und es ist fraglich, ob er zu einem fruchtbaren Ergebnis führen könnte. Denn mit so manchen seiner Thesen entzieht Hebel jeder argumentativen Auseinandersetzung den Boden. Vieles in seinen Äußerungen ist schrecklich widersprüchlich wie allein schon die Einladung zum Dialog und Widerspruch an die Konservativen, die aber vorher kräftig abgewatscht wurden. Wie soll sich ein Diskurs gestalten, wenn ihm Anfragen und Kritik völlig egal sind?

Die „Evangelikalen dürfen glauben wie sie glauben, ich darf glauben wie ich glaube. Lasst uns diskutieren, frech, fromm, fröhlich, frei“ und einräumen, dass andere eben anders glauben „und es wahrscheinlich so viele Wege zu Gott gibt wie es Menschen gibt“. Gewiss, jeder hat das Recht zu glauben wie er oder sie will, und Glaube gestaltet sich unterschiedlich. Solch ein Dialog à la Hebel läuft jedoch auf ein bloßes gegenseitiges Schildern des eigenen Glaubens hinaus. Die Behauptung, dass es falsche Wege gibt und dass er persönlich womöglich vom rechten Kurs abgedriftet ist, also ein echter Streit, würde wohl wieder mit den übelsten Schimpfworten belegt werden, Stichworte Heruntermachen und Pharisäertum, Faschismus und Fundamentalismus, Lieblosigkeit und Intoleranz. Kann es so voran gehen?

Dabei ist das Thema der Glaubenszweifel so wichtig – für Christen aus dem ganzen Spektrum. Freischwimmer und Hebels Äußerungen werden die theologisch konservativ Gesinnten an diese Frage wohl kaum heranführen und ein vertieftes Nachdenken über Zweifel und den Umgang mit ihm initiieren. Auf Büchertischen von Veranstaltungen und Gemeinden liegt nun, so ist zu vermuten, fast überall dieses Buch und wird Fragenden, Suchenden, Zweifelnden empfohlen. Leider gibt es sonst kaum deutschsprachige Literatur zum Ringen zwischen Glauben und Unglauben – und man kann nur hoffen, dass dem einen oder anderen Tim Kellers Warum Gott? in die Hand gedrückt wird.

Hebel wird allen Ortens für seinen Mut gelobt, seine Glaubenszweifel offengelegt zu haben. Davon ist tatsächlich zu lernen. Dennoch will sich mir der tiefere positive Nutzen des Buches und der medialen Werbung darum nicht erschließen. Wem hilft Hebel mit all seinen Äußerungen wirklich? Worin liegt der tatsächliche seelsorgerliche und pastorale Wert? Worin die konkrete Ermutigung? Seinen ganz eigenen Weg mit Gott gehen? Aber wozu braucht es da solche Bücher?

Mir ist schleierhaft, wie Gemeinden und Kirchen die Geschichte Hebels sinnvoll nutzen können. Der sichtbare Leib Christi ist bei ihm fast ausschließlich negative Projektionsfläche und an so gut wie allem schuld. Dass Gemeinden Menschen abstossen und vom Glauben wegführen können, ist unbestritten. Aber können sie und ihre Dienste sowie die Sakramente nicht auch glaubensstärkend wirken? Und wie werden Gemeinden durch Überwindung von Zweifeln letztlich gestärkt?

Aber darum geht es Hebel ja gar nicht (mehr). Sein neuentdeckter Glaube kommt wunderbar ohne jede Kirche aus, und die Frage, zu welcher Gemeinde er denn nun gehöre, würde wohl harsch abgewiesen werden. Hebel betont bei „Hossa“, „wie sehr es Jesus hinzieht zu denen, die noch nicht einmal Platz finden würden in unseren Gemeinden heute“. Wohl wahr. Aber soll man denn diesen Platz überhaupt noch finden? Wo ist sein Platz?

Das von Hebel gebrauchte Bild des Meeres und des Schwimmens erinnert an Oprah Winfrey: „I realize I’m just a particle in the God chain. I see God as the ocean, and I’m a cup of water from the ocean.“ Eine Kirche braucht die US-Mediengröße daher nicht: „I have church with myself“.

Bei Hebel, alle Grenzlinien verwischend, wird nirgendwo erkennbar, dass die neue Art des Glaubens eine verbindliche Gemeinschaft benötigt. Es wird vielmehr deutlich, dass diese mystische Religiosität aus organisierter Religion ganz herausführt. Die Heilsnotwendigkeit der Kirche (extra ecclesiam nulla salus) klingt da schon wie eine boshafte Irrlehre aus engstirnig-dogmatischer Vorzeit. Wieder einmal zeigt sich, dass die Ekklesiologie in Lehre und theologischer Ausbildung keinesfalls vernachlässigt werden darf. Pfr. Kai-Uwe Schroeter in seiner sehr ausgewogenen Kritik von Freischwimmer:

„Es gibt viele Dinge außerhalb meiner selbst, die mich des Glaubens vergewissern können. Dazu gehören die Bibel, die Bekenntnisse, die Gemeinschaft oder auch die Liturgie des Gottesdienstes. Glaube ist nicht nur persönlicher Glaube, sondern ein Einstimmen in einen gemeinsamen Glauben – den ich Gott sei Dank nicht erst erfinden muss. Hebel zerbricht an seinen persönlichen Zweifeln. Es wäre ihm zu wünschen, dass er im gemeinsamen Glauben der universalen Christenheit Halt findet.“

Ein anderer Freischwimmer

Das Thema der Glaubenszweifel ist zu wichtig, als dass man es nur einem Freischwimmer überlassen sollte. Francis A. Schaeffer (1912–1984) machte Anfang der 50er Jahre ebenfalls eine große Krise durch. Alles, das gesamte Lehrgebäude des Christentums, stand für den schon erfahrenen Profi im christlichen Geschäft auf der Kippe. Auch Schaeffer kam von einem sehr konservativen Hintergrund her, dem Fundamentalismus calvinistischer Prägung. Faith Theological Seminary, Bible Presbyterian Church  – ‘enger’ ging’s damals nicht. Doch der Missionar in Europa litt an der Kälte des Nachkriegsfundamentalismus, wollte daher den ganzen Glauben noch einmal neu durchdenken, und tatsächlich ging es um ganz oder gar nicht.

Schaeffers Glaube ging aus diesem intensiven Ringen erneuert und gestärkt hervor. 1955 gründete er mit seiner Frau in der Schweiz die L’Abri fellowship. Hebel hat natürlich recht: Theologie ist in weiten Teilen Biographie, und so konnte Schaeffer seine eigenen Erfahrungen in den Dienst an Zweifelnden auf der Suche nach Gott einfließen lassen. Wenn Atheisten, Agnostiker und enttäuschte Christen in den 60er und 70er Jahren nach L’Abri kamen, konnte er halbwegs nachempfinden, womit sie kämpften. Auch Schaeffer hatte sich freigeschwommen, war aber nicht im Ozean des Göttlichen gelandet. Er blieb seiner Konfession (und dem Westminster-Bekenntnis) immer treu, ja brachte dessen positive Seiten noch besser zum strahlen. Und vor allem kehrte er zur Bibel zurück, zum unfehlbaren Wort Gottes, dass der Krebskranke noch in seinen letzten Lebensjahren heftig verteidigte (The Great Evangelical Disaster).

Schaeffers hatte seine Krise auch verarbeitet, vor allem in True Spirituality, das zwanzig Jahre später, 1971, erstmals im Druck erschien. Ohne das Material dieses Buches, so Schaeffer dort gleich im Vorwort, keine L’Abri fellowship. Im Grunde ist True Spirituality existentiell durchrungene reformatorische und reformierte Theologie pur, natürlich mit zahlreichen persönlichen Erkenntnissen durchsetzt. Vor allem ist es ein durch und durch biblisches Werk, eine Art große Auslegung von Teilen des Römerbriefes. Der Kontrast zu Hebels Freischwimmer, in dem die Bibel gewiss nicht zentralen Raum einnimmt (eher schon die großen Fotographien Hebels), könnte kaum größer sein.

Hebel hatte dieses Buch vor etwa 25 Jahren mit Begeisterung gelesen. Und in seinen kräftigen Sätzen über die existentielle Realität des Glaubens (das Hier und Jetzt, s.o.) ist ein fernes Echo von Schaeffers großem Thema zu hören. Ich hätte meinem alten Studienfreund vor einigen Jahren geraten: Nimm mal eine Auszeit und fahr in die Schweizer Berge; oder in den englischen Zweig der L’Abri fellowship vor den Toren Londons. Genau die richtigen Orte zum Nachdenken, Reden, Austauschen, Hören. Hebel hätte an Bekanntem anknüpfen und wieder auf Kurs kommen können. Es hat nicht sollen sein.

Die Schaeffers kamen als Missionarsfamilie in die Schweiz. Sie wurden zu ganz anderen Missionaren und Evangelisten, als dies bisher üblich war. Keine Altarrufe nach vorne (die Hebel ja auch so kritisch sieht), keinerlei Bühnenshow, vielmehr Vorträge, Selbststudium und Gespräche, Gespräche, Gespräche. Berühmt wurde Schaeffers Kurzfassung seiner neuen Art der Evangelisation: Hätte er nur eine einzige Stunde mit einem nichtglaubenden Menschen unserer Tage, er würde 55 Minuten darauf verwenden, das „Dach abzudecken“, d.h. über Gott als Schöpfer, uns Menschen und unsere Verlorenheit zu reden; er würde intensiv an Vor-Evangelisation arbeiten; ist der Boden so bereitet, könne in 5 Minuten das Evangelium erklärt und auch verstanden werden. (Nick Pollards Von Jesus reden?! greift diesen Ansatz heute auf.)

Schaeffer sah sich immer als Evangelisten und wurde prägend in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Dabei äußerte er sich nie verachtend über Kollegen wie Billy Graham und andere, die „klassisch“ evangelisierten. Hebel taumelt hin und her zwischen Ex-Evangelist und „immer noch werbend für Gott unterwegs sein“. Dabei scheint es, dass er mehr für sich (und seine Arbeit in Berlin) werbend unterwegs ist, als für Gott. Im irgendwie pantheistischen, unpersönlichen Gottesverständnis macht dies ja auch keinen großen Unterschied mehr.

Die schlechte Nachricht

Folgt man Hebels biographischen Ausführungen, so gewinnt man den Eindruck, dass er schon früh mit einer Art Religion der Werke konfrontiert worden war. „Du bist, was du tust!“ Dein Handeln ist entscheidend und definiert deine Identität. Ob diese ja doch recht plumpe Botschaft die Verkündigung in seiner Jugendzeit wirklich trifft, sei dahingestellt. In jedem Fall scheint es so, dass Hebel in jungen Jahren und womöglich auch noch im Studium das Evangelium in seiner Klarheit nicht erkannt (und gehört) hatte.

Das Christentum seiner Herkunft riecht nach Gesetzlichkeit, die er nun hinter sich gelassen hat. Das Evangelium habe für ihn, wie schon gehört, nun etwas damit zu tun, „zu wem ich gehöre und bei wem ich bin und dass ich dort meine Würde und meinen angeborenen Wert erlebe, den ich per se als Mensch habe.“ Hebel verankert seine Identität nun in Gott, was natürlich genau richtig ist: „Du bist nicht, was du tust, sondern du bist, wer er ist. Weil er in dir lebt und dich heilig macht.“

Du bist, wer er ist – das ist voll ins Schwarze. Eigentlich. Je nach dem, wie wir diesen Satz mit Inhalt füllen. Hebel geht es praktisch immer um unsere Menschenwürde als Geschöpfe und Ebenbilder Gottes. Diese Linie führt bei ihm dann zu der häufigen Betonung von Selbstachtung und Selbstwert, Kreativität und Schaffensdrang. An all dem ist nichts, aber auch gar nichts auszusetzen. Bei Hebel ist dies jedoch das ganze Bild. Ein in Sünde Gefangensein gibt es bei ihm nicht, daher auch keine Soteriologie, eine Erlösungslehre, im eigentlichen Sinn.

Der „er“ im „du bist, wer er ist“ verschwimmt daher auch im Unklaren. Wer ist gemeint? Gott? Das Göttliche in jedem Menschen? In diese Richtung geht es wohl. Meine Identität liegt in dem, was Jesus tat, und zwar zur Rettung von Sünden und zur Heiligung (s.u.), – diese Dimension kommt bei Hebel gar nicht mehr in den Blick. Und so ist seine Botschaft letztlich erschreckend Herz-los, ohne Evangelium, ohne Christus.

Hebels Evangelium ist nun ein Evangelium des rechten Tuns: so leben wie Jesus. Jesusmäßig handeln, empathisch sein, lieben, die Welt ein wenig heller machen, „Teil der Bewegung werden, die diesen Planeten verändert und heil macht“. Das klingt sympathisch, weil er versucht „raus dem dogmatischen Rahmen zu kommen hin zu was Erfahrungsorientiertem, Praktischem“. Aber ist es Hebel noch nicht aufgefallen, dass damit die Gesetzlichkeit und die Religion der Werke wieder zu Hintertür hereingekommen sind, und zwar mit voller Wucht?

Viele progressiv Gesinnte unter den Christen dreschen nun mit Vorliebe auf gesetzliche Formen des evangelikalen Christentums ein, und diese Kritik ist nur zu oft berechtigt. Das Gegengift? Imperative. Aber nicht diejenigen der biblischen, apostolischen Predigt wie „glaube und tue Buße!“ – und das heißt: gestehe ein, dass du für dein Heil nichts tun kannst –, sondern moralische Forderungen. Absurderweise (so muss man wohl schon sagen) hat die Evangelische Kirche von Hessen-Nassau nun die Gesamtbotschaft der Bibel, also ihren Kern, in drei solcher Imperative gefasst: liebe Gott, liebe dich selbst, liebe die anderen (mehr zu der Bierdeckelaktion hier). Das ist, reformatorisch gesprochen, Gesetz und nicht Evangelium.

Hebel sitzt einem Trend unter den postevangelikalen, sich progressiv gebenden Christen auf, der nur Sorgen bereiten kann. Das Tun des Richtigen, die Nachfolge Jesu, liebevolle Handlungen usw. sollen uns nun retten. In seinem „Worthaus“-Vortrag zur Trinität schildert z.B. Klaus von Stosch, dass uns im Anderen, vor allem im Leidenden und Armen, der unbedingte Ruf Gottes ergeht: „Ich muss helfen, und wenn ich das tue, dann begegne ich Gott“. Dies sei die „christliche Grunderfahrung; dann begegne ich dem Logos, Christus, dem Zuspruch, dem Evangelium“. Wenn ich dem Anspruch entsprechend handle, begegne ich auch dem Zuspruch. Dies sei eine Erfahrung, die jeder Mensch guten Willens machen kann, auch in allen anderen Religionen. Gott spreche überall durch Zuspruch und Anspruch. Natürlich, so von Stosch, ergreift Gottes Geist jeden Menschen; man kann sich dem dann aber verweigern. Die Erfahrung wird jedoch allen geschenkt, ist universal; Gott ruft und ergreift alle.

Luthers christliche Grunderfahrung sah da anders aus. Er sprach von der nötigen Verzweiflung an sich selbst; von der Erkenntnis, dass wir das, was wir tun sollen, eben nicht tun; dass wir mit unserem Handeln eben nicht das entscheidende Zünglein an der Waage sind und das Heil initiieren. Heute wird das Evangelium gerne mit Gottes die Welt transformierenden Zug durch die Welt beschrieben; auf diesen Zug gilt es aufzuspringen, d.h. Gutes tun, befreiend und verändern wirken. Luther würde sagen: Vergiss es! Du kannst nicht aufspringen, weil du festgekettest am Bahnsteig liegst.

Die doppelte Gnade

Viele Christen haben heutzutage fest die Zukunft im Blick, wollen voran schreiten und die Welt positiv verändern. Das ist nur zu loben. Aber auf diesem Marsch braucht man das nötige Reisegepäck und die richtige Ausrüstung, um nicht ins Stolpern oder auf Abwege zu geraten. Hebel Ausstattung war offensichtlich ungenügend. Ich bin überzeugt, dass ihn eine bessere Verankerung in reformatorischer Theologie und ihrem Erbe davor hätte bewahren können, ins pan(en)theistische Fahrwasser abzudriften.

Nehmen wir nur das Problem der Gesetzlichkeit. Schon immer standen Leiter in Kirchen in der großen Versuchung, die Gläubigen mit zusätzlichen göttlichen Vorschriften zu belasten und die biblischen Gebote strenger zu machen, als sie sind. Hier schoben zahlreiche Dokumente aus der Reformationsepoche einen Riegel vor. Ob nun der Heidelberger Katechismus oder das Westminster-Bekenntnis – alle betonen, dass nur Gottes Gesetz in seinem Wort festlegt, was Sünde ist und was gute Werke sind. Einzig Gottes Wort darf die Gewissen binden und Gläubigen Vorschriften machen.

In diesem Zusammenhang ist auf den geradezu genialen Aufbau des Heidelberger Katechismus hinzuweisen. Der dritte Teil, das christliche Leben im Gehorsam, die gesamte Ethik in der Erläuterung der Zehn Gebote, wurde von Autor Ursinus unter das Stichwort „Dankbarkeit“ gestellt. Im Teil 1 geht es um unser Sein als Mensch; um das gute Geschöpf, das jedoch rebellierte; um die Erkenntnis der Sünde. Teil 2 behandelt die Lösung des Problems, das Evangelium der Rettung. All unser gutes Tun ist dankbare Antwort auf dieses Erlösungshandeln Christi. Alle Ethik dreht sich nicht um das Gewinnen des Heils, denn gute Taten können dazu nichts beitragen, sondern um das Ausleben der neuen Identität.

Ein ungeheuer hilfreiches Konzept aus der reformierten Bundestheologie ist außerdem die Unterscheidung von Bund der Werke und Bund der Gnade. Der Bund der Werke oder des Lebens wurde mit Adam im Paradies geschlossen; ihm wurde bei perfektem Gehorsam das ewige Leben versprochen. Diesen Bund hielt der Mensch nicht, und seit dem Sündenfall führt kein menschliches Werk mehr zum Heil bzw. in die vollkommene Gemeinschaft mit Gott. Im Zentrum des Bundes der Gnade steht die Erlösungstat Christi. Deren Gaben werden nicht erarbeitet, sondern geschenkt. Das Tun des Richtigen ist damit aber nicht hinfällig geworden. Sünder werden durch Werke gerettet – aber nicht durch ihre, sondern durch Christi Gehorsam und Opfer. Er erfüllte den Bund der Werke vollkommen – an unserer Statt.

Wer bin ich? Wozu gehöre ich? Diese Fragen sind, so Hebel ganz richtig (s.o.), tatsächlich entscheidend. Leider fehlt ihm inzwischen mit einem mystisch-diffusen und unpersönlichen Gottesbild die Grundlage einer auch nur halbwegs klaren und biblischen Antwort. Die Bibel und die Bekenntnisse antworten hier trinitarisch: Christen sind Eigentum Christi, ihres Erlösers (Heidelberger Katechismus, Fr. 1); dieser wohnt durch den Heiligen Geist in ihnen; durch den Glauben an den Sohn werden Menschen Kind Gottes, des Vaters, in seine Familie adoptiert.

Das Westminster-Bekenntnis hat ein kurzes Kapitel der Annahme als Kind Gottes (engl. adoption) gewidmet. Tatsächlich ist dies das größte, was Gott uns schenken kann: nicht nur Vergebung und Befreiung von Schuld, positiv auch noch die Verbindung mit Gott selbst, das Mithineinnehmen in sein Leben (nun aber nicht pantheistisch verstanden).

Die Annahme als Kind ist eng verbunden mit der Einheit mit Christus. Beides wurde von Johannes Calvin oft betont. „Gott hat uns einmal in seine Hausgenossenschaft aufgenommen, und zwar, um uns nicht nur als seine Knechte, sondern als seine Kinder anzusehen“, so in Inst. IV,17,1. Christus ist das „Band unserer Kindschaft“, das wir nun darstellen sollen (III,6,3). Wir haben uns, so der Reformator, auch daran zu erinnern, „dass die Heiligkeit das Band sein muss, durch welche sie  [die Verbundenheit mit Gott] besteht. Das bedeutet nicht, dass wir etwa durch das Verdienst unserer Heiligkeit in die Gemeinschaft mit Gott gelangten. Wir müssen im Gegenteil zuerst ihm anhängen, damit uns seine Heiligkeit durchdringe und wir dann folgen, wohn er uns ruft!“ (III,6,2)

Calvin prägte den Begriff der „doppelten Gnade“ durch Christus: „Durch die Gemeinschaft mit ihm empfangen wir vornehmlich eine doppelte Gnade: einerseits werden wir durch seine Unschuld mit Gott versöhnt, so dass er jetzt nicht mehr unser Richter ist, sondern wir an ihm unseren gnädigen Vater im Himmel haben; und andererseits werden wir durch seinen Geist geheiligt und trachten nun nach Unschuld und Reinheit des Lebens.“ (III,11,1)

In der Einheit mit Christus sind Rechtfertigung/Versöhnung und Heiligung gegeben: „Weshalb werden wir nun im Glauben gerechtfertigt? Weil wir im Glauben die Gerechtigkeit Christi ergreifen, durch die allein wir mit Gott versöhnt werden! Diese aber kann man gar nicht ergreifen, ohne zugleich auch die Heiligung zu erfassen! Denn Christus ist uns gegeben ‘zur Gerechtigkeit und zur Weisheit, zur Heiligung und Erlösung’ (1 Kor 1,30). Christus rechtfertigt also keinen, den er nicht zugleich heiligt! Diese Wohltaten sind durch ein bleibendes und unlösbares Band miteinander verknüpft […].“ Rechtfertigung und Heiligung sind zu unterscheiden (gegen die römisch-katholische Vermischung), doch sie gehören zusammen, denn „Christus trägt sie beide untrennbar in sich“. Er „spendet uns beides zugleich, das eine nie ohne das andere. Daraus geht deutlich hervor, wie wichtig der Satz ist, dass wir nicht ohne die Werke, aber dennoch auch nicht durch die Werke gerechtfertigt werden!“ (III,16,1)

Wer bin ich? Ich bin als Christ eins mit Christus. Wir sind in ihm durch den Glauben vollkommen gerechtfertigt – nicht per se als Mensch, wie Hebel zu verstehen gibt. Wir sind in ihm geheiligt; so wie ich bin, bin ich einzig in Christus gut. Die Gute Nachricht ist, dass Gott allein rettet; dass Gott seinen Sohn für uns dahingegeben hat, der unsere Schuld auf sich genommen und den geforderten Gehorsam dem Vater schon dargebracht hat. Wir sind eins mit Gott und daher gilt nun: „du bist, was Gott für dich tat und tut“. Das Evangelium ist nicht „so leben wie Jesus“, sondern er selbst, sein Leben, seine Taten und die Nachricht von ihm. Und weil sein Geist in uns erneuernd wirkt, haben unsere Taten eine Kraftquelle und eine Zielorientierung, die nur in Christus gegeben ist: ihm immer ähnlicher werden.

Hebel dagegen breitet seine fade Soße des „die Präsenz Gottes spüren und erleben“ über alle aus. Gewiss, in ihm, in Gott, „leben, weben und sind wir“ (Apg 17,28). Alle Menschen spüren auf unterschiedliche Weise etwas von der Präsenz Gottes (s. Röm 1). Doch ohne Christus ist dies keine gute Nachricht. – Es ist zu hoffen und zu beten, dass Fragende, Zweifelnde und Verzweifelte die einzige Gute Nachricht in Christus (neu) erkennen und (wieder) auf den rechten Kurs geraten – auch durch den „frischen Wind der Jahrhunderte“ (C.S. Lewis).