Als das litauische Schtetl verschwand

Als das litauische Schtetl verschwand

Vor 75 Jahren spielte sich in Litauen eine Tragödie historischen Ausmaßes ab. Rund Dreiviertel der jüdischen Bevölkerung wurden innerhalb weniger Monate ermordet. Die deutschen Besatzer befahlen und organisierten die Massenerschießungen, doch wenn die Leiber der jüdischen Mitbürger in die Massengräber fielen, hatten meist litauische Schützen den Finger am Abzug.

5 Millionen Juden lebten zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in der UdSSR, die meisten auf dem Gebiet des sog. Ansiedlungsrayons (s.u. Karte) im Westen, in der Ukraine, Weißrussland und dem südlichen Baltikum. Hier und in Polen konzentrierte sich seit Jahrhunderten die jüdische Bevölkerung, so dass sie in vielen Orten ein Drittel, manchmal sogar die Hälfte der Einwohner ausmachten – das osteuropäische jüdische „Schtetl“ (jiddisch für Städtlein).

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Ausgerechnet weite Teile dieses Gebiets besetzte die Wehrmacht im Krieg gleich in den ersten Monaten. Litauen wurde nach dem 22. Juni 1941 in wenigen Tagen geradezu überrannt. Hier und in Weißrussland saßen die Juden in der Falle. Sie konnten nirgendwohin fliehen. Im Spätsommer des Jahres kam eine wahre Tötungsarmee zum Einsatz: 60.000 Mann – deutsche Einsatzgruppen und SS, Polizei und lokale Hilfsgruppen – waren am Massenmord in der besetzten Sowjetunion direkt beteiligt. Eine Million Juden wurden von dieser bunten, aber gut organisierten Truppe getötet. Nur noch die Vergasung in den Vernichtungslagern Polens in den Jahren danach sollte dieses Grauen an Effektivität übertreffen.

Die Nazis waren nicht dumm und passten ihre antijüdischen Maßnahmen den jeweiligen Ländern an. In Deutschland mussten sie schrittweise vorgehen, galt es doch auf den gutbürgerlichen Schein wenigstens etwas Rücksicht zu nehmen. Im Kernland drehten die Machthaber den Juden gleichsam nach und nach den Hals zu. Und natürlich beseitigte man die Verhassten nicht vor den Augen der deutschen Bürger. Erst 1942 wurden die meisten der noch Verbliebenen nach Osten deportiert.

In Osteuropa konnte die deutsche Führung praktisch überall an alten Ressentiments anknüpfen, die natürlich mit diversen Lügen und Verzerrungen weiter angestachelt wurden. So waren die baltischen Staaten erst 1940 von der Sowjetunion besetzt worden. Dies ließ sich vortrefflich ausnutzen, denn bekanntlich stand für die Nazis hinter dem Bolschewismus das Judentum. Die Juden Litauens hätten die Sowjets 1940 begrüßt und wären überproportional in den Strukturen der Besatzer wie der Partei und dem NKGB vertreten. Nichts dergleichen war wahr, aber mit den Juden bot sich nun eine ganze Bevölkerungsgruppe, auf die der aller Unmut abzulassen war.

Die deutsche Besatzung hatte daher in Litauen ein leichtes Spiel. Hier wurde mit dem ‘Aufräumen’ begonnen, auch wenn der Plan zur Gesamtvernichtung des europäischen Judentums noch gar nicht gefasst war. Die jüdische Bevölkerung des Landes, gut 200.000 Personen, wurde meist nicht in Konzentrations- oder Vernichtungslager gesteckt (letztere wurden erst ab 1942 in Polen eingerichtet), sondern unweit der Städte, meist in Waldgebieten, kurzerhand erschossen.

Direkt an den Erschießungen waren wohl nur einige hundert Deutsche beteiligt. Ohne die einheimischen Kräfte, insgesamt viele Tausend, wäre die Maschinerie des Tötens kaum in Gang gekommen. Litauer wurden von den Deutschen in Abteilungen zusammengefasst, oder aber diese legten nur weiße Bänder an und suchten örtliche Juden, zerrten sie aus ihren Häusern und hielten diese in ihren Synagogen oder anderen Gebäuden fest. Nur ein paar Tage nach der deutschen Besatzung trieben Litauer in Kaunas im Lietūkis-Garagenhof mehrere Dutzend Juden zusammen und misshandelten sie grausam. Am helllichten Tag, mitten in der Stadt, lagen am 27. Juni 1941 schließlich 52 Erschlagene in Dreck und Blut.

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Erschlagene im Hof der Lietūkis-Garagen in Kaunas, 27. Juni 1941

Die Sommer- und Herbstmonate gehörten dann zu den blutigsten in der gesamten litauischen Geschichte. Innerhalb solch kurzer Zeit wurde die Mehrheit der Juden erschossen, alles unweit von Deutschland.

Schon in den ersten beiden Kriegswochen begann die Tötungswelle. 4000 Juden aus Kaunas wurden erschossen, viele im Neunten Fort am nördlichen Stadtrand, einem Teil der alten Befestigungsanlagen von Kaunas aus der Zarenzeit. Die Nazis funktionierten das Fort in ein KZ und Erschießungsort um. Etwa 3000 Menschen aus der jüdischen Bevölkerung Šiauliais überlebten den Frühsommer nicht. Hier richteten die Deutschen eines der wenigen Ghettos im Land ein. Am 29. Juni wurden bei Kužiai über 8000 Juden aus Šiauliai um Umgebung erschossen.

Hier einige Dutzend, dort Hunderte, an Zentren des jüdischen Lebens Tausende – so ging es in diesen Monaten weiter. Ort für Ort, und diese gab es einige Hundert, wurde das Judentum Litauens fast gänzlich ausgelöscht. Am 17. Juli wurde im Wald von Kaušėnai die Bevölkerung von Plungė um die Hälfte reduziert: an die 2000 Ermordete. Heute befindet sich hier eine Gedenkstätte. Die 84 Namen der Schülerinnen des jüdischen Mädchengymnasiums sind dort alle aufgelistet.

Am 8. August um die 2400 Erschossene in Biržai im Nordosten, am 5. September in Ukmergė: 4709 getötete Personen, darunter 1849 Frauen und 1737 Kinder. Am 2. Oktober traf es Žagarė im Norden an der Grenze zu Lettland: 2236 Ermordete, darunter 633 Männer, 1107 Frauen und 496 Kinder. Zwischen dem 8. und 10. Oktober wurden an die 8000 Juden aus Švenčionėliai und Umgebung in Ostlitauen getötet. Diese Liste ließe sich lange fortsetzen. Einen guten Überblick liefert der interaktive „Holocaust Altlas of Lithuania“.

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Orte des Schreckens im „Holocaust Atlas of Lithuania“

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Jüdischer Friedhof in Biržai

Hunderte Hinweisschilder und Gedenksteine von Erschießungssorten und Massengräbern sind heute über das ganze Land verteilt. Dabei sind noch nicht einmal alle Orte des Grauens markiert. Eine große Gedenkstelle ist dagegen im Wald von Ponar/Paneriai südlich von Vilnius eingerichtet worden. Denn dort wurden nicht nur Zehntausende Juden ermordet; in den Massengräbern lagen auch zahlreiche Polen und Russen. Als die Front 1944 wieder herannahte, ließen die Nazis die meisten Leichen ausgraben und verbrennen, um die Spuren von rund einhunderttausend Morden zu verwischen. Schriftsteller Navid Kermani im dritten Teil seines Bericht über eine Reise durch Osteuropa im „Spiegel“ (42/2016):

„Nur zögerlich erinnert sich Litauen an den freudigen Empfang, den es den deutschen Truppen bereitete, ungern an die zahlreichen Kollaborateure, erst seit Kurzem an die Hinrichtungsstätten, die es praktisch in jeder Stadt gab, an das Wegsehen der Nachbarn in Vilnius, obwohl die Juden am helllichten Tage, auf offenen Ladeflächen weggeschafft wurden, an die dauernden Gewehrsalven im Wald, die Hilfeschreie, die bellenden Hunde, die im Ort zu hören waren, den Geruch, der unerträglich gewesen sein soll, die Tonnen an Kleidern, die die Bauern am Waldrand billig kauften. Das Dixiklo, das zwischen zwei Kiefern steht, zeigt an, dass in Paneriai nicht mit Massenandrang gerechnet wird.“

Bis Oktober 1941 waren etwa 80.000 Juden Litauens umgebracht worden, Ende des Jahres war die Zahl auf 140.000 gestiegen. Karl Jäger rühmte sich in seinem Bericht von Anfang Dezember, dass das „Judenproblem“ in Litauen gelöst sei. Nur noch in den drei großen Städten Vilnius, Kaunas und Šiauliai bestanden bis 1943/44 Ghettos mit einigen Zehntausend Juden. Auf der berüchtigten Liste der Wannseekonferenz im Januar 1942 wurden nur noch 34.000 überlebende Juden für Litauen aufgeführt.

9000 litauische Bürger jüdischen Glaubens überlebten schließlich die Schrecken des Krieges. Selbst in Polen war die Rate der Auslöschung nicht so hoch. Rund 3000 Juden waren während der deutschen Besatzung von Litauern versteckt worden. Man schätzt die Zahl dieser Beschützer auf etwa 2000; knapp 900 sind in die Liste der „Gerechten unter den Völkern“ aufgenommen worden.

Zu den wenigen Überlebenden gehörten auch die Eltern des im vergangenen Monat plötzlich verstorbenen Leonidas Donskis, des angesehenen und international bekannten Philosophen. Donskis Senior war der Erschießung der 740 Juden aus Butrimonys am 9. September 1941 entkommen.

Die meisten Todesschützen kamen, wie gesagt, aus der örtlichen Bevölkerung. Mindestens 5-6000 Litauer waren direkt an Erschießungen beteiligt. Die Gesamtzahl der am Holocaust in Litauen involvierten Einheimischen wird zwischen 10 und 20.000 geschätzt. Noch viel mehr werden durch den Raub jüdischen Eigentums profitiert haben.

Für ihre Mittäterschaft wurden einige Litauer in der UdSSR abgeurteilt. Doch noch immer ist die Schuld vieler ungesühnt. Als wir vor etwas zwanzig Jahren das „Grüne Haus“ in Vilnius besuchten, Teil des jüdischen Museums in der Stadt, wies eine ältere Mitarbeiterin des Haus, selbst Jüdin, auf ein Foto des Lietūkis-Massakers: Sie legte ihren Finger auf einen der zivil gekleideten Litauer mit einem langen Knüppel in der Hand, der über den Erschlagenen stehend in der Kamera blickte. „Wo ist dieser?“ Wurde er zur Verantwortung gebracht? All diese Männer sind doch keine Unbekannten?!

Der Genozid an der jüdischen Einwohnerschaft ist natürlich Thema in Litauen, doch der Genozid an der eigenen, litauischen Bevölkerung konkurriert damit. Dass das Volk sowohl die Opfer als auch Täter war, ist nicht einfach zu begreifen.  Als der damalige litauische Präsident Algirdas Brazauskas 1995 bei einer Rede in der israelischen Knesset um Verzeihung für die Taten seiner Landsleute während der Kriegszeit bat, löste dies eine Welle der Empörung in Litauen aus. Keiner leugnet offen die Mittäterschaft von Litauern, aber man will sich nicht den Spiegel vorhalten lassen.

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„Die Unsrigen“

75 Jahre nach dem blutigen Sommer nahm sich die Autorin und Journalistin und in Litauen gut bekannte Publizisten Rūta Vanagaitė des Themas an. In Mūsiškiai (Die Unsrigen) geht es um ‘unsere’, die litauische Teilnahme am Holocaust. Bei der Buchvorstellung im Februar nahmen auch zwei Geistliche teil, der populäre katholisch Priester Doveika und der Generalsuperintendent unserer Kirche, Tomas Šernas. Beide hatten Beiträge für das Nachwort des Buches geschrieben und ordnen dort die Ereignisse theologisch ein.

Vanagaitės Buch ist populär geschrieben, mischt Berichte, Zeugenaussagen, längere Zitate, Fotos und ihre eigenen Eindrücke. Historiker kritisierten Mūsiškiai teilweise heftig, kein Wunder, machen doch die Gespräche mit Efraim Zuroff einen nicht geringen Teil des Buches aus. Der „Nazi-Jäger“ genannte Leiter des Simon Wiesenthal-Zentrums wird kaum als Freund Litauen wahrgenommen, nannte er das Land doch ein „sicheres Paradies für Kriegsverbrecher“. Zuroff ist eher für seinen völlig undiplomatischen Ton bekannt, ließ sich aber auf eine Reise mit Vanagaitė zu den Orten des Grauens ein. Die Eindrücke von der Reise finden sich in Mūsiškiai wieder.

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Vanagaitė. Šernas und Doveika bei der Buchvorstellung im Februar

Wie auch immer das Buch im Einzelnen zu bewerten ist – die PR-Expertin Vanagaitė hat erreicht, was Scharen von Historikern nicht schafften oder nicht schaffen wollten: das schwierige Thema der Mittäterschaft von Litauern zum öffentlichen Gespräch zu machen. Mūsiškiai hat inzwischen mehrere Auflagen erlebt. Die letzten noch lebenden Verantwortlichen von damals sterben nun langsam weg; ihnen und den den Opfern wird wohl nicht mehr Gerechtigkeit widerfahren. Doch die Erinnerung an die Mitschuld bleibt, und das ist sicher gut so.

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Gedenken an die ermordeten Juden von Molėtai Ende August

(Ein guten Überblick zum Holocaust in Litauen bietet der Wikipedia-Eintrag; über die Debatte in Litauen s. hier in deutscher Sprache; Bild ganz o.: der jüdische Friedhof bei Užventis.)