Vor 444 Jahren: „Bringt sie alle um!“

Vor 444 Jahren: „Bringt sie alle um!“

Terror in europäischen Großstädten wie Paris droht zum Alltag zu werden. Alle haben dabei noch die Bilder der Anschläge vom 13. November vergangenen Jahres im Kopf, bei denen 130 Menschen getötet wurden. Eine ungewohnte Angst macht sich auf dem Kontinent breit. Doch auch, wenn nun die Propheten der Apokalypse Auftrieb erfahren, sollte man nicht vergessen, welches außergewöhnlich hohe Niveau an persönlicher Sicherheit und Zivilisation des Zusammenlebens erreicht haben. Gerade deshalb ist jeder Tote bei Bombenanschlägen und Massakern so schmerzhaft.

Ein Blick in Geschichte von Paris zeigt, dass man dort in der Vergangenheit schon weitaus Schlimmeres hat durchmachen müssen. In der Nacht vor genau 444 Jahren floss das Blut nicht nur in einzelnen Cafés oder einem Konzertsaal der Hauptstadt Frankreichs, sondern auf so gut wie allen Straßen; nicht einhundert Unschuldige, sondern Tausende mussten 1572 ihr Leben lassen. Eine königliche Hochzeit mündete in das Blutbad der Bartholomäusnacht.

Ein König, ein Gesetz, ein Glaube

Heute bekennt sich nur noch gut jeder zweite Franzose zum Christentum. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist das Land ein Vorposten des Laizismus, der radikalen Trennung von Kirche und Staat. Christlicher Glaube ist auf dem Rückzug und ringt mit Atheismus, Säkularismus und Islamismus; die christlichen Kirchen und Konfessionen tun sich untereinander gar nicht mehr weh.

Ein ganz anderes Bild zeichnete sich im 16. Jahrhundert ab. Auch in den westlichen Nachbar Deutschlands drangen bald die rasch übersetzten Schriften des Reformators Luther ein und fanden breite Leserschaft. Schon 1519 gab es die ersten „Luthériens“ in Frankreich. Bald konnten diese Gläubigen auch eine erste französische Übersetzung der Bibel durch den Humanisten Lefèvre d’Éstaples für ihr (privates) Bibelstudium nutzen. Die staatliche Verfolgung der Bewegung ließ nicht lange auf sich warten. Obwohl ‘Schöngeist’ und einer humanistischen Renaissance zugeneigt, sah sich König Franz I (1515-1547) ähnlich wie die deutschen Kaiser als Verteidiger der einen, wahren katholischen Kirche. Für ihn galt unverrückbar der Satz: „Un roi, une loi, une foi“ (ein König, ein Gesetz, ein Glaube). Schon in den 20er Jahren kam es zu ersten Hinrichtungen (1524 ordnete ein Gericht an, dass die „Gotteslästerer“ mit dem Tode durch Verbrennen zu bestrafen seien), ab ca. 1533 ließ der anfangs noch etwas nachsichtige Franz systematische Verfolgungen einleiten. 1551 erfolgte das kategorische Verbot des evangelischen Glaubens, 1557 hielt die Inquisition Einzug.

Doch das Vordringen des Protestantismus war auch in Frankreich nicht aufzuhalten. Besonders der Adel, abgestoßen durch den Verfall in Königshaus und weiten Teilen des Klerus, wandte sich in Scharen dem ‘neuen’ Glauben zu. Dieser gewann nach dem lutherischen Anstoß schon bald seine eigene Prägung: Schriften und Werk von Franzosen wie Calvin, Farel und Beza gaben der Reformation in Frankreich ihre spezifisch „reformierte“ Gestalt. Bald bezeichnete man die Evangelischen nicht mehr als Lutheraner, sondern als „Hugenotten“, was vermutlich von „Eidgenossen“ abzuleiten ist (Calvin und Farel wirkten vom eidgenössischen=schweizerischen Genf aus). Gemeinden organisierten sich nach calvinistischem Muster und trafen sich 1559 zu einer ersten protestantischen Synode – die Reformierte Kirche Frankreichs (von katholischer Seite nur „religion prétendue reformée“ – vorgeblich reformierte Religion – genannt) war geboren. Um 1560 bekannten sich rund die Hälfte des Adels, ein Drittel des Bürgertums und insgesamt rund eine halbe Million Gläubige in ca. 2000 Gemeinden zu ihr.

Frankreich war nun konfessionell gespalten, simple Unterdrückungsmaßnahmen im Stile Franz I mussten da versagen. Es kam zu einem ersten Religionsgespräch in Poissy 1561 und sogar zu einem Toleranzedikt im folgenden Jahr, das den Protestanten zum ersten Mal Gottesdienstfreiheit zugestand. Doch ein Massaker zerstörte diese Hoffnungen rasch: In Vassy ermordeten Soldaten unter der Führung des fanatisch-katholischen Herzog von Guise 45 wehrlose Evangelische. Nun war das Maß für die Protestanten voll – sie griffen zu den Waffen (gegen den ausdrücklichen Rat Calvins: „Der erste Topfen Blut, den unsere Leute vergießen, wird Ströme Bluts hervorrufen, die ganze Europa überschwemmen.“). Bis 1598 sollten nun acht Religionskriege das Land verheeren und 700.000 Tote hinterlassen.

„Ein Lachs ist mehr wert als 10.000 Frösche“

Trotz der Bürgerkriege sahen sich die Protestanten immer als königstreue Kämpfer für Frankreich, sie stritten in erster Linie für ihre Rechte und gegen die Anführer der katholischen Seite. Mit dem jungen König Karl IX (1560-1574) stand einer der Führer der Hugenotten, Admiral Coligny, sogar in enger Verbindung. Der erfahrene Militär und Staatsmann konnte den geistig labilen und kränklichen König für seinen Plan gewinnen, einen gemeinsamen katholisch-protestantischen Feldzug gegen Spanien in den Niederlanden zu führen. Doch dies stieß auf den Widerstand der Königsmutter Katharina von Medici, die seit 1559 nach dem Tod ihres Mannes, Königs Heinrich II, die Fäden der Macht in der Hand hielt. Sie befürchtete ein schweres Fiasko in den Niederlanden und nur Schaden für Frankreich. Außerdem hielt sie nichts von einem Krieg gegen das katholische Spanien. Um den Einfluss auf ihren Sohn wieder herzustellen, öffnete sich Katharina für den Plan, die Protestanten durch die Ermordung Colignys an ihrer Spitze entscheidend zu schwächen. Der Herzog von Alba hatte diese Idee schon länger und bildlich so umschrieben: „Ein Lachs ist mehr wert als 10.000 Frösche.“

Die Extremisten wie Alba setzten auf die Ermordung Colignys und anderer führender Hugenotten, obwohl sich zu der Zeit gerade erst eine Versöhnung der Lager anbahnte. Auf Betreiben von gemäßigten Katholiken hin war es zum Frieden von 1570 gekommen, der den Protestanten recht weit entgegenkam. Krönen sollte diese Politik eine politische Fürsten-hochzeit: Katharina vereinbarte mit Jeanne d’Albret von Navarra (ein protestantischer Kleinstaat am Rand der Pyrenäen) die Heirat zwischen ihrer Tochter Margarethe und Heinrich, dem König von Navarra. Der junge Heinrich wurde damit zu einem Thronkandidaten, da der französische König und die anderen Brüder Margarethes kinderlos blieben. Die Vermählung wurde am 18. August 1572 in der Kathedrale Notre Dame in Paris vollzogen. Die schöne Margarethe heiratete nur äußerst ungern den bäuerlichen, nach Knoblauch stinkenden und durch zahlreiche Liebschaften verrufenen König aus dem provinziellen Navarra. Es heißt sogar, dass König Karl, ihr Bruder, sie bei der Zeremonie durch einen Schlag auf den Kopf zu einem Nicken, also einem „Ja-Wort“, zwingen musste. Es folgte eine standesgemäße, sich über mehrere Tage hinziehende Feier mit einem fürstlichen Bankett, viel Musik, Tanz, Tierhatzen und Schauspiel, der auch an die Tausend protestantische Adelige als Gäste im Gefolge Heinrichs beiwohnten. Allerdings nahmen die sittenstrengen Calvinisten längst nicht an jedem Vergnügen teil.

Doch die große Hochzeit der Versöhnung sollte sich bald in die „Bluthochzeit“ verwandeln. Den Anfang macht am 22. August das geplante Attentat auf Coligny, der natürlich auch unter den Gästen war. Eine Gewehrkugel verfehlt jedoch ihr Ziel, so dass der Admiral nur verletzt wurde. Tief betroffen zeigt der König viel Mitgefühl für seinen väterlichen Freund. Umso mehr fühlt sich Katharina bestätigt, dass Coligny beseitigt werden muss. Mit ihrem Sohn Heinrich redet sie ihm ein, dass ein Verrat des Admirals und der Hugenotten bevor und die Existenz des Staates auf dem Spiele stehe – die protestantischen Gäste würden einen Anschlag planen.  Der wankelmütige Karl lässt sich überreden und glaubt schließlich selbst an den Abfall des Freundes. Kurzerhand wird Coligny in seinem Krankenquartier erstochen, auf die Straße geschmissen und die Leiche dort weiter verstümmelt.

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Trauszene von Heinrich und Margarete im Film “Die Bartholomäusnacht” (La Reine Margot, 1994; mit Isaballe Adjani und Daniel Auteuil in den Hauptrollen); hinter dem Paar der König und seine Mutter. – Leider sieht Heinrich im Film ganz und gar nicht wie ein 19-Jähriger Jüngling aus!

Der Tag der Vergeltung

Was nun begann, wird sich historisch vielleicht nie völlig aufklären lassen. War es nur ein spontaner Hass auf die Hugenotten, der sich nur unter dem Pariser Volk entlud? Oder war alles genau geplant und organisiert? Oder beides? Welche Rolle spielte Katharina? Wie auch immer – die Extremisten sahen ihr Stunde gekommen. Der König lässt alle Stadttore schließen und die Soldaten alarmieren. Die Initiative ergreift einmal wieder der Herzog von Guise: Unter seiner Führung beginnt nun das Abschlachten unter den Protestanten in der Stadt. Seinen als Katholiken durch ein weißes Kreuz am Hut gekennzeichneten Offizieren ruft er zu: „Der Tag der Vergeltung ist gekommen! Auf Befehl des Königs soll das Gezücht der Gotteslästerer vernichtet werden: Das Tier steckt in der Falle… Laßt es nicht entkommen!“

In der Nacht vom 23. auf den 24. August, den Tag des Hl. Bartholomäus, versinkt die Stadt nun in einen Blutrausch. Die ahnungslosen Protestanten, die sich immer auf ihre Loyalität zum König verlassen haben und meist unbewaffnet sind, werden erbarmungslos umgebracht, jeder Adelige in hugenottisch-schwarzer Kleidung niedergemetzelt. Die ganze Bevölkerung wird von einem Blutrausch erfasst und mordet, raubt, plündert und wirft die Leichen in die Seine. Selbst der aufgestachelte König ruft nun der Menge vom Palast aus zu: „Bringt sie um! Bringt sie alle um!“ Erst nach mehreren Tagen ebbt das Massaker, das inzwischen auch auf die Provinz übergegriffen hat, ab. Am Ende sind rund 4.000 Tote in Paris und 30.000 auf dem Land zu verzeichnen.

Katharina war durch das Ausmaß des Mordens selbst überrascht, zeigte aber überhaupt keine Reue – schließlich hatte sie auch viel erreicht: Die hugenottische Elite war vernichtet, und Heinrich, ihr Schwiegersohn, der als ihr Gefangener das Gemetzel überlebt hatte, war nun ihre Geisel. Auch auf katholischer Seite zeigte man sich triumphierend. Der Kardinal von Lothringen zelebrierte am 8. September einen Dankgottesdienst für diesen Sieg über die Ketzer, und der gerade gewählte Papst Gregor XIII ließ einen Gedenkmünze prägen, auf deren einer Seite ein Engel mit Kreuz und Schwert Hugenotten niedermacht.

„Paris ist eine Messe wert“

Natürlich verhärteten sich nun die Fronten zwischen Reformierten und Katholiken umso mehr. Die Hugenotten verstärkten ihren „Staat im Staate“ in ihren Hochburgen in Südfrankreich. Womöglich wäre Frankreich nun auf noch längere Zeit in Chaos und Bürgerkrieg versunken, wenn es nicht die Persönlichkeit Heinrichs von Navarra gegeben hätte. Er konnte 1576 vom Königshofe fliehen und war nun der unbestrittene Anführer der Protestanten. Doch Heinrich war nicht auf Rache an den Katholiken aus. Er sah sich vielmehr zuerst als Franzose und hatte das Wohl des ganzen Landes im Auge. Schon 1576 sagte er als 23jähriger: „Wir sind alle Franzosen und Bürger desselben Vaterlandes: deshalb müssen wir unsere Zwistigkeiten mit Vernunft und Milde schlichten, und nicht mit Strenge und Grausamkeit, die nur dazu dienen, die Menschen aufzuhetzen.“

Nach dem Tod des letzten Sohnes Katharinas 1589 fiel ihm die Königskrone zu. Allerdings stand Heinrich damit vor einem Dilemma: Die Katholiken waren nicht bereit, einen reformierten König zu akzeptieren, doch mit Gewalt ließ sich dieser Anspruch genauso wenig durchsetzen. Das ganze Volk war kriegsmüde. In dieser Situation leuchtete Heinrich ein, dass er das Land nur dann befrieden, wieder einen und die Protestanten schützen kann, wenn er den katholischen Glauben annimmt: 1593 schwor er feierlich dem reformierten Glauben ab und konnte so 1594 als erster Bourbone zum König Heinrich IV von Frankreich gesalbt werden. Beim Einzug in Paris soll er den klassischen Ausspruch getan haben: „Paris [d.h. die Krone] ist eine Messe wert.“ Nach den letzten Auseinandersetzungen mit den Spaniern hatte das Land 1598 – endlich! – wieder Frieden.

Heinrich erwies sich schließlich als geschickter und weiser Staatsmann durch ein Friedens- und Toleranzedikt, das die innere Einheit des Landes – sein politischer Traum – endgültig herstellen und sichern sollte: 1598 erließ er das „Edikt von Nantes“, welches beiden Konfessionen zu entsprechen versuchte. Gegenüber den skeptischen Katholiken, die hinter der Abschwörung nur ein taktisches Manöver Heinrichs vermuteten, erwies sich der Monarch als Beschützer der katholischen Kirche und tastete die Staatsreligion nicht an. Die Protestanten wurden zwar nicht gleichberechtigt und immer noch als „vorgeblich reformiert“ bezeichnet, aber sie erhielten volle Kultusfreiheit in den Gebieten, wo sie 1596 Gottesdienst hielten, und volle Gleichberechtigung vor Gericht und bei Ämtern. Die Hugenotten wurden vom Makel befreit, einer ketzerischen Sekte anzugehören und wegen ihres Glaubens nicht mehr verfolgt.

Auf das „une foi“ hatte Heinrich damit verzichtet, um die Einheit des Reiches abzusichern. Ja noch mehr: Nur die bewusste Aufgabe dieses Prinzips hatte Frankreich wieder die innere Einheit bringen können. Obwohl das Edikt von katholischer und von hugenottischer Seite auch hart kritisiert wurde (es war eben ein Kompromisswerk!), galt doch Heinrich nun allen Franzosen als „ihr“ König. Leider starb er schon 1610 gleichsam als letztes Opfer der Religionskriege durch eine Attentat. Sein Sohn Ludwig XIII,  von Heinrichs zweiter Frau Maria von Medici streng katholisch erzogen, setzte die Toleranzpolitik nur halbherzog fort, und sein Enkel Ludwig XIV, der absolutistisch regierende Sonnenkönig, wandte sich schließlich ganz von ihr ab. Er ließ die Protestanten wieder unterdrücken, hob das Edikt von Nantes 1685 wieder auf und löste damit einen Massenexodus der Hugenotten ins Ausland aus, der Frankreich nur schadete und für die Aufnahmeländer der Flüchtlinge wie Preußen ein Segen bedeutete. (Zu den Exilanten nach Brandenburg gehörten auch die Vorfahren des Autors dieser Zeilen.) Heinrichs tolerante Gesinnung war eben ihrer Zeit etwas voraus. Es sollte noch bis zur französischen Revolution dauern, bis die Protestanten Frankreichs ohne jede Abstriche anerkannt wurden. Nur geschah dies dann nicht aus dem Geist einer toleranten Religion, sondern wurde inspiriert durch die nichtchristlichen oder antichristlichen Denker der französischen Aufklärung.

Doch glücklicherweise hat sich auch die katholische Kirche verändert – 1997 distanzierte sich Papst Johannes Paul II auf dem Weltjugendtreffen in Paris von dem Jubel seines Vorgängers über das Abschlachten der Häretiker in der Bartholomäusnacht und sprach von einem „schmerzvollen Massaker“. Vor den Teilnehmern aus 160 Ländern legte er – nicht zum ersten Mal – ein öffentliches Schuldbekenntnis für seine Kirche ab: „Christen haben Taten verübt, die das Evangelium verurteilt. Wenn ich die Vergangenheit ins Gedächtnis rufe, so deshalb, weil das Eingestehen des Versagens von gestern ein Akt der Aufrichtigkeit und des Mutes ist, der uns dadurch unseren Glauben zu stärken hilft, damit er uns aufmerksam und bereit mache, uns mit den Versuchungen und Schwierigkeiten von heute auseinanderzusetzen.“