Freude an der Forschung (II)

Freude an der Forschung (II)

Eine kurze Einführung in die Grundlagen der Wissenschaft nach Psalm 111 (Teil 2)

Halleluja! Ich danke dem HERRN von ganzem Herzen im Rate der Frommen und in der Gemeinde. Groß sind die Werke des HERRN; wer sie erforscht, der hat Freude daran. Was er tut, das ist herrlich und prächtig, und seine Gerechtigkeit bleibt ewiglich. Er hat ein Gedächtnis gestiftet seiner Wunder, der gnädige und barmherzige HERR. Er gibt Speise denen, die ihn fürchten; er gedenkt ewig an seinen Bund. Er lässt verkündigen seine gewaltigen Taten seinem Volk, dass er ihnen gebe das Erbe der Heiden. Die Werke seiner Hände sind Wahrheit und Recht; alle seine Ordnungen sind beständig. Sie stehen fest für immer und ewig; sie sind recht und verlässlich. Er sendet eine Erlösung seinem Volk; / er verheißt, dass sein Bund ewig bleiben soll. Heilig und hehr ist sein Name. 10 Die Furcht des HERRN ist der Weisheit Anfang. / Klug sind alle, die danach tun. Sein Lob bleibet ewiglich.

 

III. Herausforderungen für Wissenschaftler

Seine Werke

Unser Psalm gibt einige Grundlagen für die Wissenschaft, aber er stellt für heutige Wissenschaftler in mancher Hinsicht auch eine Herausforderung dar. Denn zuallererst sind die Werke eben Gottes Werke, es ist seine Schöpfung. Das heißt, dass die Schöpfung nicht unabhängig von ihm im Sinne von autonom existiert. Das Universum wurde von Gott geschaffen und wird jeden Moment von ihm erhalten. Ohne Gottes erhaltendes Handeln würde nichts im Universum auch nur eine Sekunde weiterexistieren.

Diese Lehre durchzieht die ganze Bibel. In Hbr 1,3 heißt es: „Er [Jesus], der… alle Dinge durch sein Machtwort trägt [oder erhält]…“ (im AT z.B. Ps 104,29). Das reformierte Westminster-Bekenntnis fasst gut zusammen: „Gott, der große Schöpfer aller Dinge, erhält, lenkt, ordnet und regiert alle Geschöpfe, Handlungen und Dinge vom Größten bis zum Kleinsten durch seine höchst weise und heilige Vorsehung…“ (Art. 5,1)

Das Universum ist also nur unabhängig im Sinne von außerhalb von Gott, nicht-Gott seiend. Es ist kein Gott, aber genauso wenig eine selbständige Maschine, die ohne Gott ganz von alleine läuft. Die Vorstellung der Welt als von Gott völlig unabhängig propagierten als erste die sog. Deisten im 17.–18. Jhdt. Sie selbst nannten sich „Freidenker“ (der Begriff Deismus wird vom lat. deus=Gott abgeleitet, im Unterschied zum Theismus vom gr. theos). Die Deisten leugneten, dass ein allmächtiger Gott die Welt erhält, lenkt und in ihr handelt. Gott existiert zwar, aber er greift nicht in die Natur ein. Er hat die Welt geschaffen – und das war’s. Die Welt läuft wie eine aufgezogene Uhr einfach ab.

Es muss also ein Doppeltes beachtet werden: Auf der einen Seite gilt es gegen Neuheidentum, östlichen Pantheismus, New Age und Feng Shui usw. an der Entgötterung der Kräfte der Natur festzuhalten. Auf der anderen Seite dürfen Mechanismen und Regelmäßigkeiten in der Natur nicht von ihrem Urheber und dem Erhalter der Natur getrennt werden. Es ist eben Gott, der die Welt so geschaffen hat, dass wir ihren Ablauf in der Regel ‘natürlich’ erklären können und sollen. Wissenschaftliche Erkenntnis ohne Erkenntnis des Urhebers, Erhalters und Ordners dieser Schöpfung muss unvollständig bleiben, weil ihm die Grundlage fehlt. Die Werke können wir nicht wirklich erkennen, wenn wir sie nicht als Werke Gottes erkennen.

Wunder          

Vers 4 spricht von den „Wundern“ Gottes. Dass dies Wort oft auch einfach mit „Werken“ übersetzt wird, zeigt, dass es gar nicht so einfach ist, die biblische Vorstellung von Wundern heute zu formulieren. Denn alle Werke gehen direkt oder indirekt auf Gott zurück, und in gewissem Sinne ist die gesamte Schöpfung wunderbar (z.B. in Ps 107 und 136 sind „Wunder“ sehr weit gefasst und beziehen das ‘natürliche’, erhaltende Handeln Gottes mit ein). Auch C.S. Lewis wies auf den Zusammenhang zwischen Gottes allgemeinen und besonderen Handeln im Universum hin: „Jedes Wunder schreibt für uns in kleinen Buchstaben, was Gott auf der Leinwand der ganzen Natur in solch großen Buchstaben gemalt hat, dass wir sie nur schwer erkennen können.“ (Miracles)

David Humes (1711-1776) berühmte Definition, Wunder seien ein Bruch (violation) der Naturgesetze, ist bis heute weit verbreitet, jedoch unangebracht (ähnlich äußerte sich auch schon der Pantheist Spinoza ein Jahrhundert zuvor). Wunder sind nicht „gegen“ die Natur oder außerhalb von ihr; sie sind übernatürlich, d.h. sie können mit den Naturgesetzen nicht ausreichend erklärt werden. Die Naturgesetze beschreiben nicht, was immer passieren muss, sondern nur, was in der Regel, d.h. meist geschieht (s. dazu sehr gut Lewis Essay „Religion and science“). Wunder sind die außergewöhnlichen Manifestationen und Zeichen von Gottes Herrschaft und Macht. Vern S. Poythress: „Wunder erscheinen uns ungewöhnlich und überraschend, aber sie brechen nicht Gottes Gesetze. Sie entsprechen nur einigen unserer Erwartungen und Vermutungen nicht. Aber das ist unser Problem, nicht Gottes.“ („Why Scientists Must Believe in God: Divine Attributes of Scientific Law“)

Wunder im engeren Sinne als übernatürliche Zeichen sind natürlich nur in einer theistischen Weltanschauung möglich. Im Pantheismus gibt es keine Wunder, weil eh alles göttlich ist; und Deismus und Atheismus schließen Wunder von vornherein aus, weil ein Gott nicht existiert bzw. nicht in der Welt handelt.

Wenn der berühmte Astrophysiker Carl Sagan vor über 30 Jahren in Kosmos (immerhin das meistverkaufte Wissenschaftsbuch aller Zeiten) selbstbewusst behauptete, „der Kosmos ist alles, was war, ist und je sein wird“ – d.h. daneben gibt es keine Götter, kein Jenseits, keinen Himmel und keinerlei Wunder – dann ist dies eben kein wissenschaftliches Urteil, sondern ein Glaubenssatz im Rahmen einer Weltanschauung. Wunder geschehen demnach nicht, weil sie nicht geschehen dürfen; weil man nicht an sie glaubt, oder besser: weil man nicht an Gott glaubt. So sprach Richard Lewontin in einer Rezension von Sagans The Demon-Haunted World von einem „Kampf zwischen der Wissenschaft und dem Übernatürlichen“ und bekannte sich dort eindeutig zu seinem materialistischen, anti-theistischen Glauben:

„Wir stellen uns auf die Seite der Wissenschaft…, weil wir uns von Anfang an [!] dem Materialismus verpflichtet wissen. Es ist nicht so, dass uns die Methoden und Institutionen der Wissenschaft irgendwie zwingen würden, eine rein materielle Erklärung der phänomenalen Welt zu akzeptieren. Wir sind im Gegenteil durch unser [eigenes] apriorisches Festhalten an materiellen Ursachen dazu gezwungen… Dieser Materialismus ist absolut, denn wir dürfen [!] keinen göttlichen Fuß in der Tür zulassen.“ („New York Review of Books“, Jan. 09 1997)

Der Brite John Lennox resümiert daher sehr gut:

„Das eigentliche Problem ist nicht ein Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion, bei dem Reihen von Wissenschaftlern geschlossen gegen religiöse Gläubige versammelt wären. Es ist vielmehr der unvermeidliche Zusammenprall zweier diametral entgegengesetzter Weltbilder: der des Naturalismus und des Theismus – ein Zusammenstoß, bei dem Wissenschaftler auf beiden Seiten zu finden sind.“ (Hat die Wissenschaft Gott begraben?)

Echte Klugheit 

Der Psalm endet mit einem wichtigen Grundsatz: „Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang“. „Furcht des Herrn“ ist eine Achtung vor Gott, eine Art Grundtugend, die die Bibel zwar recht häufig nennt, die aber heute ‘aus der Mode’ geraten ist. Sie ist der Anfang aller Weisheit oder Erkenntnis (s. auch Spr 1,7). Hiob war gottesfürchtig (Hiob 1,8), genauso auch der Messias (Jes 11,2‑3). Der Schluss im Buch Prediger: „Lasst uns die Hauptsumme aller Lehre hören: Fürchte Gott und halte seine Gebote; dann das gilt für alle Menschen.“ (12,13; im NT: Lk 1,50; Apg 9,31; 2 Kor 7,1; Kol 3,22; 1 Pt 2,17).

Warum ist aber die Furcht des Herrn, diese Anerkenntnis Gottes und seiner Autorität, bedeutsam für Weisheit, Erkenntnis und konkret Wissenschaft? Tatsächlich gilt, dass wir ohne Gotteserkenntnis nicht wahrhaft klug sind, auch wenn wir noch so viele akademische Titel aufweisen können. Dies liegt letztlich daran, dass die Erkenntnisse von Gott, seiner Welt und uns selbst sehr eng zusammenhängen.

Gott ist der Schöpfer der Welt, der ihren ‘Funktionsmechanismus’ festgelegt hat. Und er hat uns als die erkennenden Subjekte geschaffen. In der Sprache der Erkenntnistheorie gesprochen hat er Subjekt, Objekt und Kriterien geschaffen. Wissen ist Wissen der Realität, Wissen der Kriterien und Normen, und Wissen von uns selbst. Erkenntnis hat diese drei Momente, Horizonte oder Perspektiven. Doch ohne Gott fehlt das verbindende Glied zwischen den dreien. (S. dazu auch Calvins berühmten ersten Satz der Institutio.)

Das Grundproblem der klassischen erkenntnistheoretischen Strömungen ist ihre Suche nach Sicherheit außerhalb von Gott und seinem Wort. John Frame:

„Wenn Menschen versuchen Erkenntnistheorie ohne Gott zu betreiben (wie die Mehrheit der berühmten Philosophen), dann müssen sie etwas Absolutes anderswo als in Gott suchen. Für sie ist dann die Versuchung groß, eines der drei Elemente des menschlichen Erkennens […] zu verabsolutieren oder zu vergöttlichen und die anderen Elemente zu vernachlässigen oder zu verachten. In solchen epistemologischen Systemen gibt es dann aber keinerlei Garantie dafür, dass die drei Elemente in irgendeiner Weise kohärent sind, d.h. sinnvoll zusammenhängen.“ (The Doctrine of the Knowledge of God)

Gott ist der unabdingbare Eckstein im Erkenntnisprozess. Deswegen ist auch alle Erkenntnis in gewissem Sinne Gotteserkenntnis: die Schöpfung kennen heißt Gott kennen; da Gott sich in der Welt/Natur offenbart hat, kennen wir Gott umso besser, je besser wir seine Werke kennen. Auch sich selbst kennen heißt Gott kennen; da Gott sich in uns offenbart hat, kennen wir Gott umso besser, je besser wir uns selbst kennen; wir kennen Gott immer besser als Schöpfer unserer Person, unsere Größe als Ebenbilder, aber auch unsere Sündhaftigkeit, so dass wir Gott als den gnädigen immer besser verstehen.

Genauso können wir aber auch sagen, dass alle Erkenntnis Erkenntnis der Welt ist und Erkenntnis von uns selbst. Aus welcher Perspektive wir auch blicken: alle drei hängen zusammen, und nehmen wir Gott heraus, werden die anderen ‘Bereiche’ in Mitleidenschaft gezogen.

Diese Gedanken bilden natürlich auch den Hintergrund der Argumentation von Paulus in Röm 1,18f. Der Apostel stellt dort dar, dass auch die Nichtgläubigen Gott kennen. Denn sie haben Erkenntnisse von Gottes Welt und von sich selbst. In unserem Zusammenhang: Die sog. Naturgesetze sind Gottes Reden, Handeln in Raum und Zeit. Sie weisen auf ihn hin, sind in diesem Sinne Offenbarung (die allgemeine Offenbarung ist ja auch das Thema von Paulus in Röm 1). Wir begegnen also Gott in den Naturgesetzen! Daher nannte der Entschlüssler des menschlichen Genoms (und Christ) Francis Collins sein Buch The Language of God, und so ist auch Poythress zu verstehen: „Alle Wissenschaftler – Agnostiker und Atheisten eingeschlossen – glauben an Gott. Sie müssen dies, um ihre Arbeit tun zu können.“

Es sei aber schließlich auch noch betont, dass Gottesfurcht zwar der Anfang, nicht aber das Ende aller Weisheit und Erkenntnis ist. Denn Gott will nicht unser Denken ersetzen. Wir sollen ja durchaus nachdenken, forschen usw., aber alles in der Abhängigkeit von Gott.

IV. Herausforderungen für Christen

Schöpfung und Erlösung

Im ganzen Psalm geht es um Gottes erlösendes Handeln wie V. 9 klar sagt. Hat der Psalm daher doch nichts mit Wissenschaft zu tun? Geht alles bisher Gesagte an seiner Aussageabsicht ganz vorbei? Dies wäre nur dann der Fall, wenn Schöpfung und Erlösung nichts oder fast nichts miteinander zu tun hätten; wenn wir sie ganz getrennt voneinander sehen würden. Doch Schöpfung und Erlösung gehören zusammen – viel enger, als dies vielen Christen bewusst ist.

Man betrachte nur einmal die Überschriften, die in manchen Bibelausgaben den einzelnen Psalmen gegeben wurden. Ps 111 wird da z.B. durchaus passend „Preis der Gottesgnade“ überschrieben. Im Blick des Psalms ist aber, wie wir sahen, nicht nur der enge Bereich der Erlösung, des Religiösen im engeren Sinne. Ps 104 wird genannt „Lob des Schöpfers“. Tatsächlich ist dort das Hauptthema die breit und detailliert beschriebene wunderbare Schöpfung. Er mündet jedoch in die V. 27–28: „Es warten alle [Geschöpfe] auf dich, dass du ihnen Speise gibst zu rechten Zeit. Wenn du ihnen gibst, so sammeln sie; wenn du die Hand auftust, so werden sie mit Gutem gesättigt.“ Hier wird Gottes gnädiges Handeln in der ganzen Natur beschrieben. Gott erhält aus reiner Gnade in jeden Moment die gesamte Schöpfung. Zeigt sich in Ps 104 im Rahmen der Schöpfung Gottes Gnade, ist es in Ps 111,5 andersherum: Gott gibt ebenfalls Speise, hier gibt er im Rahmen des Erlösungshandeln etwas Geschaffenes.

Gottes schöpferisches und erlösendes Handeln wird in der Bibel oft mit dem einen Wort „Bund“ bezeichnet, das uns hier in V. 5 begegnet. Mit dem Konzept des Bundes wird jede Beziehung Gottes zu seinen Geschöpfen, ob nun die ganze Natur oder der Mensch, umschrieben. Theologen unterscheiden dabei ganz verschiedene Bünde, und hier im Psalm ist sicher der Sinai- oder Mosebund mit den Israeliten direkt im Blick. Die Unterschiede zwischen den Bünden sind jedoch nicht grundlegender Art. Auch die Schöpfung wird z.B. in Jer 33,20 als Gnadenbund bezeichnet.

So überrascht es nicht, dass in der ganzen Bibel Schöpfung und Erlösung oft sehr eng aufeinander bezogen werden. Das rettende und schöpferische Handeln Gottes wird in Jes 43,1.14–15 verbunden. Die erlösenden Werke Gottes während des Exodus der Israeliten aus Ägypten ähneln denen in der Schöpfung (Teilung von Wasser, Schaffung von Tieren, Ruhetag). Christus, durch den alles geschaffen ist (Kol 1,16; Hbr 1,2), ist auch der Erlöser. Jesus, der Herr über seine Erlösten, die Kirche, ist auch Herr über die Schöpfung (Hiob 9,8; Mk 4,41). Der Erlöste, der Christ, ist eine „neue Schöpfung“ (ein häufiges Thema bei Paulus). Direkt wird in 2 Kor 4,6 Gottes Handeln in Genesis („Es werde Licht“) mit dem erlösenden Handeln im Herzen der Gläubigen („heller Schein in unseren Herzen“) in Verbindung gebracht.

Eine weitere wichtige Parallele: die Schöpfung aus dem Nichts. Die Welt schuf Gott aus dem Nichts. Und das neue Leben in Gott kommt gleichsam aus dem Nichts, denn der unerlöste Mensch ist völlig dunkel (Eph 5,8), finster wie vor der Schaffung des Lichts (Gen 1,3), tot in Sünden (Eph 2,1) bis wir in Christus als eine neues Werk Gottes geschaffen sind (2,10). So wie Gott Adam nach seinem Bildnis schuf (Gen 1,27), so sind die Christen, die neuen Kreaturen, berufen, dem Bildnis Christi immer ähnlicher zu werden (Röm 8,29). Und allgemein gilt, dass die gesamte neue Schöpfung eine Erneuerung, Vollendung der alten (Röm 8,19–21) ist bzw. sein wird. Die Erlösungsgeschichte vollendet die ursprüngliche Schöpfung.

Selbst der Glaube ist nicht nur ein Vertrauen auf das erlösende Handeln am Kreuz. In einer der klarsten Definitionen von Glauben in der Bibel in Hbr 11,3 ist das Objekt des Glaubens das Schöpfungshandeln Gottes. Der Gläubige ist sicher, dass Gott aus dem Nichts geschaffen hat. Dies ist natürlich nicht sichtbar; es gibt eben keinen sichtbaren Anfangspunkt. Deshalb ist Glaube auch nach Hbr 1,1 ein „Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht“. Gott ist ein Gott, der aus dem Nichts schafft. Weil wir das in der Schöpfung so ist, können wir sicher sein, dass er auch im Hinblick auf sein erlösendes Handeln so wirkt und zuverlässig ist; dass unser Heil, von dem wir bisher nicht viel sehen, eines Tages vollendet wird.

Doch wenn all dies so klar ist, wenn die Verbindungen so eng sind – warum sind dann Natur und Schöpfung nur ein Randthema in den Gemeinde und kirchlichen Gruppen? Warum gibt es zahlreiche Literatur zu x-beliebigen geistlichen Themen, aber deutlich weniger zu Schöpfung-Natur-Wissenschaft? Warum sucht man in Litauen fast vergeblich nach Veröffentlichungen zum Thema Christ und Wissenschaft? Warum fragen sich Christen und Nichtchristen gleichermaßen verwundert, was denn christlicher Glaube mit Ökologie, mit Natur- und Tierschutz, mit Klima oder Gesundheit oder eben mit Wissenschaft zu tun haben soll?

An dieser Stelle wäre natürlich ein längerer Ausflug in die Geistesgeschichte nötig. Hier nur so viel: Unter dem Druck der modernen Philosophie und Wissenschaft (Deismus, Aufklärung, Bibelkritik, Darwinismus usw.) haben sich viele Christen seit dem 19. Jhdt. aus Debatten im Bereich Schöpfung-Natur-Wissenschaft zurückgezogen. Man hat die eigene Botschaft gegen Kritik immun gemacht, indem man – in den Spuren Kants – den Glauben vom Wissen trennte. Das Wissen wurde preisgegeben, um wenigstens den Glauben für sich zu behalten und dort, im Privaten, ungestört zu bleiben.

Das Problem: die äußere Welt ‘gehört’ nun der Wissenschaft, die innere der Religion. Der Glaube ließ sich herausdrängen aus der Welt des Geschaffenen, der Fakten, der harten Realität. Die Erkenntnisbereiche werden deutlich getrennt: das Existentiale/Religiöse von dem Wissenschaftlichen/Historischen; eben die Erlösung von der Schöpfung. Auf der einen Ebene befindet sich nun die Welt der Fakten; die Wissenschaft als distanzierte Untersuchung von Sachverhalten; Allgemeinheit und Objektivität. Auf der anderen Seite die Welt der Werte, des Sinns, der Moral, der Liebe, des privaten Glaubens. Und beide Ebenen kommen sich nicht in die Quere.

Unter den Theologen wandte sich als einer der ersten der Deutsche Wilhelm Lütgert (1867–1938) gegen diese Entwicklung. Er betonte: „Schöpfung und Erlösung sind die beiden Brennpunkte der christlichen Gotteserkenntnis. Sie dürfen nicht nur nebeneinandergestellt oder getrennt, sondern müssen miteinander verbunden werden.“ (Schöpfung und Offenbarung) Doch „in der Theologie seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts tritt die Lehre von der Schöpfung hinter die Lehre von der Erlösung zurück. Die Theologie ist Lehre von der Erlösung: Heilslehre […].“ Er bemängelt die „Beschränkung des Offenbarungsbegriffs auf die Person und Geschichte Jesu. Das Alte Testament ist dann nur Vorgeschichte der Offenbarung, die Natur oder Vernunft wird aus der Offenbarung ausgeschlossen.“ Der erste Artikel des Glaubensbekenntnis (über Gott, den Schöpfer) wird auf den zweiten (Gott, der Erlöser) gegründet, anstatt umgekehrt.

Es ist also kein Zufall, dass die Bibel mit der Schöpfung beginnt und dass der Artikel des Glaubensbekenntnisses über Gott, den Schöpfer und Herrn der erste ist. Weil Gott der Schöpfer ist, ist er auch der Gebieter, Richter und Erlöser – nicht umgekehrt.

Konkret wird die Entkoppelung von Schöpfung und Erlösung auch oft in der evangelikalen Evangelisationspraxis sichtbar. Francis Bridger bemerkt dazu: „In der Praxis geht es bei der evangelistischen Verkündigung meistens um die Person Jesu. […] Wir müssen allerdings fragen, ob diese Praxis richtig ist. Wirklich biblische evangelistische Verkündigung (nicht nur an Kindern) muss beim Fundament des christlichen Glaubens einsetzen, d.h. sie darf sich nicht ausschließlich auf Christus konzentrieren, sondern muss den dreieinen Gott bezeugen, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist.“ (Children Finding Faith). Und der deutsche Missionswissenschaftler Klaus W. Müller:

„Diese Zentralität und Konzentration des Evangeliums auf die Person Jesu Christi führte bei den Evangelikalen zu einem anderen, eher unbeabsichtigten Schwerpunkt: Der Sohn wird in der Dreieinigkeit stärker betont. Man spricht von Jesus […].  Vorschnell wird das Evangelium von seinem Kern her gepredigt, anstatt behutsam von außen zu beginnen und beim Kern anzukommen. […] Ein richtiges und tiefes Sündenbewusstsein entsteht nicht daraus, dass wir auf der Sünde herumhämmern, sondern ergibt sich aus einem rechten Gottesbegriff.“ (Vortrag „Das Alte Testament als Rahmenbedingung für die Verkündigung des Evangeliums“)

Müller plädiert dafür, das AT als Basis und Kontext des Evangeliums nicht zu vernachlässigen, denn dort wird Gott ausführlich als der Schöpfer, Richter und Retter vorgestellt (s. auch Paulus Predigten vor nichtjüdischen Zuhörern; dort begann er mit Gott dem Schöpfer: Apg 14,15.17; 17,24). In dem Fehlen jeder Lehre über Gott als den Schöpfer besteht übrigens auch einer der ernsten Schwächen des populären evangelistischen „Alpha“-Kurses.

Konzentrieren Christen sich zu einseitig auf die Erlösung, führt dies auch meist dazu, dass das sog. kulturelle Mandat (wozu auch der Auftrag zur Wissenschaft gehört) vernachlässigt und als weniger geistlich angesehen wird als der evangelistische Missionsbefehl. Chuck Colson (1931–2012) ist überzeugt, dass junge Christen ermutigt werden sollen, Wissenschaftler zu werden; so können sie persönlich zeigen, dass die biblischen Wahrheiten auch auf die Wissenschaften anzuwenden sind. Er schildert in einem Artikel die Begegnung mit einem jungen Mann im Flugzeug. Dieser berichtete dem bekannten Autor, dass dessen Bücher einen großen Einfluss auf ihn gehabt hatten und ihn geistlich wachsen ließen. Er studierte gerade Molekularbiologie, fügte aber hinzu, dass er nach seinem Abschluss als Missionar in Südamerika arbeiten wolle. „In diesem Fall haben meine Schriften Ihr geistliches Leben nicht genug geprägt“, entgegnete Colson. Er fragte den erstaunten Studenten: „Warum meinen Sie, dass Sie nach Südamerika reisen müssen, um dort Gott zu dienen? Was glauben Sie, wie viele Christen als Molekularbiologen tätig sind?“ Natürlich nicht viele. Der junge Mann kam zu dem Schluss, dass er Missionar im Bereich der Molekularbiologie werden wolle.

Colson hat völlig Recht. Wir brauchen nicht nur junge Christen, die eine Missionskarriere einschlagen. Genauso wichtig sind junge Wissenschaftler, deren Maxime ist: „Groß sind die Werke des Herrn; wer sie erforscht, hat Freude daran“.

(Eine litauische Version des Textes erschien 2009 im Journal „Naujasis Židinys-Aidai“; online hier und hier. Bild o.: Louis Pasteur, Gemälde von A. Edelfelt, 1885.)