Demokratischer Despotismus

Demokratischer Despotismus

Mit einem Freund bereiste Alexis de Tocqueville 1831/32 die USA, um im Auftrag der französischen Regierung das Gefängnissystem des Landes zu untersuchen. Der junge Aristokrat nutzte diesen Anlass, um sich endlich dem Thema zu widmen, mit dem er schon Jahre schwanger gegangen war: die moderne Demokratie. Seine Heimat Frankreich rang damals noch mit dieser Staatsform; bis 1848 gab es im Land weniger als 250.000 Wahlberechtigte. In Amerika konnten Europäer dagegen gleichsam einen Blick in die Zukunft werfen. Tocqueville war überzeugt, dass sich die Demokratie durchsetzen würde. Daher war die intensive Beschäftigung mit ihr das Gebot der Stunde.

1835 erschien der erste Band von De la Démocratie en Amérique (Über die Demokratie in Amerika). Tocqueville (1805–1859) war bei der Niederschrift noch keine 30. Aber gleich mit seinem ersten großen Werk schuf er den Klassiker der modernen politischen Philosophie, die bis dahin erste große Analyse der modernen Demokratie, die immer noch als eine der besten gilt. 1840 folgte der zweite Band des umfangreichen Werkes.

Tocqueville glaubte an den Siegeszug der Demokratie. Er betonte aber genauso, dass sie gleichsam „erzogen“ werden muss. Sie braucht lokale Regierung und zahlreiche freie Vereinigungen der Bürger, und sie kann nicht bestehen ohne kulturell verankerte Sitten, ohne eine allgemeine Moral. Schließlich ist für ihr Funktionieren die Religion oder genauer: der christliche Glaube notwendig. In der gekürzten Ausgabe der Demokratie von Reclam findet sich leider nicht das erste Kapitel (nach der Einleitung), in dem Tocqueville gleich auf die religiösen Wurzeln der amerikanischen Demokratie und konkret den Puritanismus eingeht. (In der englischen Ausgabe: „Puritanism was not only a religious doctrine, but also at several points it was mingled with the most absolute democratic and republican theories.“)

Über die Demokratie in Amerika fasziniert bis heute nicht nur wegen seiner tiefen Analyse, sondern auch deshalb, weil Tocqueville auch die Gefahren der Demokratie sah und geradezu prophetische Voraussagen machte. Einhundert Jahre vor F.A. Hayek warnte er vor der „Allmacht der Mehrheit“, und viele Gedanken in den beiden Schlusskapiteln über den neuartigen Despotismus finden sich einhundertfünzig Jahre nach Tocqueville bei Neil Postman (Wir amüsieren uns zu Tode, Die Verweigerung der Hörigkeit).

Tocqueville warnte sicher nicht zufällig ganz am Ende seines Werkes vor einer „ausgedehnten und milden“ Tyrannei, einer „Verwaltungsdespotie“. Sie wird „eine gewaltige, bevormunden­de Macht“ sein, die dafür sorgt, die „Genüsse [der Bürger] zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen“. So verlernen die Bürger den „Gebrauch des freien Willens“, der „mit jedem Tag wertloser und seltener“ wird, weil „die Betätigung des Willens auf einen kleinen Raum“ beschränkt wird, „und schließlich entzieht sie jedem Bürger sogar die Verfügung über sich selbst“. Die Menschen werden „seelisch zermürbt“, so „daß sie die Fähigkeit selbständi­gen Denkens, Fühlens und Handelns nach und nach einbüßen und daß sie dergestalt Schritt für Schritt unter die Stufe des Menschentums hinabsinken“. Am Ende steht „nur noch eine Herde ängstlicher und arbeitsamer Tiere“, „deren Hirte die Regierung ist“.

Tocqueville fragt sich, wie „eine freiheitliche, tatkräftige und weise Regierung jemals aus den Wahlen eines Volkes von Knechten hervorgehen“ kann. Sein Resümee zu Beginn des folgenden Kapitels: „Der Despotismus erscheint mir daher in den demokratischen Zeiten als eine besondere Gefahr.“

Hier nun das gekürzte Kapitel 6 aus Band 2, IV. Teil, entnommen der leider vergriffenen zweibändigen Gesamtausgabe aus dem Manesse-Verlag.

 

Welche Art von Despotismus die demokratischen Nationen zu fürchten haben

[…]

In den früheren Zeitaltern hat man nie einen Herrscher gesehen, der so unumschränkt und so mächtig gewesen wäre, daß er es unternommen hätte, allein und ohne die Mithilfe mittelbarer Gewalten sämtliche Teile eines großen Reiches zu verwalten; es gibt keinen, der je versucht hat, alle seine Untertanen den Einzelvorschriften einer einheitlichen Regel zu unterwerfen, oder der zu jedem hinabgestiegen wäre, um ihn zu schulmeistern und zu lenken. Der Gedanke eines solchen Unterfangens wäre dem menschlichen Geist nie gekommen, und hätte ein Mensch ihn zu hegen vermocht, so hätten die unzurei­chende Bildung, die Unvollkommenheit der Verwaltungsverfahren und die natürlichen Hindernisse, die die gesellschaftliche Ungleichheit erzeugt, ihm bald die Ausführung eines so umfassenden Planes verwehrt.

Man sieht, wie zur Zeit der größten Macht der Cäsaren die verschiedenen Völker, die die römische Welt bewohn­ten, noch unterschiedliche Bräuche und Sitten bewahrt hatten: wenn die Provinzen auch dem gleichen Allein­herrscher unterstanden, wurden sie doch gesondert ver­waltet; es gab in ihnen viele mächtige und unternehmende Gemeinden, und obwohl die gesamte Regierung des Reiches in der Hand des Kaisers allein vereinigt war und er nach Bedarf immer der Schiedsrichter in allem blieb, entzogen sich die Einzelheiten des sozialen Lebens und des Einzeldaseins gewöhnlich seiner Aufsicht.

Die Kaiser besaßen freilich eine unermeßliche Macht, der ein ebenbürtiges Gegengewicht fehlte und die ihnen erlaubte, ungehemmt den Launen ihrer Neigungen zu folgen und zu deren Befriedigung die gesamte Kraft des Staates aufzubieten; sie haben diese Macht oft miß­braucht, um einem Bürger willkürlich Besitz oder Leben rauben; ihre Tyrannei lastete ungeheuerlich auf eini­gen; sie erstreckte sich aber nicht auf eine große Zahl; sie richtete sich auf einige Hauptdinge und vernachlässigte den Rest; sie war gewalttätig und begrenzt.

Käme es in den demokratischen Nationen unserer Tage nun zum Errichten des Despotismus, so besäße er andere Merkmale; er wäre ausgedehnter und milder, und die Entwürdigung der Menschen vollzöge er, ohne sie zu quälen.

[…]

Wenn ich mir die kleinen Leidenschaften der heutigen Menschen vorstelle, die Verweichlichung ihrer Sitten, den Umfang ihrer Bildung, die Reinheit ihrer Religion, die Sanftheit ihrer Moral, ihre fleißigen und geregelten Gewohnheiten, die Zurückhaltung, die nahezu alle im Laster wie in der Tugend üben — dann befürchte ich nicht, daß sie in ihren Staatsoberhäuptern Tyrannen finden, sondern eher Vormünder.

Darum denke ich, daß die Art der Unterdrückung, die die demokratischen Völker bedroht, in nichts der frühe­ren in der Welt gleichen wird; unsere Zeitgenossen könnten deren Bild in ihrer Erinnerung nicht finden. Ich suche selbst vergeblich nach einem Ausdruck, der genau die Vorstellung, die ich mir davon mache, wiedergäbe und sie enthielte; die früheren Worte Despotismus und Tyrannei passen dafür nicht. Die Sache ist neu, ich muß also versuchen, sie zu umschreiben, da ich sie nicht benennen kann.

Ich will mir vorstellen, unter welchen neuen Merkma­len der Despotismus in der Welt auftreten könnte: ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllen. Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller andern fremd gegenüber: seine Kin­der und seine persönlichen Freunde verkörpern für ihn das ganze Menschengeschlecht; was die übrigen Mitbür­ger angeht, so steht er neben ihnen, aber er sieht sie nicht; er berührt sie, und er fühlt sie nicht; er ist nur in sich und für sich allein vorhanden, und bleibt ihm noch eine Familie, so kann man zumindest sagen, daß er kein Vaterland mehr hat.

Über diesen erhebt sich eine gewaltige, bevormunden­de Macht, die allein dafür sorgt, ihre Genüsse zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild. Sie wäre der väterlichen Gewalt gleich, wenn sie wie diese das Ziel verfolgte, die Menschen auf das reife Alter vorzubereiten; statt dessen aber sucht sie bloß, sie unwi­derruflich im Zustand der Kindheit festzuhalten; es ist ihr recht, daß die Bürger sich vergnügen, vorausgesetzt, daß sie nichts anderes im Sinne haben, als sich zu belustigen. Sie arbeitet gerne für deren Wohl; sie will aber dessen alleiniger Betreuer und einziger Richter sein; sie sorgt für ihre Sicherheit, ermißt und sichert ihren Bedarf, erleichtert ihre Vergnügungen, führt ihre wichtigsten Geschäfte, lenkt ihre Industrie, ordnet ihre Erbschaften, teilt ihren Nachlaß; könnte sie ihnen nicht auch die Sorge des Nachdenkens und die Mühe des Lebens ganz abnehmen!

Auf diese Weise macht sie den Gebrauch des freien Willens mit jedem Tag wertloser und seltener; sie beschränkt die Betätigung des Willens auf einen kleinen Raum, und schließlich entzieht sie jedem Bürger sogar die Verfügung über sich selbst. Die Gleichheit hat die Menschen auf dies alles vorbereitet: sie macht sie geneigt, es zu ertragen und oft sogar als Wohltat anzusehen.

Nachdem der Souverän auf diese Weise den einen nach dem andern in seine mächtigen Hände genommen und nach seinem Gutdünken zurechtgeknetet hat, breitet er seine Arme über die Gesellschaft als Ganzes aus; er bedeckt ihre Oberfläche mit einem Netz verwickelter, äußerst genauer und einheitlicher kleiner Vorschriften, die die ursprünglichsten Geister und kräftigsten Seelen nicht zu durchbrechen vermögen, um sich über die Menge hinauszuschwingen; er bricht ihren Willen nicht, aber er weicht ihn auf und beugt und lenkt ihn; er zwingt selten zu einem Tun, aber er wendet sich fortwährend dagegen, daß man etwas tue; er zerstört nicht, er hindert, daß etwas entstehe; er tyrannisiert nicht, er hemmt, er drückt nieder, er zermürbt, er löscht aus, er stumpft ab, und schließlich bringt er jedes Volk so weit herunter, daß es nur noch eine Herde ängstlicher und arbeitsamer Tierer bildet, deren Hirte die Regierung ist.

Ich war immer des Glaubens, daß diese Art geregelter, milder und friedsamer Knechtschaft, deren Bild ich eben gezeichnet habe, sich mit einigen der äußeren Formen der Freiheit meist besser, als man denkt, verbinden ließe, und daß es ihr sogar nicht unmöglich wäre, sich geradezu im Schatten der Volkssouveränität einzunisten.

Unsere Zeitgenossen werden immerfort durch zwei feindliche Leidenschaften bedrängt: sie haben das Bedürf­nis, geführt zu werden, und das Verlangen frei zu bleiben. Da sie weder den einen noch den andern dieser entgegen­gesetzten Triebe ausrotten können, trachten sie beide zu gleicher Zeit zu befriedigen. Sie denken sich eine einzige, schützende, allmächtige Macht aus, die jedoch von den Bürgern gewählt wird. Sie verquicken die Zentralisie­rung und die Volkssouveränität. Das verschafft ihnen eine gewisse Erleichterung. Sie nehmen die Bevormundung hin, indem sie sich sagen, daß sie ihre Vormünder selber ausgewählt haben. Jeder duldet, daß man ihn feßle, weil er sieht, daß weder ein Mann noch eine Klasse, sondern das Volk selbst das Ende der Kette in Händen hält.

Bei dieser Ordnung der Dinge treten die Bürger einen Augenblick aus ihrer Abhängigkeit heraus, um ihren Herrn zu bezeichnen, und kehren wieder in sie zurück.

Es gibt heutzutage viele Leute, die sich mit dieser vermittelnden Form zwischen Verwaltungsdespotie und Volkssouveränität sehr leicht abfinden und die wähnen, die Freiheit der einzelnen gesichert zu haben, wenn sie sie der Nationalgewalt ausliefern. Mir genügt das nicht. Es kommt mir auf die Art des Herrn weit weniger an als auf den Gehorsam.

Ich will indessen nicht bestreiten, daß eine solche Verfassung bei weitem den Vorzug verdient vor einer, die nach der Konzentration aller Gewalten diese in die Hände eines nicht verantwortlichen Mannes oder einer ebensol­chen Körperschaft legte. Unter all den verschiedenen Forrnen, die der demokratische Despotismus annehmen konnte, wäre dies gewiß die ärgste.

Ist der Souverän wählbar oder wird er durch eine tatsächlich wählbare und unabhängige gesetzgebende Gewalt genau überwacht, so ist die Unterdrückung, die er die einzelnen erdulden läßt, manchmal größer; sie ist aber stets weniger entwürdigend, weil sich jeder Bürger während man ihn bedrückt und zur Ohnmacht verurteilt, noch einbilden kann, daß er sich nur sich selber unterwirft, wenn er gehorcht, und daß er der einen seiner Willensäußerungen sämtliche andern opfert.

Ebenso verstehe ich, daß da, wo der Souverän das Volk vertritt und von ihm abhängig ist, die Kräfte und Rechte, die man jedem Bürger wegnimmt, nicht allein dem Staatsoberhaupt, sondern dem Staate selbst zugute kommen und daß die einzelnen aus dem Opfer ihrer Selbständigkeit, das sie der Öffentlichkeit gebracht haben, einen gewissen Nutzen ziehen.

In einem stark zentralisierten Lande eine Volksvertretung einführen heißt also das Übel vermindern, das die übertriebene Zentralisierung verursachen kann, nicht aber es beseitigen.

Ich sehe wohl, daß man auf diese Weise die Eimischung des einzelnen in die wichtigsten Angelegenheiten beibehält; aber in den kleinen und in den privaten Anliegen hebt man sie nicht minder auf. Man vergißt, daß vor allem in den Einzeldingen die Knechtung der Menschen gefährlich ist. Ich wäre persönlich geneigt zu glauben, daß die Freiheit in den großen Dingen weniger nötig ist als in den kleinen, wenn ich dächte, man könne je der einen gewiß sein, ohne die andere zu besitzen.

Die Abhängigkeit in den kleinen Angelegenheit des Lebens zeigt sich jeden Tag und wird allen Bürgern unterschiedslos fühlbar. Sie bringt sie nicht zur Verzweiflung; aber sie ärgert sie fortwährend und verleidet ihnen die Betätigung ihres Willens. Sie löscht sie geistig allmählich aus und zermürbt sie seelisch, wogegen der Gehor­sam, der nur für eine kleine Zahl sehr ernster, jedoch äußerst seltener Anlässe geschuldet wird, die Knechtschaft nur ab und zu sichtbar macht und bloß auf bestimmten Menschen lastet. Vergeblich gibt man diesen gleichen Bürgern, die man derart von der Zentralgewalt abhängig werden ließ, den Auftrag, von Zeit zu Zeit die Vertreter dieser Gewalt zu wählen; diese so notwendige, aber so kurze und so seltene Betätigung ihres freien Willens verhindert nicht, daß sie die Fähigkeit selbständi­gen Denkens, Fühlens und Handelns nach und nach einbüßen und daß sie dergestalt Schritt für Schritt unter die Stufe des Menschentums hinabsinken.

Ich füge hinzu, daß sie bald außerstande sein werden, das große und einzige Vorrecht auszuüben, das ihnen verbleibt. Die demokratischen Völker, die die Freiheit in den politischen Bereich einführten, während sie gleichzei­tig den Despotismus im Verwaltungsbezirk steigerten, sind auf recht seltsame Absonderlichkeiten verfallen. Geht es um die Erledigung kleiner Angelegenheiten, wo der einfache, gesunde Menschenverstand ausreicht, so halten sie die Bürger dazu für unfähig; handelt es sich um die Regierung des ganzen Staates, so übertragen sie diesen Bürgern gewaltige Vorrechte; sie machen aus ihnen ab­wechselnd Spielzeuge des Souveräns und seiner Herren, mehr als Könige und weniger als Menschen. Nachdem sie die sämtlichen verschiedenen Wahlverfahren erschöpft haben, ohne ein geeignetes zu finden, verwundern sie sich und suchen weiter; als ob das Übel, das sie bemerken, nicht weit mehr von der Verfassung des Landes als von der des Wahlkörpers abhinge.

In der Tat ist es schwer, sich auszudenken, wie es Menschen, die auf die Gewohnheit eigener Lenkung völlig verzichtet haben, gelingen könnte, diejenigen richtig auszuwählen, die sie führen sollen; und man wird uns nicht glauben machen, daß eine freiheitliche, tatkräftige und weise Regierung jemals aus den Wahlen eines Volkes von Knechten hervorgehen kann.

Eine Verfassung, deren Spitze republikanisch und deren sämtliche übrige Teile ultra-monarchisch wären, ist mir immer als ein kurzlebiges Ungeheuer erschienen. Die Laster der Regierenden und die Dummheit der Regierten hätten sehr bald ihren Untergang zur Folge; und das Volk, seiner Vertreter und seiner selbst überdrüssig, schüfe freiheitlichere Einrichtungen oder würfe sich bald erneut einem einzigen Herrn vor die Füße.