Das verqueerte evangelische Eheverständnis

Das verqueerte evangelische Eheverständnis

Die Landessynode der Lippischen Kirche beschloss am 23. November vergangenen Jahres mit großer Mehrheit, gleichgeschlechtliche Paare in Zukunft kirchlich zu segnen: „Menschen, die in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, können in einem öffentlichen Gottesdienst den Segen Gottes empfangen.“ (Mehr hier.) Die Kirche liegt damit ganz im EKD-Trend, denn nur noch eine Minderheit der Mitgliedskirchen wie Sachsen verweigert sich öffentlichen Segnungshandlungen.

Es gibt in den verschiedenen Kirchen einzelne Gemeinden bzw. Pastoren, die solche Beschlüsse nicht mittragen wollen. In Lippe hatte die Klasse (Kirchenkreis) Nord mit 16 zu 15 Stimmen den Entwurf der Synode abgelehnt, was aber, so heißt es von Seiten der Kirche, nicht die Mehrheitshaltung zur Homosexualität widerspiegele.

Die Pfarrer der Lippischen Gemeinde in Kalletal-Hohenhausen aus der Klasse Nord äußersten sich in einem Gemeindebrief deutlich ablehnend zum Beschluss der Synode: Homosexualität entspricht nicht dem Willen Gottes. In der Kirche und der regionalen Presse sorgte dies für nicht wenig Wirbel. Teile des Kirchenvorstandes fühlten sich übergangen: „In unserem Leitsatz steht, wir sind eine einladende Gemeinde. Wir sind gerade aber eine abstoßende Gemeinde.“ Ein Jugendmitarbeiter: „Damals [vor 13 Jahren] haben Homosexuelle der Gemeinde den Rücken gekehrt, weil sie sich nicht mehr willkommen fühlten.“ Er hält die Haltung der Pfarrer für falsch: „So kann man das heute nicht mehr machen.“

Landessuperintendent Dietmar Arends bekräftigte: „Die Lippische Landeskirche steht für Toleranz“. Doch damit wollte er wohl kaum den Dissidenten in der Kirche den Rücken stärken, damit sie auch weiterhin offen ihre Position zum Ausdruck bringen. Bekanntlich gilt nicht mehr dies als Toleranz. Mit dem edlen Begriff wird nun eine allgemeine Offenheit für eine bunte Vielfalt von Lehren und Lebensstilen gekennzeichnet. Die Akzeptanz der Homosexualität gehört natürlich dazu.

Es ist fraglich, ob Protest von einzelnen Geistlichen oder Gemeinden irgendwelche Erfolgsaussichten hat. Der Zug ist schon eine Weile abgefahren, und er wird über kurz oder lang überall bei der vollen kirchlichen Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Paaren ankommen. Im Januar beschlossen die Delegierten der Landessynode der rheinischen Kirche die Trauung von Paaren in eingetragener Lebenspartnerschaft; diese wird wie die Ehe von Mann und Frau in die Kirchenbücher eingetragen. Bisher ermöglichte nur die Evangelische Kirche Hessen-Nassau seit 2013 die Trauung homosexueller Paare. Im April will auch die Landeskirche Berlin-Brandenburg diese Praxis einführen. Andere werden folgen. (Einen aktuellen Überblick zur Frage, wie die Landeskirchen mit der Frage der Segnung homosexueller Paare umgehen, gibt es hier.)

„Mit der Jüngerschaft Christi nicht vereinbar“

Es geht ein Riss durch die Kirchen Europas. Im Mai vergangenen Jahres gab die Synode der Protestantisch-Unierten Kirche Frankreichs (Reformierte und Lutheraner) ihr Ja zur Segnung gleichgeschlechtliche Paare. Eine für 2017 in Lyon geplante gemeinsame Reformationsfeier verschiedener evangelischer Kirchen platzte, weil eine Baptistengemeinde mit der Unierten Kirche nun nicht mehr gemeinsam Abendmahl feiern will. Ein Pastor: „Es war zuerst davon die Rede, die fünfhundert Jahre Reformation zusammen zu feiern, in Form eines gemeinsamen Gottesdienstes. In der Tat hat die Entscheidung der Protestantisch-Unierten Kirche Frankreichs, Paare gleichen Geschlechts zu segnen, eine Wunde gerissen zwischen den evangelikalen Kirchen und der Protestantisch-Unierten Kirche Frankreichs, auf nationaler Ebene, und auf der Ebene der Abendmahls-Gemeinschaft. Diese Entscheidung hat einen gemeinsamen Gottesdienst in Frage gestellt und erschwert.“

Die Methodisten des Landes (UEEMF) sehen dies ähnlich. Auch die Evangelische Allianz Frankreichs (CNEF) kritisierte den Beschluss der Synode der Unierten. Die Kirche vermische „die Sorge, homosexuelle Paare in der Kirche aufzunehmen, mit der Segnung einer von der Bibel unzweideutig verurteilten Praxis“. Das bedeute „eine billige Gnade zu fördern“. Die Allianz verwies darauf, dass die Entscheidung von Sète nicht von allen Protestanten mitgetragen werde, und dass die Evangelikalen in Frankreich siebzig Prozent der Protestanten ausmachten. (Mehr hier.)

Schon vor gut zehn Jahren haben die Lutheraner Schwedens die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare eingeführt. In einem offenen Brief der drei baltischen lutherischen Bischöfe an den schwedischen Erzbischof und das Präsidium des Lutherischen Weltbundes hieß es:

„Die Segnung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften ist mit dem Glauben unserer Kirche, mit unserem Glaubensbekenntnis und der Lehre unserer Kirche unvereinbar. Die in unseren Kirchen geltenden Verfassungen und Bestimmungen würden es nicht zulassen, mit unseren eigenen Geistlichen zusammen zu bleiben, welche die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare zulassen oder praktizieren. Folgerichtig betrifft das auch Geistliche in anderen Kirchen. Das bedeutet, daß wir die Gemeinschaft mit allen Geistlichen der Kirche Schwedens nicht mehr anerkennen und praktizieren können. Konsequenterweise heißt das auch, daß es künftig innerhalb des Lutherischen Weltbundes keine volle und uneingeschränkte Gemeinschaft geben können wird.“

Auch in einer Stellungnahme der Bischöfe der lutherischen Kirchen im Baltikum vom November 2009 wird noch einmal bekräftigt, dass „homosexuelle Handlungen mit der Jüngerschaft Christi nicht vereinbar“ sind.

Die lutherische Kirche Litauens – wie auch die reformierte – unterhält seit bald 25 Jahren eine Partnerschaft zur Lippischen Landeskirche. Diese ist in der Mehrheit reformiert geprägt, hat aber auch eine lutherische Klasse von einem Dutzend Gemeinden. Diese praktizieren die Segnungen homosexueller Paare schon seit 2014. Nach den Verlautbarungen der baltischen Bischöfe ist die Kirchengemeinschaft mit den Geistlichen der Lippischen Kirche damit schon aufgekündigt. Über diese anti-ökumenischen Folgen werden sich die dortigen Verantwortlichen wohl eher wenig Gedanken gemacht haben.

Ende April wird eine Delegation der Lippischen Kirche Litauen besuchen, an der Spitze Landessuperintendent Arends. Geplant sind vor allem Treffen mit der reformierten Kirche Litauens. Diese hat zwar keine konkreten Beschlüsse wie die lutherischen Bischöfe über die Kirchengemeinschaft getroffen. Im Jahr 2013 nahm die Synode des Landes aber einen Kanon zu Ehe und Scheidung an, der das traditionelle evangelische Eheverständnis festhält. Wo die theologischen Gemeinsamkeiten zwischen den deutschen EKD-Kirchen und den lutherischen und reformierten im Baltikum noch liegen, wird immer fraglicher.

„Der Mann oben, die Frau unten“

In den großen evangelischen Kirchen Deutschlands hat sich ein Paradigmenwechsel im Hinblick auf die Ehe vollzogen. Führenden Theologen zufolge ist die Ehe unabhängig vom Geschlecht der Beteiligten. Was sie ausmache, sind Verlässlichkeit und Fürsorgebereitschaft. Nach Thomas S. Kuhn (1922–1996) ist es ein Kennzeichen eines neuen, vorherrschenden Paradigmas, dass mit den Anhängern des alten eine rationale Kommunikation mit dem Ziel der Überzeugung so gut wie nicht mehr stattfindet. Man betrachte nur das kurze Video auf evangelisch.de, in dem Christoph Markschies das „evangelische Eheverständnis“ zusammenfasst. Der Kirchengeschichtler und Vorsitzender der Kammer für Theologie der EKD führte dort vor etwa einem Jahr aus:

„Was biblische Texte über Ehe und Familie sagen, das kann man nicht Eins zu Eins in die Gegenwart übertragen. Biblische Texte stellen sich, wenn sie über Ehe und Familie schreiben, meistens eine klassische, hierarchisch geordnete Beziehung vor: der Mann oben, die Frau unten. Auch wenn es immer noch Menschen gibt, die so mit ihrer Partnerin oder ihrem Partner zusammen leben, die allermeisten Christenmenschen finden – Gott sei Dank –, dass man so Ehe und Familie nicht leben sollte. Sie berufen sich dabei durch nicht nur auf den Zeitgeist, sondern auf Jesus von Nazareth. Jesus von Nazareth ist mit Menschen anders umgegangen. Er hat sich bemüht, nicht hierarchisch von oben herab sie zu behandeln,  sondern von gleich zu gleich mit ihnen zu leben. So versuchen wir heute Ehe und Familie aus christlichem Geist in der Nachfolge Jesu zu gestalten, und so können selbstverständlich auch gleichgeschlechtliche Paare zusammen leben.“

Markschies weiß als Fachmann für Geschichte ganz genau, dass das neue evangelische Eheverständnis eben dies ist, nämlich neu. Für alle evangelischen Theologen bis weit ins vergangene Jahrhundert hinein war klar: die Ehe wird zwischen Mann und Frau geschlossen. Und nun sei es schon „selbstverständlich“, dass die Ehe auch zwischen Personen gleichen Geschlechts bestehen kann (dies wird im letzten Satz nicht ausdrücklich bekräftigt, aber klar zu verstehen gegeben).

Haben zeitgenössische Theologen eine Entdeckung gemacht, die man früher lange übersehen hatte? War theologisch Denkenden früher nicht klar, dass die Bibel interpretiert werden muss? Markschies leitet seine Stellungnahme mit einer Binsenwahrheit ein, der er aber sogleich einen bibelkritischen Dreh gibt. Und hier liegt natürlich eine Wurzel des Neuartigen im Eheverständnis. Angeblich waren die Autoren der Bibel im patriarchalischen Denken gefangen. Und dieser Vorwurf gilt dann auch für so gut wie alle Theologen und kirchlichen Leiter in der Vergangenheit. Sie waren alle einer kollektiven Blindheit verfallen, bis uns in jüngster Zeit erklärt wurde, was Jesus wirklich gemeint habe. Mann oben, Frau unten – „Gott sei Dank“ seien wir über diese Sicht der Bibel und der Geschichte hinaus.

Dieser Schritt ist natürlich genial. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Argumenten der Vergangenheit ist gar nicht mehr nötig, denn diese schreckliche Zeit der Unterordnung der Frau haben wir ja nun hinter uns gelassen. Den Anhängern des traditionellen, des evangelischen Eheverständnis, wie es gut vierhundert Jahre (!) einhellig galt, wird mal eben so der Wille oder gar die Fähigkeit zum partnerschaftlichen Zusammenleben abgesprochen. Liest man einen Satz wie „Auch wenn es immer noch Menschen gibt, die…“, müssen die Alarmglocken läuten. Denn da sollen so gut wie immer die Vertreter eines ‘alten’ Paradigmas in die Versenkung der Geschichte gesteckt werden. Genau dazu dienen die wenig schmeichelhaften Etikettierungen.

Markschies weiß als Theologe nur zu gut, dass das neue Verständnis die Bibel in ihrer Gesamtheit eben nicht auf ihrer Seite hat; dass das, was die Bibel als Wahrheit lehrt, nicht das ist, was er als Wahrheit verkaufen will. Genau deshalb müssen manche Autoren ja in ein schlechtes Licht gerückt werden (hier erhält natürlich Paulus für gewöhnlich die meisten Hiebe). Da bleibt ihm nicht viel anderes übrig, als wieder mit Unbestrittenem zu beginnen: „Jesus von Nazareth ist mit Menschen anders umgegangen.“ Das ist wohl wahr. Aber anders als wer? Und was folgt konkret daraus? Welche neuen Maßstäbe hat er denn gesetzt? Hat er etwa das klassische, als „hierarchisch“ gebrandmarkte Eheverständnis hinterfragt? Hat er Ehe neu oder irgendwie anders definiert – anders im Sinne von Markschies? Bekanntlich begegnete er Frauen mit Achtung, und diesem Vorbild folgte auch die frühe Christenheit. Schon das ‘alte’ christliche und evangelische Eheverständnis war gerade auf dem Hintergrund der antiken Kulturen durchaus neuartig. Was soll nun das neue evangelische Verständnis sein?

Auf evangelisch.de gibt es die Blogkategorie „kreuz und queer“. Das englische Wort „queer“ meint ursprünglich Dinge, die von der Norm abweichen und stören. Seit einigen Jahrzenten steht Queer als Begriff für alles, was sich dem „Zwang zur Heteronormativität“ entgegensetzt, gebraucht (manchmal wird das Q für queer auch an LGTB – Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender – gehängt und damit zu LGTBQ). Auch die Kirchen unterhalten inzwischen ein Studienzentrum für Genderfragen und deuten die „befreiende Kraft des Evangeliums“ als „Dekonstruktion von Geschlechterkategorien“. Kein Wunder, dass ein tonangebender Theologe wie Markschies nun ein queeres evangelisches Eheverständnis präsentiert und die Kirchen Schritt für Schritt, aber konsequent dem Zeitgeist hinterher laufen. Quer zum Mainstream will eben keiner mehr liegen, und so sind die wahren Queers, die Normabweichler, in naher Zukunft diejenigen, die am alten evangelischen Eheverständnis festhalten.