Faktencheck: „Tolerant statt sowjetisch“?

Faktencheck: „Tolerant statt sowjetisch“?

Im „Spiegel“ der vergangenen Woche (36/2015) findet sich zu Beginn der Auslandsberichte auf S. 85 ein kurzes Interview mit Artūras Rudomanskis, „Schwulenaktivist aus Vilnius“. Unter der Überschrift „Tolerant statt sowjetisch“ heißt es dort über die „neue Offenheit seiner Landsleute“:

„Spiegel: In vielen Ländern des einstigen Ostblocks, auch im Baltikum, wurden Homosexuelle lange Zeit diskriminiert. Hat sich das in Ihrem Land nun verändert?

Rudomanskis: Ja, eindeutig. Neulich bin ich mit einem Mann Hand in Hand durch Vilnius gelaufen. Ich habe das wie einen Feldversuch betrieben. Das Erstaunliche war: Wir wurden überhaupt nicht angefeindet. Vor Kurzem wäre das ganz anders gewesen.

Spiegel: Und wenn das nur ein Zufall war?

Rudomanskis: Die Stimmung hat sich grundlegend geändert. In Umfragen sprechen sich heute schon doppelt so viele Litauer für gleichgeschlechtliche Partnerschaften aus wie vor zwei Jahren. In Riga im benachbarten Lettland hat in diesem Jahr eine Euro-Pride-Parade stattgefunden; Estland hat ein Gesetz über gleichgeschlechtliche Partnerschaften verabschiedet. Die neue Toleranz ist im gesamten Baltikum zu spüren.

Spiegel: Und wo kommt sie auf einmal her, diese neue Haltung?

Rudomanskis: Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir sie Wladimir Putin zu verdanken haben. Je schwulenfeindlicher Putin und sein Regime sich geben, desto toleranter werden wir Balten. Wir sind jetzt schon mehr als zehn Jahre lang in der Europäischen Union, die Menschen hier wollen ‘europäisch’ sein und möglichst ‘unsowjetisch’.“

Rudomanskis ist ein recht bekanntes Gesicht in Litauen. Der studierte Biologe und Jurist ist Mitarbeiter von zwei sozialdemokratischen Parlamentsabgeordneten in Vilnius und wollte selbst in diesem Jahr für die Sozialdemokraten in den Stadtrat der Hauptstadt gewählt werden (hier stellt der Nachwuchspolitiker sich vor). Seit vielen Jahren steht er der „Toleranten Jugend“ (www.tja.lt) vor und ist nun auch im Vorstand der „Lithuanian Family Planning and Sexual Health Association“. Rudomanskis gehört außerdem zu den Gründungsmitglieder der Gruppe „Neue Linke 95“ (Naujoji kairė 95, NK95).

Eine von Rudomanskis NK95-Bekannten ist Daiva Repečkaitė, die z.Z. Intern beim „Spiegel“ in Hamburg ist und das Interview durchgeführt hat. Die junge Journalistin (www.daivarepeckaite.com) schrieb früher viel für das nicht mehr erscheinende Wochenmagazin „Atgimimas“. Auf ihrer Facebook-Seite führt sie zu dem Interview aus:

„Only a few paragraphs from my long and nuanced interview with Artūras Rudomanskis, a Lithuanian human rights activist, but the message is powerful and, I’m sure, interesting to German readers. Artūras was one of the two activists who repeated the Moscow/ Kiev experiment in Vilnius and regularly writes op-eds to warn against the carbon-copies of Russian government’s homophobic initiatives in #‎Lithuania. Tons of problems remain, but his message for the readers of DER SPIEGEL is -#‎itgetsbetter“

Wie sind nun die Aussagen des Interviews inhaltlich zu bewerten? Ein Faktencheck wie ihn der „Spiegel“ selbst gerne durchführt.

Rudomanskis behauptet, im Hinblick auf die Situation der Homosexuellen im Land, ja im gesamten Baltikum, habe sich etwas „grundlegend geändert“ und zwar „eindeutig“ und in kurzer Zeit. Das genannte Selbstexperiment allein ist dabei kaum aussagekräftig wie ja auch die Rückfrage von Repečkaitė erkennen lässt. Rudomanskis berichtet von einem Stimmungswandel und beruft sich offensichtlich auf eine Umfrage der Meinungsforschungseinrichtung „Rait“ vom November 2014.  Demnach sehen 15% der 1000 Befragten eine gesetzliche Regelung der Registrierung von homosexuellen Partnerschaften positiv oder eher positiv; 8% sprechen sich für das Recht der Homosexuellen auf Eheschließung aus.

Ein Jahr zuvor, im November 2013, hatten die Kollegen von „Vilmorus“ eine ähnliche Umfrage durchgeführt. Vergleicht man die Ergebnisse, ist folgendes festzustellen: Tatsächlich verdoppelte sich in etwa die Zahl derjenigen, die die Registrierung von homosexuellen Partnerschaften positiv oder eher positiv sieht (von 7 auf 15%). Hier ist nun aber zu beachten, dass dies immer noch recht niedrige Zahlen sind und die deutliche Erhöhung auf Kosten derjenigen, die zur Frage keine Meinung haben, gegangen sein könnte. Von einem klaren Wandel wäre nur dann zu reden, wenn sich parallel das Lager der Ablehnenden ebenfalls deutlich verkleinert hat. Höchtswahrscheinlich ist dies nicht der Fall. Die Zahl derjenigen, die die „Homo-Ehe“ negativ bewerten, ging im Vergleich der Umfragen gerade um 2% zurück. Bei nur 1000 Befragten fällt dies statistisch kaum ins Gewicht. Im Herbst 2014 lehnten immerhin 79% die Registrierung von homosexuellen Partnerschaften und 82% die „Homo-Ehe“ ab. Beide Zahlen ähnelt sich sehr, und so dürften auch die 79% ein Jahr zuvor wohl gegen 80–82% gelegen haben.

Eine „neue Toleranz“ ist dieser Statistik kaum zu entnehmen. Man könnte auch das Gegenteil behaupten: Ein großer Anteil der Bevölkerung, die ganz überwiegende Mehrheit, immerhin Vierfünftel, lehnt jede rechtliche Registrierung von Verbindungen homosexueller Paare ab. „Stabile Mehrheiten für die traditionelle Ehe“ – auch solch eine Schlagzeile könnte man aus den Daten zimmern. Es ist zu vermuten, dass die Zahl derjenigen, die eine bewusst positive, „tolerante“ Position vertreten, tatsächlich steigt. Gerade in der Hauptstadt und unter jungen, gut ausgebildeten Leuten ist das konservativ und katholisch geprägte Denken tendenziell eher auf dem Rückmarsch. Breite Veränderungen im ganzen Land oder gar im ganzen Baltikum gibt es damit noch nicht.

Auch der direkte Zusammenhang zwischen Putins Politik und der Stimmung im Baltikum („Je schwulenfeindlicher Putin und sein Regime sich geben, desto toleranter werden wir Balten“) existiert wohl nur in den Köpfen mancher LGTB-Aktivisten. Natürlich lehnen viele im Baltikum, auch die Befürworter „traditioneller“ Werte, die gewalttätigen Übergriffe auf Homosexuelle und die Homophobie staatlicher Stellen und der offiziellen Presse dort ab. Damit sitzt man aber noch nicht im Zug gen „voller Verwirklichung aller LGTB-Rechte“.

Offensichtlich ist bei Rudomanskis/Repečkaitė mehr der Wunsch Vater des Gedankens. Der weltweiten LGTB-Lobby müssen Fortschritte präsentiert werden, worauf ja auch der Hashtag „it gets better“ (es wird besser) hindeutet: eine Kampagne, die die schrittweisen Erfolge (vor allem im Hinblick auf Jugendliche) dokumentiert. Da sehnt man sich dann schon mal „grundlegende Veränderungen“ herbei.

Tatsächlich nehmen Litauen und Lettland (Estland tanzt hier deutlich aus der Reihe und orieniert sich auch in dieser Frage klarer an Westeuropa) zwischen Russland und dem Westen des Kontinents eine Mittelposition ein. Ganz anders als z.B. in Deutschland, wo eine klare Mehrheit die „Homo-Ehe“ befürwortet, lehnt eine ebenso klare und recht konstante Mehrheit in den beiden Ländern diese ab. Rechtlichen Spielraum gibt es hier kaum, da die litauische Verfassung in Art. 38 seit jeher die Ehe als zwischen Mann und Frau definiert, und in Lettland wurde am Ende 2005 die Verfassung geändert, um die „Homo-Ehe“ zu verhindern. Dies ist mit einem Geist echter Toleranz durchaus vereinbar. Denn die bedeutet nicht, dass mit dem Anspruch auf „Menschenrechte“ jeder Lebensstil gutgeheißen wird. Toleranz bedeutet, dass in Vilnius oder Riga Märsche für LGTB durchgeführt werden können und in Lettland der Außenminister Edgars Rinkēvičs, der übrigens litauischstämmig ist, sich offen zu seiner Gleichgeschlechtlichkeit bekennt.

Fazit: „The message is powerful“, weil ein Schwuler in Litauen mit einem Hand durch die Stadt spaziert? – Da hätte die „Spiegel“-Redaktion seiner befristeten Mitarbeiterin etwas genauer über die Schulter schauen sollen. Die grundlegende „Besserung der Stimmung“ ist weitgehend herbeiphantasiert. Litauen wird auf der „Rainbow map“ (s. Grafik o.), die den Grad der Verwirklichung der Rechte der LGBTler farblich wiedergibt, auf absehbare Zeit im hellrot-orangenen Bereich (zwischen dem rot-„homophoben“ Russland und dem saftig-grünen West- und Nordeuropa) bleiben.