„Die wunderbare Oeconomie Gottes“

„Die wunderbare Oeconomie Gottes“

Man kann den Kirchen in Deutschland nicht pauschal vorwerfen, sie hätten im 19. Jahrhundert die Probleme der Industriegesellschaft übersehen. Auf protestantischer Seite ist Johann Heinrich Wichern (1808–1881) zu nennen, der Vater der Inneren Mission. Sein Herz schlug für die Arbeiterschaft. Ähnliches gilt für Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811–1877), von 1850 bis zu seinem Tod katholischer Bischof von Mainz.

MarxDer Münchener Erzbischof Reinhard Marx schreibt in Das Kapital – Ein Plädoyer für den Menschen (2008) über den oft „Arbeiterbischof“ Genannten: „Kein Bischof des 19. Jahrhunderts hat in der gleichen Intensität, Tiefe und Breite die Soziale Frage analysiert und politisch deren Lösung betrieben wie der Mainzer Bischof Ketteler. Deswegen ist er heute noch ein Vorbild für mich. Aber nicht nur für mich, sondern für die ganze Kirche: Papst Benedikt XVI. würdigt in seiner Enzyklika Deus caritas est von 2005 Ketteler als einen der wichtigsten Wegbereiter der kirchlichen Soziallehre.“ Er habe „zeitlebens der Gerechtigkeit nachgejagt“ und „protestierte im Namen der Menschwürde gegen soziale Missstände seiner Zeit, so wie auch wir unsere Stimme gegen die grenzen- und gewissenlose Raffgier einiger weniger und die Ausbeutung vieler erheben. Ketteler war ein Anwalt der sozialen Gerechtigkeit, so wie wir Anwälte für diejenigen sein wollen, die in den wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen unserer Tage unter die Räder zu geraten drohen.“

Ketteler kam, so Marx, zur Überzeugung, dass „ein Eingreifen des Staates mit seiner Gesetzgebungsgewalt“ notwendig geworden war, ein „Programm der politischen Sozialreform“. „Er wurde zu einem der prominentesten Verfechter einer umfangreichen Arbeiterschutzgesetzgebung und einer staatlichen Sozialpolitik.“

1864 erschien in Mainz Kettelers wichtigste Schrift zur „Sozialen Frage“, Die Arbeiterfrage und das Christenthum. Auf der Internetseite der Sozialdemokraten in Rheinland-Pfalz heißt es: „Wegweisend für die katholische Soziallehre wird seine Schrift »Die Arbeiterfrage und das Christentum« aus dem Jahr 1864, die eine bemerkenswerte Nähe zu den Forderungen der Arbeiterbewegung um Ferdinand Lassalle erkennen lässt.“

Tatsächlich griff Ketteler einzelne Vorstellungen wie das „eherne Lohngesetz“ des Gründers des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereines“, einer Vorläuferorganisation der SPD, auf. Der Bischof kritisierte in der Schrift sowohl die Politik der liberalen Fortschrittspartei als auch die der Anhänger Lassalles. In Kapitel VI untersuchte er die „Vorschläge der radikalen Partei“, also der Sozialdemokraten. Hier zeigt sich nun aber, dass Ketteler ganz und gar kein geistiger Vater des modernen Wohlfahrtsstaates war – und Marx Rede von einer „umfangreichen Sozialpolitik“ wird heute eben genau so verstanden. Es ist sogar das Gegenteil zu behaupten: Das „Eingreifen des Staates“ verstand Ketteler deutlich anders als die allermeisten heutigen Sozialpolitiker.

Die Majestät des Volkswillens

Ketteler erörtert in dem Kapitel, auf das wir uns hier konzentrieren,  manche konkreten politischen Maßnahmen und befürwortet z.B., dass man „den Fabrikarbeiter zugleich auch zum Miteigenthümer des Fabrikgeschäftes“ macht. Breiten Raum nimmt die Frage des Eigentums ein:

„Eigenthum wie Autorität haben ihre tiefen und allein festen Wurzeln in der Religion, in dem lebendigen Glauben an Gott, im Christenthum, das uns den wahren und ewigen Gottesglauben lehrt. Sind diese Wurzeln erst abgeschnitten, dann geht es ihnen wie dem Baume, dem man die Wurzeln abgehauen hat; er sieht äußerlich noch aus wie vorher, aber er hat seine Festigkeit verloren.“

Anschließend behandelt der Bischof das nicht weniger grundlegende Thema der Souveränität: „Ob das Gesetz Volkswille oder Königswille ist, ist im letzten Grunde gleichgiltig und einerlei; die Frage aber, die Alles entscheidet, ist die, ob das Gesetz Gotteswille oder einer Menschenwille ist“; ob sich die Mitglieder der gesetzgebenden Kammer nur nach ihrem Willen und dem des Volkes richten oder ob sie auch „einen in der ewigen Ordnung begründeten Willen zum Ausdruck“ bringen wollen.

Ketteler formuliert eine Art Antithese (wie dies etwas später dann der Niederländer Abraham Kuyper nannte): Entweder „wird Gott und Gottes Wille die höchste Quelle, die Norm des Gesetzes und die Sanction sein“ oder aber nicht. Wird die oberste Souveränität Gottes geleugnet, dann „kann Quelle, Norm und Sanction des Gesetzes nur der jedesmalige Gesammtmenschenwille sein, und da es einen solchen nicht gibt und er ihn jedenfalls nicht fassen kann, so muß er sich mit einer Fiction behelfen und bald den König, bald die Majorität einer Kammer oder einer Volksversammlung, bald beide zusammen als die Interpreten dieses Gesammtvolkswillen ansehen.“

Will man sich nicht mehr an Gott und seiner Ordnung orientieren, ergibt sich die Frage, „welches gegründete Bedenken man dann erheben will, wenn die Masse der Menschen, die kein Eigenthum besitzen, einmal durch die Majorität den Beschluß faßt, daß die Besitzenden ihnen einen Theil als Anleihe überlassen sollen. [Hier spielt Ketteler an Forderungen Lassalles an.] In diesem Fall kann es nicht ausbleiben, daß sie später noch weiter gehen, und statt der Anleihe einen Theil als Eigenthum fordern.“

Im „sogenannten modernen Staat“, so hat Ketteler scharf erkannt, ist „nur mehr recht, was die Ständeversammlung per majora entscheidet“. Und weiter: „Die absolut nothwendige Consequenz dieses ganzen Systemes ist: eine Kammer, und was diese eine Kammer bestimmt, ist Gesetz, und wer sich dagegen auf sein Gewissen, auf seinen Glauben, auf hergebrachtes Recht, auf Christus und Gott beruft, ist Hochverräther, er sündigt gegen die Majestät des Volkswillens.“ Wird dieser Volkswille aber nicht mehr durch Gottes Willen kontrolliert, steht der Wegnahme des Eigentums anderer kaum noch etwas entgegen: „Warum soll denn aber ums Himmels Willen diese Majestät auf ein Mal vor dem Geldbeutel der reichen Liberalen stehen bleiben?“

Parallel zu Alexis de Tocqueville und etwa einhundert Jahre vor F.A. von Hayek hat Ketteler also schon recht genau die Gefahren einer unbeschränkten Herrschaft der Mehrheit erkannt. „Wenn diese liberalen Majoritäten mit der Souveränität ihres Willens die tausendjährige Stellung der Kirche mit Hohn wegdecretieren und unser christliches Gewissen in allen seiner Fasern kränken dürfen, dann werden bald andere Majoritäten nachkommen..“ Diese werden nicht nur „Millionen als Subsidien für die Arbeitervereine [Lassalles Anliegen], sondern noch ganz andere Dinge fordern“. Mehrheiten haben nicht automatisch recht. Immer müssen wir fragen: „was war sie [die Mehrheit] berechtigt zu bestimmen?“

Arbeiter

Pflichten der Gerechtigkeit und der Nächstenliebe

Ketteler sei ein „Anwalt der sozialen Gerechtigkeit“, doch man könnte ihn mit Fug und Recht auch einen frühen Neoliberalen nennen. Denn er hielt wenig von staatlicher Umverteilung. „Durch eine Subvention dem Arbeiterstande zu helfen“ gehe „über die von Gott gesetzten rechtmäßigen Grenzen der Thätigkeit der staatlichen Gesetzgebung hinaus“; denn dies greift in ein Gebiet ein, „wo die Staatsgewalt kein Recht mehr hat.“

Der Bischof unterscheidet in der Arbeiterfrage ähnlich wie sein Zeitgenosse Frédéric Bastiat deutlich zwischen den Pflichten der Gerechtigkeit, die einklagbar sind und mit Zwang durchgesetzt werden können, und den Pflichten der christlichen Nächstenliebe. Eingriff in das Eigentum ist denkbar, um für Notleidende das Überlebensnotwendige bereitzustellen (so ja auch F.A. von Hayek), weiter dürfe der Staat jedoch nicht gehen. Ketteler:

„Die Staatgewalt… darf… die Gemeinden verpflichten, also die Eigenthümer in den Gemeinden, für ihre Armen zu sorgen, d.h. von ihrem Eigenthum so viel herzugeben, wie nöthig ist, um diesen Armen die Lebensnothdurft zu gewähren. Über diese Grenze hinaus kennt aber die Theologie eigentlich keine Zwangspflicht zur Milderung der Noth der Mitmenschen, sondern nur eine moralische Pflicht, eine Pflicht der christlichen Nächstenliebe. Der Eigenthümer kann auf dem gerichtlichen Wege gezwungen werden, alle seine Rechtspflichten zu erfüllen… ich glaube aber nicht, daß der Eigenthümer gezwungen werden kann, über jenes vorher angegebene Maß hinaus dem Mitmenschen zur Verbesserung seiner materiellen Lage sein Eigenthum abzutreten. Hier tritt der Unterschied ein zwischen den Pflichten der Gerechtigkeit und den Pflichten der christlichen Nächstenliebe.“

Nächstenliebe ist auch eine echte Pflicht, aber sie kann nicht mit dem Zwang des Gesetzes durchgesetzt werden. Nur durch diese Unterscheidung der beiden Bereiche der Verpflichtung ist ein Raum der Freiheit geschaffen. Nur so ist „jener große Spielraum eingeräumt, dessen sie [die einzelnen Menschen] bedürfen, um ihre Freiheit zum Verdienst und zur Schuld gebrauchen zu können“. In dieser klaren Aufteilung sieht Ketteler die „wunderbare Oeconomie Gottes mit den Menschen hier auf Erden“.

Zur Übung der Freiheit

„Die staatliche Zwangsgerechtigkeit geht nur bis auf eine gewisse Grenze, die zum Schutz Aller und zur Ordnung nothwendig ist. Von da an beginnt das Gebiet der Freiheit, auch der Freiheit des Eigenthums“. Sätze, die man heute nur noch von wenigen Liberalen hört, eigentlich nur noch von Libertären.

Man beachte jedoch, dass dieses „Gebiet der Freiheit“ ein Gebiet der Pflicht ist. Die Formulierung „Freiheit zum Verdienst und zur Schuld“ lässt schon erkennen, dass der Mensch vor Gott verantwortlich ist. „Die bloße Beobachtung der bürgerlichen Gerechtigkeit ist die unterste Stufe des sittlichen Lebens. Wer sich mit dieser Pflichterfüllung begnügt, steht noch auf dem allerniedrigsten Standpunkt des menschlichen Daseins. Über dies Gebiet menschlicher Zwangsgerechtigkeit hinaus liegt jene höhere Gerechtigkeit, die einst Gegenstand des Weltgerichtes sein wird, die uns aber zur Übung der Freiheit und freier Selbstbestimmung überlassen ist.“

Ketteler setzte sich für allgemeine Schutzgesetze der Arbeiter ein. Dies darf jedoch keinesfalls mit breiter staatlicher Umverteilungspolitik verwechselt werden, die der Bischof vehement ablehnte: „Dieses zur Freiheit und freien menschlichen Thätigkeit, ich möchte sagen, zur Würde der Persönlichkeit so wesentlich gehöhrende Verhältniß [d.h. die Unterscheidung der Bereiche der Pflichten] wird aber durch das Project der durch Majoritäten decretierten Staatshilfe gänzlich aufgehoben.“

Die „größten Opfer für sociale Zwecke“ seien früher „ausschließlich durch freiwillige Beiträge“ aufgebracht worden. Nach dem schon in Kettelers Zeiten sich anbahnenden System können „alle Bedürfnisse nur mehr durch ein immer weiter ausgebildetes Steuer- und Zwangssystem, an dem sämmtliche Staaten fast zu Grunde gehen und bei denen freie Selbstbestimmung und Gesinnung gänzlich in den Hintergrund treten, aufgebracht werden.“ Diesem System fehlen „alle Principien der wahren Freiheit“. „Das Christenthum führt die Individualität zur vollen Freiheit, der moderne Geist vernichtet die Individualität selbst in ihrem Eigenthumsverständniß.“

Daher bezeichnet Ketteler den „Vorschlag der radikalen Partei, durch Majoritätsbeschlüsse auf dem Wege der Gesetzgebung und der Steuererhebung dem Arbeiterstand zu helfen“ als „nicht wahrhaft menschenfreundlich“. Nochmals betont er,  „daß es nicht in der Befugnis der Staatsgewalt liegt, in dieser Weise und für solche Zwecke in das Recht des Privateigenthums einzugreifen; daß mit einem solchen Beschlusse der Staat auf eine verhängnisvolle abschüssige Bahn geführt würde“ – es wird bald „noch tiefer in das Eigenthum“ eingegriffen werden.

Der Weg des soziales Ausgleichs

Das „Steuer- und Zwangssystem“ hat sich nun wahrlich immer weiter ausgebreitet. Dass „auf dem Wege der Gesetzgebung und der Steuererhebung dem Arbeiterstand“ geholfen werden soll, ist geradezu selbstverständlich, quer durch die Parteien. Doch von Kettelers „verderbenbringenden“ Prinzipien redet dabei kaum noch jemand.

Kardinal Marx hält ein „Umdenken im Bereich der staatlichen Sozialpolitik“ für geboten; die „Verengung… auf Verteilungspolitik muss revidiert werden.“ Der Staat sei schon jetzt „äußerst engagiert“ und „mit der herkömmlichen Umverteilungspolitik an die Grenzen seiner Möglichkeiten gekommen“. Das Stichwort Staatsverschuldung fällt. Er will dann aber doch nicht den „traditionellen Sozialstaat schlechtreden“. Marx wünscht sich „grundlegende Veränderungen der sozialstaatlichen Instrumente“, doch gleich im nächsten Satz betont er, „der Weg des soziales Ausgleichs“ dürfe nicht verlassen werden. „Soziale Ausschlussmechanismen“ müssen unbedingt bekämpft werden.

An der „Idee sozialer Grundrechte“ und an „Anspruchsrechten“ sei unbedingt festzuhalten. Es bedarf „für jeden und jede der Garantie… einer materiellen Grundausstattung, die allen Menschen… eine Teilhabe an den zentralen Lebensvollzügen der Gesellschaft ermöglicht“. Marx behauptet, „dass der Sozialstaat in einer entwickelten Gesellschaft die institutionalisierte Form der Solidarität ist, auf die jeder Mensch kraft der ihm eigenen, unveräußerlichen Würde einen unbedingten Anspruch hat“. Damit ist die für Ketteler ja so entscheidende Trennung des Bereichs der Gerechtigkeit und der Nächstenliebe im Grunde verworfen. Und wieder rudert Marx im nächsten Satz zurück und will keinen „allumfassenden Versorgungsstaat“ haben, denn dieser sei eine „gefährliche Illusion“. Wäre es dann aber nicht angebracht, die umfassenden sozialen Anspruchsrechte als gefährliche Illusion zu bezeichnen? Denn wenn „Teilhabe an den zentralen Lebensvollzügen der Gesellschaft“ gesetzlich einklagbar ist und sein soll, dann muss ein massives Umverteilungssystem dabei herauskommen.

All dies zeigt, dass Raum für „grundlegende Veränderungen“ eben doch nicht vorhanden ist. Es soll eben doch ordentlich verteilt und Ausgleich geschaffen werden – per Staat und Gesetz. Marx plädiert letztlich für eine Quadratur des Kreises, wenn er am bestehenden Wohlfahrtsstaat und an den traditionellen katholischen Prinzipien, die den Staat in die Schranken weisen, unbedingt festhalten will. So wundert es natürlich nicht, dass man bei ihm keine konkrete Maßnahme findet, wo der „äußerst engagierte“ Staat sich vielleicht etwas zurückziehen könnte. Seine Kritik bleibt immer nur im Ungefähren; gerne zitiert er Johannes Paul II, der in Fragen der Wirtschaft auf der richtigen Fährte war. „Der Wohlfahrtsstaat, der direkt eingreift und die Gesellschaft ihrer Verantwortung beraubt, löst den Verlust an menschlicher Energie und das Aufblähen der Staatsapparate aus… Hand in Hand geht damit eine ungeheure Ausgabensteigerung.“ Marx gibt diese Sätze des verstorbenen Papstes aus Centesimus annus wider. Aber er äußert sich nicht dazu, was in Deutschland gegen das Ausblähen getan werden könnte.

Auch Ketteler war für den Weg des soziales Ausgleichs – aber eben nicht durch staatliche Zwangsgewalt, sondern freiwillig. Und hier richtete er sich vor allem auch an die Kirche selbst. Anstatt sich zum Apologeten des modernen Wohlfahrtstaates zu machen, sollte sie in ihren eigenen Reihen die freie christliche Nächstenliebe predigen und praktizieren. Genau dies wäre treu dem Geist von Kettelers. Außerdem muss sie sich auf ihre Hauptaufgabe konzentrieren: das Evangelium verkündigen und die Gottlosigkeit bekämpfen. Denn, so Ketteler, die „Ursachen der damaligen Lage der Arbeiter, sowie die Bösartigkeit der aus diesen Ursachen hervorgegangenen Wirkungen und Folgen haben ihren wesentlichen und tiefsten Grund in dem Abfall vom Geiste des Christenthums“.

(Den Hinweis auf Kettelers Schrift verdanke ich Prof. Dr. phil. Martin Rhonheimers Vortrag „Christliche Ethik der Freiheit und Kapitalismus“ vom Mai auf der 3. Jahreskonferenz des Ludwig von Mises Instituts in München, s. hier.)