Der lange Schatten Lenins
In der Ukraine wurden die meisten Lenin-Denkmäler erst 2014 vom Sockel gestoßen. In Litauen beseitigte man solche Spuren des Kommunismus schon vor 25 Jahren. Skulpturen von Marx, Lenin und Co. landeten oft im Grūtas-Park in Südlitauen (Foto o.) – ein Freiluftmuseum der Sowjetzeit. Die sozialen und psychischen Folgen von 50 Jahren im kommunistischen System lassen sich jedoch nicht so einfach entsorgen. Politisch und wirtschaftlich hat es das Land weit voran geschafft; in moralischer Hinsicht ist die Gesellschaft immer noch verletzt und hinkt der Entwicklung hinterher.
Vor 25 Jahren drückte dies Vaclav Havel in seiner Neujahrsansprache so aus: „Am schlimmsten ist es, dass wir in einer verschmutzten moralischen Umwelt leben. Wir sind moralisch krank geworden, weil wir es uns angewöhnt haben, etwas anderes zu sagen, als wir dachten. Wir haben gelernt, an nichts mehr zu glauben und einander zu ignorieren – uns nur noch um uns selbst zu kümmern.“ (mehr dazu hier)
Ähnlich Philosophin Nerija Putinaitė über den immateriellen Schaden der Sowjet-Diktatur: „Das größte Übel der sowjetischen Zeit war, dass Menschen allgemeine moralische Regeln verletzten, ohne die keine Gesellschaft bestehen kann. So wurde Diebstahl im sowjetischen Bewusstsein nicht als Verbrechen angesehen und schon gar nicht als unmoralisch betrachtet“. Ähnliches gilt für die Wahrheit. Der Kommunismus war auf Lügen aufgebaut und verdrehte ohne Skrupel Falsches in Wahres und Böses in Gutes. Putinaitė: „Die Relativierung des Guten und der Wahrheit war eine konsequente Folge der Entwicklung des totalitären Staates. Der moralische Relativismus brachte eine Gesellschaft ohne moralisches Rückgrat hervor.“ (Nenutrūkusi styga: prisitaikymas ir pasipriešinimas sovietų Lietuvoje) Schlaues Umgehen von Gesetzen und Regeln, Täuschen und Austricksen – dazu erzog ein gottloses System das Volk.
Die Folgen sind heute an den Hochschulen, eigentlich Ort des Strebens nach Wissen und Wahrheit, zu betrachten. Es wird kopiert, abgeschrieben und geklaut, was das Zeug hält. Selbst Dekane bleiben trotz nachgewiesenem Plagiat auf ihrem Job. Es wird geschätzt, dass 40% der Studierenden Arbeiten bei spezialisierten Agenturen oder Freischaffenden in Auftrag geben und dann an der Uni als eigene einreichen. Eine Bachelor-Arbeit ist für unter 500 Euro zu bekommen, für den Magister braucht man nicht einmal einen Tausender.
Auch Ehe und Familie sind in Mitleidenschaft gezogen. Die Scheidungszahl ist im europäischen Vergleich hoch: Auf 1000 Einwohner kamen 2011 3,4 Eheauflösungen, was in Europa nur noch von Lettland (4) übertroffen wird und weit vor dem ebenfalls katholischen Polen liegt (dort 1,7; Deutschland: 2,3). „Wir sind eine Scheidungsgesellschaft, und das schon eine ganze Weile“, so Soziologin Aušra Maslauskaitė von der Vytautas-der-Große-Universität in Kaunas.
Die Normen der katholischen Kirche haben auch beim Selbstmord ihre Prägekraft verloren. Vor dem Krieg nahmen sich in Litauen nur sehr wenige Menschen das Leben; in den protestantischen Nachbarländern Lettland und Estland waren es deutlich mehr. In der Sowjetrepublik ging die Selbstmordrate dann jedoch ab etwa 1960 steil nach oben. Zählte man 1924 gerade 5 Selbsttötungen auf 100.000 Einwohner, waren es sechzig Jahre später mehr als sieben Mal so viele: 36. Mit Perestroika und Unabhängigkeit kam allgemein Hoffnung auf – die Kurve bekam eine deutliche Delle, doch 1991–96 schoss sie wieder rauf. In dem kurzen Zeitraum stieg die Zahl der Selbstmorde um sage und schreibe 82% an, erreichte ein trauriges Rekordniveau von 44,6 Selbsttötungen auf 100.000 Einwohner. Inzwischen liegt der Wert bei etwa 33 – immer noch weit über dem EU-Durchschnitt von knapp 12.
Selbstmord ist vor allem ein männliches Problem (die Quote der Männer übersteigt die der Frauen um das Sechsfache). Und ganz anders als in der Vorkriegszeit sind die Selbsttötungen zu einem Phänomen des Dorfes geworden. Hier wirkte sich die sowjetische Zwangskollektivierung fatal aus. Man nahm den Menschen ihr Land, und gerade die Männer, Besitzer von Höfen und Oberhäupter von Familien, wurden ihrer angestammten Rolle beraubt. Da auch das Netz der Zivilgesellschaft weitgehend zerstört wurde (freie Kirchen, Vereine), blieb den Menschen oft nur der Alkohol als legales Mittel zur Stressbewältigung. Aber natürlich löst der Schnaps keine Probleme, treibt bis heute gerade viele Männer in den Tod von eigener Hand (nun ist bei Zweidritteln der männlichen Selbsttötungen Alkohol im Spiel). Geschätzt wird, dass täglich um die 450.000 über den Durst trinken, immerhin 15% der Bevölkerung.
Auf diesem Hintergrund wird deutlich, wie groß die Verantwortung der Kirchen ist: Sie haben eine einzigartige Botschaft der Hoffnung, die dem Diesseits wie Jenseits gilt.