„Wir sind moralisch krank geworden“

„Wir sind moralisch krank geworden“

Die „Samtene Revolution“ in der Tschechoslowakei verlief geradezu blitzartig. Nur vierzig Tage nach der Gründung des „Bürgerforums“ wurde Václav Havel am 29.12.1989 zum Staatspräsidenten gewählt. Der Dichter und Dissident, der noch Monate zuvor im Gefängnis gesessen hatte, wurde vom noch mehrheitlich kommunistischen Parlament zum Nachfolger des Kommunisten Husak bestimmt.

Havel war von 1977 bis 1989 insg. etwa fünf Jahre im Gefängnis oder verhaftet; seine längste Inhaftierung dauerte von 1979 bis 1983. Bis 1992 amtierte Havel als Präsident der Tschechoslowakei, ab 1993 bis 2003 war er erster Präsident Tschechiens. Havel verstarb im Alter von 75 Jahren am 18. Dezember 2011.

Havel wurde als Katholik erzogen und äußerte sich meist sehr positiv zur Rolle von Religion und Kirchen. Er war jedoch kein praktizierender Christ und hielt in den Gefängnisbriefen fest: „Ich bin sicher kein richtiger Christ oder Katholik“. Havel glaubte fest an die Wichtigkeit von Verantwortung und Moral, blieb dabei aber immer demütig und selbstkritisch: „Es kann unmöglich jemand so viele Zweifel haben wie ich.“ Aus evangelikaler Sicht schrieb James W. Sire Václav Havel – The Intellectual Conscience of International Politics. An Introduction, Appreciation & Critique.

Zu Havel wichtigsten Reden gehört sein allererste als Staatsoberhaupt: die „Neujahrsansprache an die Nation“, die Havel vor genau fünfundzwanzig Jahren, am 1. Januar 1990, in Prag hielt:

Meine geschätzten Mitbürgerinnen und Mitbürger,

40 Jahre lang hörten Sie von meinen Vorgängern am Neujahrstag verschiedene Variationen über das gleiche Thema: wie unser Land in Blüte stand, wie viele Millionen Tonnen Stahl wir produzierten, wie glücklich wir alle waren, wie wir unserer Regierung vertrauten und welch glänzende sich vor uns auftaten. Ich nehme aber an, Sie haben mich nicht für das Präsidentenamt vorgeschlagen, damit auch ich Sie anlügen würde.

Unser Land steht nicht in voller Blüte. Das enorme kreative und spirituelle Potenzial unserer Nation wird nicht sinnvoll genutzt. Ganze Zweige der Industrie produzieren Dinge, die niemanden interessieren, während es an Dingen fehlt, die wir brauchen. Ein Staat, der sich selbst Arbeiterstaat nennt, demütigt und nützt die Arbeiter schamlos aus. Unsere veraltete Wirtschaft verschwendet die wenige Energie, die wir zur Verfügung haben. Ein Land, das einmal stolz war auf das Bildungsniveau seiner Bürger, gibt so wenig für Bildung aus, dass wir heute diesbezüglich nur die Nummer 72 der Welt sind. Wir haben Boden, Flüsse und Wälder verschmutzt, die uns unsere Vorfahren überlassen haben, und wir haben heute die am stärksten verschmutzte Umwelt in Europa. Erwachsene in unserem Land sterben früher als in den meisten anderen europäischen Ländern.

Erlauben Sie mir eine kleine persönliche Beobachtung. Als ich kürzlich nach Bratislava flog, hatte ich während Gesprächen auch die Gelegenheit, aus dem Flugzeugfenster zu schauen. Ich sah den industriellen Komplex der Chemiefabrik Slovnaft und die riesige Wohnsiedlung Petralka direkt daneben. Dieser Blick war genug für mich, um zu verstehen, dass unsere Staatsmänner und Politiker seit Jahrzehnten nicht aus den Fenstern ihrer Flugzeuge schauten – oder nicht schauen wollten. Keine mir bekannte Auflistung von Statistiken würde es mir ermöglichen, die Situation, in der wir uns befinden, schneller und besser zu verstehen.

Aber all das ist noch nicht einmal das Hauptproblem. Am schlimmsten ist es, dass wir in einer verschmutzten moralischen Umwelt leben. Wir sind moralisch krank geworden, weil wir es uns angewöhnt haben, etwas anderes zu sagen, als wir dachten. Wir haben gelernt, an nichts mehr zu glauben und einander zu ignorieren – uns nur noch um uns selbst zu kümmern. Begriffe wie Liebe, Freundschaft, Mitgefühl, Demut oder Vergebung verloren ihre Tiefe und Dimension. Für viele von uns repräsentieren sie nur psychologische Besonderheiten, oder sie gleichen abhandengekommenen Grüssen aus alten Zeiten, ein bisschen lächerlich im Zeitalter von Computern und Raumschiffen. Nur wenige von uns waren in der Lage, laut zu schreien, dass die Mächtigen nicht allmächtig sein sollten und dass die speziellen Betriebe, die ökologisch reine und hochwertige Lebensmittel nur für diese Mächtigen produzierten, ihre Produkte an Schulen, Kinderheime und Spitäler schicken sollten, wenn unsere Landwirtschaft unfähig sein sollte, sie allen Bürgern zu offerieren.

Das alte Regime, bewaffnet mit seiner arroganten und intoleranten Ideologie, reduzierte die Menschen darauf, Produktionskräfte zu sein, und die Natur darauf, ein Produktionswerkzeug zu sein. Die Regierenden machten begabte und autonome Menschen im eigenen Land zu Schrauben und Muttern einer monströsen riesigen, lärmenden und stinkenden Maschine, deren eigentliche Bedeutung niemandem klar war. So verschliss sie langsam, aber sicher alle Schrauben und Muttern.

Wenn ich über die verschmutzte moralische Atmosphäre spreche, rede ich nicht nur über die Herren, die Biogemüse essen und nicht aus Flugzeugfenstern schauen. Ich rede über alle von uns. Wir haben uns alle an das totalitäre System gewöhnt und akzeptierten es als eine unveränderliche Tatsache – und trugen damit dazu bei, es zu perpetuieren. Mit anderen Worten: Wir alle sind, wenn auch natürlich in unterschiedlichem Ausmass, verantwortlich für den Betrieb der totalitären Maschinerie. Keiner von uns ist nur Opfer. Wir alle sind auch Mitschöpfer.

Warum sage ich das? Es wäre sehr unvernünftig, das traurige Erbe der letzten 40 Jahre als etwas Fremdes zu verstehen, das ein entfernter Verwandter uns vermacht hat. Im Gegenteil müssen wir dieses Erbe akzeptieren als Sünde, die wir an uns selbst begangen haben. Wenn wir das so akzeptieren, werden wir verstehen, dass wir alle, und nur wir alle, etwas dagegen tun müssen. Wir können den früheren Herrschern nicht die Schuld an allem geben, nicht nur, weil das unaufrichtig wäre, sondern weil es die Pflicht, die wir heute haben, stumpf machen würde: nämlich die Pflicht, unabhängig, frei, vernünftig und rasch zu handeln. Lassen wir uns nicht täuschen: Die beste Regierung der Welt, das beste Parlament und der beste Präsident können nicht viel auf eigene Faust erreichen. Und es wäre falsch, von ihnen allein ein allgemeingültiges Rezept zu erwarten. Freiheit und Demokratie schliessen Partizipation und damit die Verantwortung von uns allen ein. Wenn wir das verstehen, dann werden alle Schrecken, die der neuen tschechoslowakischen Regierung vererbt worden sind, nicht mehr so schrecklich erscheinen. Wenn wir das realisieren, wird Hoffnung in unsere Herzen zurückkehren.

Bei der gemeinsamen Vergangenheitsbewältigung können wir uns an etwas anlehnen. Die jüngste Zeit, insbesondere die letzten sechs Wochen unserer friedlichen Revolution, haben das enorme menschliche, moralische und geistige Potenzial gezeigt und die Zivilkultur, die in unserer Gesellschaft unter der erzwungenen Maske der Gleichgültigkeit schlummerten. Wann immer jemand kategorisch behauptet, dass wir dies oder jenes seien, habe ich immer widersprochen und gesagt, dass die Gesellschaft ein sehr geheimnisvolles Wesen ist und dass es unklug wäre, nur dem Gesicht zu vertrauen, das sich einem zeigt.

Ich bin froh, dass ich mich nicht geirrt habe. Überall auf der Welt fragen sich die Leute, woher die sanftmütigen, gedemütigten, skeptischen und scheinbar zynischen Bürger der

Tschechoslowakei die wunderbare Kraft gefunden haben, in wenigen Wochen das totalitäre Joch von ihren Schultern zu schütteln, und erst noch auf einem menschenwürdigen und friedlichen Weg. Und lasst uns fragen: Woher nahmen die jungen Leute, die nie ein anderes System kannten, ihre Sehnsucht nach der Wahrheit, ihre Liebe zum freien Denken, ihre politischen Ideen, ihre Zivilcourage und bürgerliche Besonnenheit? Wie konnte es geschehen, dass ihre Eltern – genau die Generation, die als verlorene Generation galt – sich ihren Kindern anschlossen? Wie kommt es, dass so viele Menschen sofort wussten, was zu tun ist, und dass niemand einen Ratschlag oder eine Anweisung brauchte? Ich denke, es gibt zwei Hauptgründe für das hoffnungsvolle Gesicht unserer heutigen Situation. Zunächst einmal sind die Menschen nie nur ein Produkt der äusseren Welt, sie sind auch in der Lage, eine Beziehung zu etwas Höhergestelltem herzustellen, wie sehr auch die äussere Welt versucht, diese Fähigkeit in ihnen auszulöschen. Zweitens schlummerten die humanistischen und demokratischen Traditionen, über die es so viel Gerede gibt, im Bewusstsein unserer Völker und ethnischer Minderheiten und wurden unauffällig von einer Generation an die nächste weitergegeben, sodass jeder von uns sie zur richtigen Zeit entdecken und in die Tat umsetzen konnte.

Wir mussten aber für unsere heutige Freiheit einen Preis bezahlen. Viele Bürger starben in den 1950er-Jahren im Gefängnis, viele wurden hingerichtet, Tausende von Menschenleben wurden zerstört, Hunderttausende von talentierten Menschen wurden gezwungen, das Land zu verlassen. Diejenigen, welche die Ehre unserer Nationen im Zweiten Weltkrieg verteidigt hatten, diejenigen, die sich gegen die totalitäre Herrschaft auflehnten, und diejenigen, welche es einfach nur schafften, sich selbst zu bleiben und frei zu denken – sie alle wurden verfolgt. Wir sollten sie alle nicht vergessen, die auf die eine oder andere Art und Weise für unsere heutige Freiheit bezahlt haben. Unabhängige Gerichte sollen unparteiisch die Schuld derer, die verantwortlich waren, verfolgen, damit die Wahrheit über unsere Vergangenheit voll offenbart werden kann.

Andere Nationen haben noch teurer bezahlt für ihre jetzige Freiheit, indirekt haben sie auch für unsere Freiheit bezahlt. Die Flüsse von Blut, die in Ungarn, Polen, Deutschland und vor kurzem auf so entsetzliche Weise in Rumänien geflossen sind, sowie das Meer an Blut, das in der Sowjetunion vergossen wurde, dürfen nicht vergessen werden. Diese grossen Opfer waren tragischer Hintergrund der heutigen Freiheit und der allmählichen Emanzipation der Völker des Ostblocks und damit Hintergrund unserer eigenen neu gewonnenen Freiheit.

Unser Staat soll nie mehr ein Anhängsel oder ein armer  Verwandter von jemand anderem werden. Wir können zwar viele Dinge von anderen lernen – aber wir werden dies in Zukunft als gleichberechtigter Partner tun, der auch etwas zu bieten hat.

Unser erster Präsident schrieb: «Jesus, nicht Caesar.» Wir haben nun eine Gelegenheit, diese Idee weiter zu verbreiten und ein neues Element in die europäische und globale Politik einzuführen. Präsident Masaryk stützte seine Politik auf die Moral. Lassen Sie uns versuchen, dieses Konzept der Politik in einer neuen Zeit und auf neuem Wege wiederherzustellen.

Politik ist nicht einfach die Kunst des Möglichen, vor allem wenn diese Kunst Spekulation, Berechnung, Intrige und geheime Absprachen meint. Politik ist vielmehr auch die Kunst des Unmöglichen, sie soll die Menschheit und die Welt verbessern. Geschätzte Mitbürger – die Regierung kehrt zu Ihnen zurück!

 

Quelle: Website des tschechischen Präsidenten: http://old.hrad.cz/president/Havel/speeches/

Übersetzung: Christian Nünlist