Die Herausforderung des A/Theismus

Die Herausforderung des A/Theismus

„Vom Ende des Theismus“

„Atheistisch an Gott glauben?“ Diesen provokanten Titel trug ein Aufsatz von Dorothee Sölle (1929–2003), der erstmals vor fast fünfzig Jahren, 1966, erschien. Die Theologin definiert eingangs Theismus bzw. Atheismus: „Annahme eines wie immer ge­arteten himmlischen oder personalen Gegenübers oder Ablehnung einer solchen Vorstellung.“ Kann es da einen Mittelweg geben? Kann man Gott leugnend an ihn glauben?

Sölle erläutert, dass unter „atheistisch an Gott glauben“ der christliche Glaubensvollzug „als eine Art Leben verstanden wird, das ohne die supranaturale, überweltliche Vorstellung eines himmlischen Wesens auskommt, ohne die Beruhigung und den Trost, den eine solche Vorstellung schenken kann“. Ein Glaube ohne den traditionellen Gott, der „trotzdem an der Sache Jesu in der Welt“ festhält.

Sölle meint, dass schon in der Urgemeinde die „konkrete gesellschaftliche Praxis“, die „in Christus gegenwärtige Agape“, „das Entscheidende und von der Umwelt Unterschei­dende“ war – „nicht bestimmte Bewußtseinsinhalte“, „nicht der allgemeine metaphysische Rahmen“. Das Christliche mache aus, „daß man die ganze ungeteilte Welt mit den Augen Gottes an­sieht“. Mit dem Begriff „Augen Gottes“ meint sie eine Haltung des „Mutes, der Chancen dort entdeckt, wo endgültige Feststellungen gemacht werden; der Frieden wittert, wo Streit herrscht; es sind die Augen jener Liebe, die nichts und niemanden aufgibt…“

Es überrascht nicht, dass Sölle „die Frage nach den faktischen Ereig­nissen von Ostern“ für „höchst unproduktiv“ hält. „Man muß fragen, wohin Christus auferstanden ist.“ Doch sicher nicht in den Himmel: „Er ist auf dem Wege über das Bewußtsein einiger Leute in die Geschichte aller Leute auferstanden und zum Prüfstein unserer Geschichte und zugleich zu ihrer Hoffnung geworden.“

Das Christentum, befreit von jedem Lehrsystem, reduziert sich somit auf Ethik, was Sölle auch offen bekennt. Der christliche Glaube ist für sie eine Art „Bewegung, die vom Bild und Zeugnis des Menschen Jesus ausgeht zu allen Menschen hin.“ Es bleibt das Beispiel von Jesu Leben und Sterben, dass uns vorbildlich zeigt, „wie menschliches Leben aussehen kann.“ Im Kreuz Jesu drückt sich „die bedingungslose Liebe zum anderen Menschen, die zur Hingabe des eigenen Lebens führt“, aus. Das ist „der einzige Sinn der Existenz“ und Wahrheit.

Auch im Aufsatz „Wer ist Jesus Christus für uns heute?“ (in: Glauben denken. Eine Einführung in die Theologie, 2002) viele Jahre später geht Sölle ebenfalls „vom Ende des Theismus“ aus, was sie recht kategorisch so erläutert: „Die Vorstellung eines höchsten Wesens an der Spitze der Pyramide des Seins, das alle Ordnungen ins Dasein gesetzt hat und sie erhält, ist nicht mehr denkmöglich.“ Gott sei kein „feststellbares, erforschbares Objekt, das zum Beispiel fotografiert werden kann“. Nun lässt sie erkennen, dass „Erfahrungen mit Gott… auch heute gemacht werden“, dass aber bisherige theistische bzw. atheistische Sprache dies nicht zum Ausdruck bringt und nicht kommuniziert. Sie sieht „Atheismus und Theismus gleich weit von einem das Leben bestimmenden, existentiellen Glauben entfernt.“ Deshalb ist ihr „die Frage nach Atheismus oder Theismus immer unwichtiger geworden“. Sölle betrachtet „den Tod des theistischen Gottes“ als Chance, „endlich konkret, auf die Lebenspraxis bezogen von Gott zu reden. Das bedeutet, Gott zu bezeugen in einer vom Tod beherrschten und auf den Tod hin orientierten Welt.“06448-7_Wind_Soelle_Rebellin_U1.indd

Sölle will Gott als Gegenüber, als „Du“, nicht leugnen. Was sie ablehnt, ist eine bestimmte Gottesvorstellung: „Die in der klassischen Theologie entwickelten Symbole der Absolutheit, nämlich Allwissenheit, Allgegenwart und Allmacht Gottes, können das, was die biblische Erfahrung von Menschen mit Gott meint, nicht wirklich, nicht realitätsnah ausdrücken. Sie verleihen dem Begriff Gott ein äußerstes Maß an Transzendenz, das der religiösen Erfahrung widerspricht. Diese Über-Transzendenz oder absolute, unbezogene Transzendenz läßt die Erde gottlos zurück. Geist und Materie stehen sich dualistisch unversöhnt gegenüber…“

Sölle verwirft den „Gott der absoluten Transzendenz“; sie lehnt einen autoritären Glauben ab, fordert mit Erich Fromm eine „humanitäre“, „nichtrepressive Religion“: „Ihr Ziel ist nicht Unterwerfung und Gehorsam, sondern Vereinigung mit dem Willen Gottes, wie sie exemplarisch in Jesu Leben und Sterben sich vollzieht“.

Gott in seiner „Selbst-Demontage“

Sölle hatte nie ein kirchliches Lehramt in Deutschland inne, ist aber immer noch eine der meistgelesenen christlichen Autoren des Landes. Ihr Einfluss kann kaum überschätzt werden, schaffen es ihre Texte doch in theologische Anthologien und bis in den Religionsunterricht. Zu Sölles Lebzeiten standen ihr Kirchenleitungen recht reserviert gegenüber; inzwischen äußern sich auch Bischöfe nur noch lobend über sie.

Und das überrascht wenig. Ablehnung des Blutopfers Christi („Gott wird in die Schuhe geschrieben, auf Blut zu stehen“) oder Skepsis gegenüber Dogmatismus („weniger dogmatisch, weniger verkopft, weniger männerzentriert“) ist heute Gang und Gäbe. Zu beachten ist außerdem, dass Sölle sich in späteren Jahren immer eindeutiger der Mystik zugewandt hat und daher – ganz ähnlich wie Karl Rahner – meinte: „Die Religion des dritten Jahrtausends wird mystisch sein oder absterben.“ In ihrer „Theopoesie“ (statt Theologie) rückten die Erfahrung der Vereinigung mit Gott und Bilder wie Tiefe, Abgrund, Wasser und Meer in den Mittelpunkt. Das mystische Denken hat sie bewusst mit politischem und gesellschaftlichem Handeln verbunden, was sich auch im Titel Mystik und Widerstand (1999) widerspiegelt. Sölle bezeichnete dies späte Werk als ihr wichtigstes.

Sölle schlug vor Jahrzehnten eine Bresche, und nun ist vielfach zu hören, dass das Christentum sich auf einen neuen Pfad begeben müsse: mystisch, antidogmatisch, lebensnah, nachmetaphysisch. „Atheistisch an Gott glauben“ formulierte Sölle 1966 paradox; Gianni Vattimo sucht nun einen christlichen Glauben Jenseits des Christentums, wie ein Sammelband von Aufsätzen des Italieners heißt. Für den Philosophen Vattimo (geb. 1936) ist Gott nicht ein Etwas, keine Person, die irgendwo auf uns wartet; er existiere nur in und durch seine „Selbst-Demontage“. „Gott als letztes Fundament“, „als absolute metaphysische Struktur des Wirklichen“, sei nicht mehr vertretbar. Vattimo will neu an Gott glauben, aber „nicht an den Gott der Metaphysik“. Dieser Weg würde „eine erneute Möglichkeit der religiösen Erfahrung“ freimachen. Konkret hofft er auf eine „Spiritualisierung des Christentums“. Die Liebe solle „an den Platz des traditionelles Wertes der Wahren aufrücken“.

Vattimo steht bewusst in der Tradition von Nietzsche und Heidegger, die beide wohl hauptverantwortlich für das antimetaphysische Denken in Philosophie und Theologie sind. Nietzsche hatte in Die fröhliche Wissenschaft (1882/87) den Tod Gottes proklamiert (in der Rede des „verrückten Menschen“). Heidegger glaubte (s. dessen Aufsatz „Nietzsches Wort ‘Gott ist tot’“), dass damit nur das „Christentum“, aber nicht das „christliche Leben“ getroffen werde; eine „Auseinandersetzung mit dem Christentum“ müssen unbedingt von einer „Bekämpfung des Christlichen“ unterschieden werden, genauso die „Kritik der Theologie“ und die „Kritik des Glaubens“.

Vattimo Vilnius 2013

Vattimo in Vilnius im Jahr 2013

Heideggers Einfluss kann hier nicht weiter untersucht werden. Doch ohne ihn wären Sölles „atheistischer Glauben“ und die Hinwendung zur Mystik (bei der auch Heidegger landete) wohl kaum denkbar gewesen. Zur Kritik sei hier nur auf Wolfhart Pannenbergs Metaphysik und Gottesgedanke hingewiesen: „Bei Heidegger wird also Theologie nicht, wie es der mittelalterlichen Tradition entspräche, als ‘Wissenschaft von Gott’ aufgefasst, sondern als Glaubensreflexion… Der Glaube wiederum wird nur als Existenzvollzug thematisiert. Von einem Gegenstand des Glaubens, der dem Glaubensakt vorausginge, kann nach Heidegger keine Rede sein, denn ‘Offenbarung ist keine Übermittlung von Kenntnissen’.“ Pannenberg dagegen: „Christliche Theologie ist, im Gegensatz zu ihrer Darstellung bei Heidegger, wesentlich Wissenschaft von Gott und seiner Offenbarung.“

„Nur der Christ kann ein Atheist sein“

Über die Herausforderung der „Neuen Atheisten“ wie Dawkins, Hitchens, Harris schreiben Evangelikale Bücher und halten Vorträge; in öffentlichen Debatten nehmen sie deren Argumente auseinander. Und das zu Recht. Mit den Thesen der bekennenden Atheisten sollte man sich beschäftigen, doch die konkrete Gefahr, die von diesen Autoren für das geistliche Leben von bekennenden Christen ausgeht, ist wohl eher gering. Wer fällt schon vom Glauben ab, wenn er Sam Harris aggressives und auf weiten Strecken unsachliches Pamphlet A Letter To a Christian Nation liest?

Dieser neue kämpferische Atheismus ist ein wichtiges Thema für die Apologetik, da Dawkins und Co. natürlich das öffentliche Bild des Christentums beeinflussen wollen und mit ihren provokanten Aussagen dies in Teilen natürlich auch erreichen. Der direkt schädliche Einfluss auf die evangelikale Welt dürfte dagegen nicht zu groß sein. Schließlich sind die Fronten völlig eindeutig.

Ein viel größere Herausforderung für die Evangelikalen selbst, so vermute ich, ist derweil nun der A-Theismus: die Grauzone zwischen klassischem Theismus und eindeutigem Atheismus, die gesamte postmoderne Gottesauffassung, die sich im Zuge von Sölle und der Gott-ist-tot-Theologie entwickelte und nun bis Vattimo reicht. Deren Bücher finden sich wohl in kaum einer evangelikalen Buchhandlung, und für die Bekenntnistreuen ist Sölle seit den 60er Jahren ja ein rotes Tuch. Damit verlor man den A-Theismus aber auch vom theologischen Radar – und nun wandert er in der Gestalt von Peter Rollins wieder herein. Und war das Paradoxe bei Sölle noch provokativ, so ist es nun ganz en vogue (Rollins liebt geradezu paradoxe Formulierung, s. sein Buchtitel Der orthodoxe Häretiker).

In einem BBC-Interview 2009 über „Gott, Kirche, Ethik“ antwortete der Nordire auf präzise Fragen wie „Glauben Sie an Gott?“ nun schon gewohnt mehrdeutig: „‘Ja und Nein’, gefolgt von einer Parabel einer Illustration, einer Geschichte, einem kryptischen Zitat“, so Interviewpartner W. Crawley. Rollins: „Ich denke manchmal, dass es möglicherweise einen Gott gibt, aber für mich ist das keine christliche Frage. Die christliche Frage ist nach der Umkehr, ob Gott inmitten und unter uns ist; es geht darum, dass wir die Gesellschaft zum Guten verändern… Gottes Existenz ist keine Ja- und Nein-Antwort. Stattdessen ist Gott mehr etwas Relationales.“ Das hätte Sölle fast genauso sagen können.

Der einflussreiche und wichtige Vertreter der emerging church macht sich auch in einem kurzen Video („A/Theism“) auf Peterrollins.net Gedanken zur Gottesfrage (s. Ausschnitt ganz o.). „Nur der Christ kann ein Atheist sein“, so Rollins zu Beginn. „Erstaunliche Einsicht des Christentums“ sei, dass Gott „jenseits aller Vorstellung“ oder Begriffe (conceptions) liegt. Er „kann nicht mit Sprache erfasst werden“. Der Christ sagt zu Gott: „Keine Vorstellung von Gott kann Dir gerecht werden.“ Im Vaterunser sollen Gläubige Gott „Vater“ nennen, der aber viel größer als ein irdischer Vater ist. Hier ist an ein analogisches Verständnis zu denken, und deshalb, so Rollins, wurden die ersten Christen Atheisten genannt. Nicht nur, weil sie den heidnischen Polytheismus ablehnten, sondern auch „weil sie an ihren Gott glaubten und auch wieder nicht glaubten“. Rollins spricht von einer „radikalen Weise, in der wir [Christen] Atheisten sind“, womit er meint: Gott ist viel wunderbarer, als wir uns je vorstellen können.

In Rollins How (Not) to Speak of God sehen wir, wie die Ethik oder Lebenspraxis ganz in den Vordergrund rückt (wie bei Sölle oder Vattimo). Er will Orthodoxie neu definieren: „‘richtiger Glaube’ wird zu ‘auf die richtige Art glauben’.“ Was glaubst du?, die Frage nach den Inhalten, wird zur Seite geschoben. „Wie glaubst du?“ rückt bei Rollins an die erste Stelle. Orthodox ist nach Rollins Vorstellung dann jemand, „der mit der Welt in der rechten Beziehung steht, nämlich in der Weise der Liebe“. Liebe bleibt bei ihm als einziges Prinzip der Ethik und der Erkenntnis Gottes übrig: „die einzige religiöse Erkenntnis, die irgendetwas wert ist, ist die Liebe“.

In Kapitel 2 des Buches erläutert Rollins seine Sicht von Theologie (vielsagend „The aftermath of theology“). Gott sei kein „theoretisches Problem“, das es zu lösen gelte, sondern vielmehr „ein Geheimnis, an dem man partizipiert“. Theologie bezeichnet er nicht als unser Reden von Gott, sondern als der Ort, an dem und in den hinein Gott spricht. Wir betreiben also nicht so sehr Theologie, wir werden von ihr überwunden und verwandelt. Gott ist nicht das Objekt und wir das Subjekt. Vielmehr gilt umgekehrt, dass Gott ganz Subjekt in der Theologie ist. Unsere konfessionellen Traditionen, so Rollins, zeugen daher nicht direkt über ihren Inhalt von Gott; sie zeugen indirekt von Gott durch ihre Existenz.

Rollins gesteht ein, dass wir immer noch von Gott reden müssen, aber dies müsse gepaart sein mit der Erkenntnis, dass unsere Rede Gott nicht definieren könne, und Letzteres nennt er A/Theologie. Die Erkenntnis, dass unser Wissen von Gott unvollkommen, nicht ausreichend oder unangemessen ist, bezeichnet Rollins als atheistisch. Er erkennt so einen „atheistischen Geist im Christentum“, und noch paradoxer als bei Sölle: „we disbelieve… also in the God that we believe in“.

Rollins kommt zu solche Sätzen, weil er eine scharfe Unterscheidung trifft: Glaube an Gott („believing in God“), unsere Hingabe an ihn, die Anbetung, die existentielle Ausrichtung auf ihn auf der einen Seite; und auf der anderen Seite Glaubensinhalte („what one believes about God“) – hier solle man zweifeln, und das nicht zu wenig; hier gibt es nur fließende Bilder, Provisorisches, und weil sich das Göttliche allen Konzepten entzieht, seien dogmatische Formulierungen solcher Inhalte sogar Götzendienst.

Kirchen reden deshalb in ihren Bekenntnissen in keiner Weise objektiv von Gott; wir reden in unterschiedlichen kirchlichen Gemeinschaften einfach unterschiedlich von Gott – aus unseren Gottesbegegnungen heraus. Ansonsten, d.h. bei den Glaubensinhalten, müsse aber geschwiegen werden. Rollins landet damit bei einer apophatischen (von gr. apophemi – leugnen) oder negativen Theologie – über Gott kann nur gesagt werden, was er nicht ist; und er bekennt sich daher recht eindeutig zur Mystik, was auf Hintergrund all des Geschilderten nicht mehr überrascht. Wie bei Sölle ist es nun eine gesellschaftlich engagierte, ethisch orientierte Mystik.

Archetypische und ektypische Theologie

Liest man Rollins, gewinnt man den Eindruck, dass ein erfolgreicher Autor heute möglichst viele Fragen stellen und seine Leser kräftig verwirren muss. Glaubwürdigkeit gewinnt er dadurch, dass er viele wahre Erkenntnisse einstreut. So ist es natürlich richtig, dass wir Gott nicht definieren und ihn mit unseren Vorstellung umfassend erkennen und begreifen können. Rollins bekräftigt also oftmals durchaus Richtiges, doch er leugnet zu viel, und er verbindet mit richtigen Aussagen falsche Schlüsse. Warum z.B. folgt aus unserer unvollkommenen, begrenzten Erkenntnis Gottes ein atheistischer Geist? Rollins schiebt hier die Prämisse unter, dass Theismus vollkommende, umfassende Gotteserkenntnis bedeutet. Ist das aber eine angemessene Definition des klassischen Theismus?

Die Theologiegeschichte, die Rollins äußerst selektiv betrachtet (er zitiert allein die Autoren und die Stellen, die ihm passen), hat Konzepte entwickelt, die die Tragweite theologischer Aussagen viel besser erläutern als Rollins verwirrende Thesen. Und die vor allem das Mysterium Gottes, um das es ihm ja geht, viel präziser schützen und dennoch eine objektive Erkenntnis Gottes zulassen.

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Franciscus Junius

In der ach so verachteten protestantischen Scholastik des 16. und 17. Jahrhunderts wurde im Hinblick auf die Theologie folgende Unterscheidung entwickelt: ur- oder vorbildliche Theologie (theologia archetypa, engl. „archetypal“, dt. „archetypisch“), d.h. die Theologie, die Gott von sich selber hat; und ab- oder nachbildliche Theologie (theologia ectypa, engl. „ectypal“, dt. „ektypisch“), d.h. die Theologie, die vor allem Geschöpfe von Gott aufgrund seines Wortes haben. Diese Begriffe führte als erster Franciscus Junius [François du Jon] 1594 in De vera theologia ein – in Anknüpfung an mittelalterliche (Duns Scotus) und patristische Erkenntnisse; Luther meinte z.B. mit seiner „Theologie des Kreuzes“ ebenfalls nichts anderes als die ektypische Theologie.

Gott ist die Quelle all unserer Erkenntnis und damit auch Theologie. Gott hat unmittelbare, direkte, perfekte, umfassende Erkenntnis von allem und damit natürlich auch von sich selbst. Unser Erkennen dagegen ist immer abgeleitet oder reproduktiv, es ist nicht allumfassend und nicht perfekt. Denn Gott hat eben nur einen gewissen Teil seiner Gedanken offenbart. Gottes Theologie ist also gleichsam das Original, unsere die unvollständige Kopie. Die urbildliche Theologie beten wir an, die abbildliche untersuchen wir.

Von dieser Unterscheidung ist eine griffige Definition von Theologie abgeleitet: Gottes Gedanken nach-denken (engl. „thinking God’s thoughts after him“). Theologie ist auf Gott ausgerichtet, auf seine Gedanken, und muss immer mit ihm im Einklang stehen. Aber wir kennen Gott und seine Gedanken nicht so wie er sich selbst kennt. Seine Gedanken sind nicht unsere Gedanken.

Damit ergibt sich ein Schema wie bei dem reformierten Theologen Gisbert Voetius (1589–1676; ähnlich auch beim Lutheraner J. Gerhard). Er unterscheidet zwischen Theologia vera – wahrer Theologie, und Theologia falsa – falscher Theologie. Die wahre Theologie gliedert sich in A. Archetypische Theologie (Gottes Selbsterkenntnis, bei Junius die „Weisheit Gottes selbst“; theologia Dei) und B. Ektypische Theologie (die Gotteserkenntnis der vernunftbegabten Geschöpfe). B gliedert sich wiederum auf in 1. Theologie durch persönliche Vereinigung (die Gotteserkenntnis Christi; theologia Christi, bei Junius theologia unionis), 2. Theologie durch die Gnade des Anschauens (die Gotteserkenntnis der Engel und der Seligen; theologia angelorum et beatorum, bei Junius theologia visionis), 3. Theologie durch die Gnade der Offenbarung (die Gotteserkenntnis der Menschen auf Erden; theologia nostra oder auch theologia viatorum – Theologie der Pilger), und unter dem dritten Punkt a. Natürliche Theologie (theologia naturalis) und b. Übernatürliche Theologie (theologia supernaturalis). B. 3 – allein dies ist der Bereich der Theologie, mit dem wir uns beschäftigen. Junius unterteilt die theologia supernaturalis in theologia absoluta (die Heilige Schrift) und die theologia in subiecto  – menschliche Interpretation der absoluten Theologie

Rationale Theologie und Geheimnisse

Dieses Schema, die Unterscheidung von archetypischer und ektypischer Theologie, ist ungeheuer fruchtbar. Sie zeigt erstens sehr gut die größere Dimension auf, in die unsere menschliche Theologie eingebettet ist. Diese ist nur ein recht kleiner Teil des umfassenden Reichs der Theologie. Es ist sinnvoll sich deutlich zu machen, was wir alles nicht tun und nicht sagen können. So werden Anspruch und Reichweite von theologischen Äußerungen grundsätzlich begrenzt.

Zweitens bleibt Gott sozusagen Herr und Subjekt der Theologie (worum es Rollins ja geht). Da Theologie Gotteserkenntnis ist und Gott sich selbst erkennt und zwar am besten erkennt, ist Gott der erste und vollkommene Theologe. Alle von Menschen betriebene Theologie leitet sich von ihm ab und untersteht ihm. Gott untersteht dabei nicht den Begrenzungen unserer Logik und des irdischen Seins; wir dagegen arbeiten mit menschlicher Sprache bzw. Denken.

Drittens ist ausreichend Raum für das Mysterium geschaffen, was Rollins ja ebenfalls sehr am Herzen liegt. Die archetypische Theologie ist uns verborgen. „Das, was hinter der Offenbarung liegt, ist vollkommen unwissbar“, so Herman Bavinck in Reformed Dogmatics II. Wir können viel wissen, aber wir wissen eben längst nicht alles, weil wir nicht Gott sind und weil er uns nicht alles mitgeteilt hat. Bavinck beginnt sein Buch sogar: „Das Geheimnis ist das Lebensblut der Dogmatik“.

Viertens wird ein guter Weg zwischen Rationalismus und Irrationalismus gewiesen. Theologie  bleibt immer abhängig von Gott und seiner Offenbarung. Dies ist anzuerkennen, um nicht dem „Theologismus“ zu verfallen. So bezeichnete Otto Riecker die stolze Überschätzung der Vernunft, die sich zur alleinigen Herrin aufschwingt. Luther sprach öfter von der „Hure Vernunft“: sie ist an sich gut und nötig, verkauft sich aber wie eine Prostituierte an den gefallenen Menschen, lässt sich von diesem einspannen. Rationalismus ist zu verwerfen, aber Theologie bleibt dennoch eine rationale Angelegenheit. Junius: „Obwohl die Offenbarung die Vernunft übersteigt, betrachten die auf der Erde Lebenden Gott und die göttlichen Dinge gemäß dem Licht des Denkens und auf unvollkommene Weise, solange bis sie die vollkommene Schau [im Jenseits] bekommen zu seiner Ehre“. Theologie gebraucht das Denken, die Vernunft, aber eben „auf unvollkommene Weise“.

Fünftens folgt aus all dem eine demütige Weise, mit der Theologie betrieben wird. Tobias Sarx: „Kein Theologe darf für sich in Anspruch nehmen, die absolute Theologie [s.o. in Junius Schema] vollständig erfasst zu haben. Erkenntnis auf der Erde wird immer Stückwerk bleiben. Junius fordert von seinen Kollegen eine grundsätzlich demütige Haltung und ein bewusstes Arbeiten mit der eigenen Unvollkommenheit und Begrenztheit.“ (Franciscus Junius d.Ä (1545–1602))

Es gilt zu unterscheiden zwischen dem unfehlbaren Wort Gottes und unseren menschlichen Interpretationen. Werden diese als unfehlbar und nichtkritisierbar betrachtet, dann folgt ein falscher Fundamentalismus. Heinzpeter Hempelmann greift den Begriff des „schwachen Denkens“ auf, den Vattimo prägte, um dies auszudrücken. „Der Christ und Theologe verzichtet ebenso darauf, seinen eigenen Theorien… mit der Wahrheit des christlichen Glaubens zu identifizieren… Er praktiziert ein schwaches Denken, indem er sich der Insuffizienz [Unzulänglichkeit, Schwäche] all seiner in ihrer Notwendigkeit nicht bestrittenen, aber dennoch als notwendig unvollkommenen begriffenen Aussagen bewusst ist und diese Insuffizienz in der Gestalt seines Redens mitreflektiert.“ („Wir haben den Horizont weggewischt“)

Verständlich von Gott reden

Die Unterscheidung von archetypischer und ektypischer Theologie hat so den Vorteil, dass den berechtigten Anliegen von Rollins (Abwehr von Rationalismus und Fundamentalismus, von Stolz und Selbstsicherheit, Schutz des Geheimnisses Gottes, Wissen um Begrenztheit unserer Aussagen usw.) durchaus entsprochen wird, dass man ihm aber nicht in die Richtung von Mystizismus und Schweigen, Irrationalismus, Skepsis und A/Theismus folgen muss. Es gibt bessere Antworten, und diese sind recht alte. Die „postmodernen Innovatoren“ (Stephen Wittmers Begriff) wie Rollins sind nämlich nicht so innovativ, wie man oft glaubt und wie sie sich oft selbst darstellen. Schon Calvin meinte in einer Predigt zu 1 Kor 13,12: „Die Erkenntnis, die wir jetzt aus seinem Wort haben, ist gewiß und wahr und hat nichts Trügerisches. Aber im Vergleich damit, daß wir Gott einst von Angesicht zu Angesicht sehen werden, muß man diese Erkenntnis ‘dunkel’ nennen.“ Macht es nun aber Sinn, diese Dunkelheit als Ausdruck eines „atheistischen Geistes“ anzusehen wie Rollins wohl sagen würde? Schon Calvin betonte die Gotteserkenntnis im Lebensvollzug. Muss man aber deshalb die Glaubensinhalte für zweitrangig erklären?

Im 18. und 19. Jahrhundert verschwand die Unterscheidung im Zuge der Aufklärung weitgehend aus der Theologie. Schleiermacher versetzt ihr natürlich den Todesstoß, da er ja in der Theologie nicht mehr von Gott ausging, sondern allein vom Menschen. Um 1900 entdeckten dann reformierte Theologen wie Kuyper und Bavinck die Begriffe archetypische und ektypische Theologie neu; im 20. Jahrhundert gebrauchten sie u.a. und Van Til und Berkhof.

Cornelius Van Til (1895–1987) gebrauchte die Begriffe archetypische und ektypische Theologie nur selten. Er sprach meist von Analogie: unsere Erkenntnis von Gott ist nicht genau die Erkenntnis, die Gott von sich selbst hat; unser Reden von Gott hat nicht genau denselben Sinn wie Gottes Denken von sich. Unser Wissen von Gott ist vielmehr analogisch, ähnelt dem Wissen, das Gott von sich selbst hat. Van Til betonte daher immer, dass unser Wissen von Gott einerseits wahr, aber dennoch nicht umfassend und in dem Sinne perfekt ist. Sein Schüler Francis A. Schaeffer (1912–1984) mied Begriffe der Scholastik und selbst die der klassischen Philosophie wie Analogie. Im gelang es so aber Van Tils Ansatz, der in der Tradition der protestantischen Scholastik stand, und allgemein das reformierte Denken zu popularisieren. Der bekannte Apologet unterstrich immer wieder wie Van Til: echte, objektive Gotteserkenntnis ist möglich (vor allem wegen seiner objektiven Offenbarung), aber das Mysterium bleibt. – Es ist, nebenbei bemerkt, sehr interessant, dass Rollins im Video (s.o.) den Begriff des analogischen Redens aufgreift, dies aber mit Atheismus verknüpft. Egal, wie man Analogie nun versteht (ob nun in der katholischen, thomistischen Prägung oder in der protestantisch-reformierten, die sich davon unterscheidet) – historisch gesehen ist es völliger Unsinn, aus der analogischen Rede Atheismus abzuleiten oder diesen damit auch auch nur irgendwie in Verbindung zu bringen. Rollins ist dicht dran an der Wahrheit, doch mit seinen Folgerungen schießt er völlig ins Kraut.

Francis-Schaeffer

Francis Schaeffer

Rollins ist nur mit solider Theologie und fundierten historischen Kenntnissen beizukommen. Diese müssen aber für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden. Wenn ich es recht überblicke, wird die Unterscheidung von archetypischer und ektypischer Theologie im deutschen Sprachraum praktisch ausschließlich im Kontext der historischen Theologie betrachtet (die Arbeiten von Sarx, s.o., zu Junius und von Andreas J. Beck zu Voetius). Auch Horst Georg Pöhlmann nennt die Unterscheidung in Abriß der Dogmatik nur im Zusammenhang der historischen Gliederung der Theologie. Es ist daher leider zu vermuten, dass sie in Deutschland an evangelikalen Ausbildungsstätten kaum gelehrt wird bzw. ein Schattendasein führt – zumal Kuyper, Bavinck und Van Til, die die Unterscheidung erneut aufgegriffen haben, dort immer noch viel zu wenig bekannt sind. Damit fehlt jedoch ein wichtiges Instrument in den Debatten, die durch die Postmoderne aufgeworfen wurden.

„Wie können wir verständlich von Gott reden, wenn uns die alte weltanschauliche Gewißheit des Theismus nicht mehr trägt?“ fragte Sölle. Ich kann nicht erkennen, dass sie und heutige ‘emergente’ Vordenker wie Rollins Fortschritte im Hinblick auf Verständlichkeit gemacht hätten, im Gegenteil. Am Ende landen sie beim Schweigen der Mystik. Einen Weg nach vorne weisen vielmehr die alten Erkenntnissen der protestantischen Väter, die durchaus um die Begrenztheit ihrer Gewissheit wussten. So können wir in der Gotteserkenntnis Zuversicht und Demut zugleich entwickeln und der Herausforderung der A/Theismus begegnen.