Weihnachten: Christentum und Kultur

Weihnachten: Christentum und Kultur

Fromme Länder – ohne Weihnachten?

Es gibt einen Staat in Europa, in dem über 300 Jahre lang Weihnachten kein offizieller Feiertag war. Und hier ist nicht an das muslimisch geprägte Albanien zu denken. In Schottland arbeitete man am 25. Dezember – bis 1958. 1640 hatte das Parlament im Land öffentliche Weihnachtsfeiern untersagt. Ein paar Jahre später wurde auch in England während des Bürgerkrieges zwischen Parlament und Krone von den Abgeordneten solch ein Verbot erlassen. Mit der Wiedererrichtung der Monarchie kam es dort jedoch bald wieder zur ‘Legalisierung’ des beliebten Fests. Die Puritaner waren damit in ihrem Kampf gegen „Old Christmas“ nur im Norden der Insel langfristig erfolgreich.

Heute befremdet das Vorgehen in Großbritannien natürlich. Schließlich ist Weihnachten zum mit Abstand populärsten Fest in Kirche und Gesellschaft geworden. Eine Abschaffung ist nun in keiner Weise mehr vorstellbar. Jüngst dachte der bekannte Autor Manfred Lütz in einem idea-Interview über eine Verschiebung in den Sommer nach, damit bekennende Christen dem Wirbel des Kommerzes  entgehen können (am Ende mehr zu ihm). Die Puritaner gingen radikaler vor, da das altenglische Weihnachten dem germanischen Julfest entsprang und damals oft einer Art wildem Karneval ähnelte – mit dionysischen Saufgelagen und diversen Ausschweifungen. Wenn heute noch ein Drittel der Engländer sich am Heiligen Abend betrinkt, mag dies ein später Nachhall dieser alten Bräuche sein.

Neben der Abwehr von Feiern, die damals tatsächlich in manchem an die antiken Saturnalien erinnerten, ging es den Puritaner um eine Aufwertung des Sonntags. Anders als die sonntägliche Gottesdienstfeier, die schon auf das erste Jahrhundert zurückgeht, liegt für die Weihnachtsfeier kein frühchristliches Beispiel und keinerlei biblisches Gebot vor. Die Reformierten des Kontinents gingen nicht so streng vor wie die puritanischen Geschwister, wollten die zusätzlichen Feiertage aber auch recht eng beschränken auf die „Geburt des Herrn“, Tod, Auferstehung und Himmelfahrt Christi sowie Pfingsten (II Helveticum, Kap. 24). Die Gestaltung wird allgemein der christlichen Freiheit und der örtlichen Kultur überlassen. Calvin oder Bullinger erlaubten die Weihnachtsfeier, hielten sie aber nicht für bedeutsam und machten sie gewiss nicht zu einer Pflicht.

In den USA wurde der 25. Dezember ebenfalls erst nach dem Bürgerkrieg vor etwa 150 Jahren zu einem allgemeinen Feiertag. Der Kongress, das Parlament, tagte von Beginn an für viele Jahrzehnte auch zu Weihnachten. Katholiken, Anglikaner und Lutheraner pflegten dort kirchliche Weihnachtsfeiern, Presbyterianer, Quäker, Baptisten und andere eher nicht. Allgemein erfreute sich Weihnachten bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts keiner großen Beliebtheit.

Der Mann, der Weihnachten (neu)erfand

Vor zweihundert Jahren wurde zuerst England durch die Industrialisierung stark verändert. Die Städte wuchsen rasant wie nie und damit auch die sozialen Probleme. Charles Dickens portraitierte diese Zeit wie wohl kein anderer, man denke an Oliver Twist. Sein bekanntestes Werk ist A Christmas Carol, ein kurze Geschichte um den Geizhals Ebenezer Scrooge und seine Wandlung. Dickens begann mit dem Schreiben im Oktober 1843, und schon am 19. Dezember erschien die erste Auflage. Innerhalb weniger Tage waren die ersten 6000 Exemplare verkauft, und das trotz eines recht hohen Preises (wegen der Illustrationen und eines aufwendigen Einbandes). Dickens hatte mit A Christmas Carol (meist Eine Weihnachtsgeschichte übersetzt) den Nerv seiner Zeit berührt; die emotionale Geschichte um Scrooge Buchhalter Bob Cratchit, seinen Sohn Tiny Tim und andere bewegte die Menschen ungeheuer – die Popularität der Erzählung gerade im englischsprachigen Raum kann gar nicht überschätzt werden.

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Charles Dickens (1812–1870)

In einer Zeit einer Umorientierung der ganzen Gesellschaft und der Suche nach neuen Formen des Weihnachtsfeierns kam Dickens Werk gerade zur richtigen Zeit, und er erfand Weihnachten gleichsam neu („the man who invented Christmas“, so auch ein Buchtitel). Neuerfindung bedeutet dabei natürlich ein Zurückgreifen auf ältere Traditionen, die Dickens aber populär machte. Hierzu gehört der Wunsch „Merry Christmas!“ oder auch der Truthahn auf der Weihnachtstafel. Vor allem etablierte Dickens drei Kernelemente unsere heutigen Weihnachtskultur: das Fest als Zeit der guten Taten und der Wohltätigkeit; die familiäre Feier – eine Zeit des einträchtigen Beisammenseins im engeren Kreis von Familie und Freunden; und die Ausrichtung auf die Kinder und ihr Wohl.

Bis weit in die Neuzeit hinein war Weihnachten dagegen ein klassisches Kirchenfest und weitgehend ohne familiäre Seite. Bei Dickens ist von der Kirche kaum etwas zu sehen. In den Städten verlagerte sich das Weihnachtsfest immer mehr aus der Kirche in die Familie hinein. Seit gut einhundert Jahren gilt nun, dass die liturgische Feier zwar noch in der Kirche stattfindet, das eigentliche Weihnachtsfest aber zu Hause gefeiert wird. In den USA etablierte sich die Familienfeier – auch dank Dickens – ebenfalls immer stärker, und nun forderten die Menschen auch von ihren Weihnachts-skeptischen Kirchen: gebt uns endlich auch eine besinnliche Feier in der Kirche!

Die Weihnachtsfeier wurde zu einer bürgerlichen Privatangelegenheit, zu einem Familienereignis mit Bescherung, Weihnachtsbaum und Festessen. Aus dem „carnival Christmas“ wurde das ganz andere „domestic Christmas“. Mit dem neuen Bürgertum wandelte sich Weihnachten auch immer mehr zu einem Kinderfest (die neue Ausrichtung auf die Kinder ist im Gemälde „Christmas-Time“ des US-Malers Eastman Johnson, 1864, gut erkennbar, s. ganz oben und u.). Erst im 19. Jahrhundert etablierte sich die Kindheit als feste Alterskategorie neben den Erwachsenen. Zuvor feierte man keine Kindergeburtstage, und beim Weihnachtsfest standen die Kinder genauso wenig im Mittelpunkt. (Auch ein Blick in die vielen traditionellen Weihnachtslieder in den Gesangbüchern zeigt, dass das Fest einen frohen, zugleich aber doch auch recht ernsten Charakter hatte und in erster Linie für die Erwachsenen war. Kinderlieder fehlen fast ganz. Sie tauchen erst ab dem 19. Jahrhundert auf und sind meist säkular, man denke an „Kling, Glöckchen, klingelingeling“.)

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Der säkularisierte Nikolaus

Weihnachten ist heute ein Fest der Familie, der Kinder – und natürlich der Geschenke. Allerdings ist diese Charakteristik des Festes ebenfalls recht jung. Die Geschenke waren ursprünglich mit dem Nikolaustag verbunden und wanderten erst recht spät zum Weihnachtsfest herüber. Bis zum Beginn der Neuzeit machte man Kindern nur am Tag des Hl. Nikolaus am 6. Dezember kleine Geschenke. Nikolaus war im vierten Jahrhundert Bischof im kleinasiatischen Myra. Sein Leben war bald umrankt von vielen Legenden. Nach einer von diesen machte er einer Familie anonym Geldgeschenke, damit der Familienvater nicht gezwungen war, seine Töchtern in die Prostitution zu verkaufen. Nach Europa brachte die oströmische Prinzessin Theophanu, Frau von Kaiser Otto II, den Kult um Nikolaus. Etwas später raubten Süditaliener aus der Hafenstadt Bari die Knochen des Nikolaus aus Kleinasien, denn er war der  Schutzheilige der Seefahrer. Ab dem hohen Mittelalter war der Hl. Nikolaus in Europa sehr beliebt, vor allem bei einer bedeutenden Seefahrernation: den Niederländern.

Auch in der Familie des Reformators Luther wurden die Kinder am Nikolaustag mit kleinen Geschenken bedacht. Allerdings lehnten die Evangelischen aus guten theologischen Gründen des Heiligenkult insgesamt ab. Aber was ist dann mit dem beliebten Brauch des Geschenkemachens? Luther löste dieses Problem geschickt: Der Hl. Nikolaus wurde fortan ignoriert, und die Geschenke überreichte nun am Weihnachtsfest der „Heilige Christ“, aus dem dann schrittweise das „Christkind“ wurde, das sich immer weiter von dem Kind Jesus entfernte und mehr und mehr zu einer Engelfigur wandelte (z.B. das Christkind mit breiten Flügeln im Struwwelpeter).

In der konfessionell gemischten Schweiz ergab sich damit im 19. Jahrhundert eine unübersichtliche Situation. Der herkömmliche Gabenbringer Nikolaus behauptete sich auch nach der Reformation noch jahrhundertelang überkonfessionell. Die reformierte Obrigkeit in einigen Kantonen versuchte, an seiner Stelle ein Neujahrskind beliebt zu machen. So war in Basel und Bern der Bescherende weder das Weihnachtskind noch der Nikolaus, sondern das „Neujahrchindli“, das noch im 19. Jahrhundert auch in der Stadt Zürich mit dem Nikolaus konkurrierte. Dort oder in Appenzell-Ausserrhoden kam am Heiligabend nicht das Christkind, sondern der „Chlaus“, um die Kinder zu beschenken, andernorts in den Kantonen Aargau, Glarus, St. Gallen tat er dasselbe am Silvester. In den reformierten Teilen der westlichen Deutschschweiz kam das „Chrischtchindli“ oder „Wienechtschindli“.

Die Protestanten verdrängten den Nikolaus. Allerdings drehte die Kulturgeschichte den Spieß geradezu ironisch um: Über die Stationen Holland und Amerika – aus dem Sint Nikolaas, kurz Sinterklaas, wurde Santa Claus – kehrte im 20. Jahrhundert ein völlig säkularisierter Nikolaus als „Weihnachtsmann“ zu den Evangelischen zurück. Und das ursprüngliche evangelische Christkind wurde in manchen europäischen Ländern von den Katholiken „adoptiert“, die so teilweise zu den konservativsten Gegnern des Weihnachtsmannes wurden (z.B. in Süddeutschland und Österreich; dort bringt traditionell immer noch das Christkind die Geschenke und nicht der Weihnachtsmann).

Santa

Illustration des „Santa“ von Thomas Nast aus dem Jahr 1881, die das moderne Bild des Weihnachtsmann entscheidend prägte

Ein Kind der Industrialisierung

Mit der Privatisierung von Weihnachten und dem Einzug in die Familie wurden die Geschenke zentral, denn mit ihnen drückt man innere Bindungen und Gefühle aus. Stephen Nissenbaum zeigt in seinem The Battle for Christmas am Beispiel der Familie Sedgwick in den USA, wie zwischen 1820 und 1840 auf einmal recht plötzlich die persönlichen Geschenke auftauchen – damit ging es ausdrücklich um Ausdruck von Zuneigung („a little token of my affection“). Nissenbaum stellt aber auch gut dar, dass dies erst dadurch möglich wurde, dass es überhaupt von der Industrie gefertigte Produkte zu relativ günstigen Preisen gab. Erst die industrielle Massenproduktion machte einen Markt für persönliche Geschenke möglich – noch Jahrzehnte zuvor gab es einfach nichts zu verschenken, abgesehen natürlich von Nahrungsmitteln. Industriell gefertigte Spielzeuge tauchen in Massen erst im 19. Jahrhundert auf (wieder im Struwwelpeter aus dem Jahr 1845 zu sehen).

Die neuen Produkte wurden natürlich von Anfang an auch beworben, weshalb auch der Kommerz an der Wiege des modernen Weihnachten steht. Man sollte dies jedoch nicht reflexhaft als negativ betrachten. Nissenbaum betont, dass Protestanten vor zweihundert Jahren meist eine Bibel besaßen, jedoch eine Familienbibel. Persönliche Bibelausgaben waren recht selten. Dies änderte sich mit der Industrialisierung, und gerade zu Weihnachten schenkte man bald gerne persönliche Bibeln. Auf einmal entstand – zuerst wieder in den USA – ein Markt für ganz verschiedene Bibelausgaben.

Betlehem durch die Brille der Moderne

Die heutige Art des Weihnachtfeierns ist also historisch gesehen relativ jung und weitgehend kulturell geprägt. Dies wird jedoch von Christen oft übersehen. Denn aus der modernen Perspektive hat man Brücken zurück in die biblische Geschichte geschlagen und dort Bezugspunkte gesucht, die man sicher finden kann. Über 1500 Jahre lang kamen Christen so gut wie nie auf den Gedanken, dass man sich wegen der Inhalte der Weihnachtsgeschichte gegenseitig Geschenke machen könnte oder sollte. Nun wird diese Praxis mit den Geschenken der Weisen oder dem Jesuskind als Geschenk an uns verknüpft.

Man sollte jedoch darauf achten, dass man in die lukanische Geschichte nicht zu viel hineinliest. Vor allem sollte man sich davor hüten, aus der Geburtsgeschichte ein familiäres Sozialdrama à la Dickens zu machen. Das populäre Verständnis der Geburt Jesu ist ja, dass Maria und Joseph in Bethlehem alles andere als gastfreundlich aufgenommen wurden; sie hätten keine ‘normale’ Unterkunft in der „Herberge“ gefunden, so dass Jesus in einem Stall geboren wurde – also unter recht unwürdigen Umständen. Die „Notunterkunft“ hält sich beharrlich.

Der Theologe Kenneth Bailey hat diese Sicht schon vor vielen Jahren hinterfragt (Jesus Through Middle Eastern Eyes). Mit Bailey, einem profunden Kenner der nahöstlichen Kultur, können wir davon ausgehen, dass die in Lk 2,7 erwähnte Krippe nicht in einem Nebengebäude wie einem Stall stand. Einfache Menschen (die große Masse damals) bewohnte meist Häuser mit einem, höchsten zwei Räumen. Die wenigen Tiere wurden zur Nacht ins Haus getrieben. Die Krippen waren in jedem Fall in dem einen Wohnraum der Familie.

Lk 2,7 sagt außerdem, dass kein Platz im (gr.) katalyma war. Eine kommerzielle Herberge, ein Rasthaus, Hotel oder Motel? Dafür steht ein anderes griechisches Wort zur Verfügung. katalyma ist dagegen wörtlich nur ein „Ort zum Bleiben“, eine „Unterkunft“. Lk 22,11–12 wird das Wort „Raum“ oder „Saal“, teilweise auch „Gästezimmer“ übersetzt. Dieses Zimmer konnte sich hinter dem Wohnraum der Familie oder im zweiten Stock befinden. Dieser Raum war voll. Maria und Joseph wurden gewiss gastfreundlich inmitten einer Familie aufgenommen, die ihr Wohn- und Schlafzimmer öffnete. Jesus wurde in einem normalen Haus und damals recht normalen Umständen geboren.

Stall

Die Geburt im Stall – Teil unseres kulturellen Gedächtnisses

In dieser Lesart ist man nicht gezwungen aus den Einwohnern von Bethlehem moralische Monster zu machen. Gerne wird ihre Geldgier oder die allgemeine Verdorbenheit der Sitten im Ort beklagt. Auch Calvin spricht von „grausamster Tyrannei“, die unentschuldbar sei. Alles pure Spekulation. Folgt man Baileys Sichtweise, löst sich all das in Luft auf – genauso wie der legendenhafte Oberbösewicht, der Gastwirt.

Wohl eher unbewusst unterstellen wir den Menschen von Bethlehem unsere modernen moralischen Mängel; wir tragen unsere Kultur in den Text hinein. Kein Ehrgefühl, verdorbene Sitten, wenig Achtung vor Schwangeren, mangelnde Hilfsbereitschaft – das sind ernste Probleme in westlichen Großstädten – seit Dickens Zeiten bis heute im 21. Jahrhundert, jedoch weitaus weniger in einem Städtchen in der Zeit des Herodes.

Auch unsere Vorstellung von Privatheit wird gerne in die Geschichte zurückprojiziert. Hier ist der Kontrast zur damaligen Kultur wohl am größten. Wir hätten in Bethlehem ein ruhiges Hotelzimmer gesucht, um ja allein zu sein (wenn man denn schon kein Krankenhaus findet). Eine Geburt in einem Wohnzimmer, mitten in einer anderen Familie?? Sicher verließen die Männer und Kinder bei der Geburt selbst den Raum. Aber Maria war zweifellos umgeben von anderen Frauen, die ihr halfen. Niemand dachte damals an den Schutz seiner Privatsphäre.

Jesus wurde inmitten einer anderen Familie geboren. Doch dies behagt uns nicht. Die Geburt muss zu etwas besonderem werden. Schon früh fand man Gefallen an der Vorstellung, dass die Geburt in Stille und Einsamkeit stattfand. Seit 200 Jahren singen wir Joseph Mohrs „Stille Nacht“. Aber herrschte in diesem einen Raum wirklich Stille? Waren sie allein? Wohl kaum oder nur kurz. Und woher wissen wir eigentlich genau, dass die Geburt selbst in der Nacht war? Quelle dieser Vorstellung sind die apokryphen Texte wie das Jakobus-Evangelium. Dort heißt es, dass das Himmelsgewölbe still stand, die Luft erstarrte, auch Tiere und Menschen (18,2–3). Das Lateinische Kindheitsevangelium berichtet: „Keine Stimme von Menschen erklang, und es herrschte ein tiefes Schweigen. Denn das Himmelsgewölbe hörte von jener Stunde an auf, sich im Lauf zu bewegen.“ Seither lieben wir diese Stille. Joseph Ratzinger schreibt im Büchlein Der Segen von Weihnacht (über die Hl. Elisabeth von Thüringen): „Schweigen ist der Raum dieses Kindes. Schweigen ist der Raum der Geburt Gottes. Nur wenn wir selbst in den Raum des Schweigens treten, gelangen wir dorthin, wo Gott geboren wird.“ Doch was soll man von all dem halten, wenn die Bibel selbst nichts davon sagt? Schweigen und Besinnung kann meist nicht schaden, doch sind sie in der Weihnachtszeit wirklich geboten? Sind sie aus der Geschichte selbst abzuleiten?

Das reine „christliche Weihnachtsfest“?

Weihnachten ist heute ein weitgehend kulturelles Phänomen. Dies ist für viele Christen aber Anlass für zum Teil scharfe Kritik. Die derzeitigen „Lichterorgien, die Musikberieselung und Glühweinbesäufnisse“, so Lütz schon vor zwei Jahren, hätten mit dem christlichen Weihnachtsfest nichts mehr zu tun. Die Kommerzialisierung wird meist als ein Hauptübel ausgemacht. Der Katholik aus Köln: „Die Konsumindustrie hat dieses Fest komplett kernsaniert. Die Fassade steht noch, aber dahinter ist kein Stein mehr auf dem anderen geblieben.“

Beobachtet man den Konsumrausch der Vorweihnachtszeit, ist Lütz Thesen gewiss so manches abzugewinnen. „Zeitweilig aus der ganzen Hektik aussteigen“ – warum nicht? Er gibt jedoch zu verstehen, dass uns ein bösartiger Konsum-Dämon überwältigt hat, was an der Wahrheit schlicht vorbei geht. Die allermeisten Christen mögen auch Licht und Musik und selbst den Glühwein. Und sie mögen Geschenke und Weihnachtsdeko und gutes Essen und Wärme usw. Die Kommerzialisierung schaffen wir uns selbst, und wir haben sie in weiten Teilen lieb gewonnen, und das gilt natürlich auch für die Evangelikalen. Wer es bescheidener mag, kann sich schon heute vernünftige Grenzen setzen und wird darin durch nichts und niemanden gehindert. Ein allgemeines Aussteigen aus unserer kulturellen Form des Weihnachtsfestes ist dagegen ganz und gar unrealistisch. Denn es ist offensichtlich ein tiefes menschliches Bedürfnis, in der dunklen Zeit des Jahres so ein Fest zu feiern.

Die Heiden hätten Weihnachten, ihr Sonnwendfest, zurückerobert, so Lütz Vorwurf. Historisch gesehen geht es heute ausgesprochen ruhig zu – keine öffentlichen Ausschreitungen, kaum Polizeieinsätze, vielmehr ist Harmonie und Frieden angesagt. Das ist seit gut 150 Jahren das bürgerliche Weihnachten, und das ist auch gut so. Wo ist da die neuheidnische Fratze? Diese Fratze bot sich den Puritanern im England vor 400 Jahren, und deshalb griffen sie zu radikalen Maßnahmen. Heute ist Weihnachten, und auch dies ist eben eine relativ junge Entwicklung, ein Zeit der Wohltätigkeit: Hilfsorganisation, Missionen, christliche Werke erhalten große Spendensummen – nicht nur der Konsumterror herrscht, sondern auch die Großzügigkeit. Wollen wir diese kulturellen Erscheinungen auch gleich mitabschaffen?

Unser kulturell geprägtes – „verweltlichtes“ – Weihnachten mit allen seinen attraktiven und eher abstoßenden Seiten wie den Weihnachtsmännern, „die an Lächerlichkeit nicht zu überbieten sind“ (Lütz), erscheint nur dann in einem negativen Licht, wenn es einem angeblich reinen christlichen Fest gegenübergestellt wird. Doch wie soll dieser christliche Gebäude-Kern, so Lütz, denn aussehen? Natürlich ist der „eigentliche Inhalt des Festes“ die Geburt Jesu. Aber wie soll eine wahre christliche Gestaltung des Festes dann konkret aussehen? Wohin zurück soll es denn gehen? Wo soll denn das wahre christliche Weihnachten verortet werden? Im heimeligen 19. Jahrhundert? Aber auch da hatten wir schon Kommerz. Oder in einer Zeit nur mit kirchlichem Gottesdienst, ohne Geschenke und Familienessen?

Es gilt zu verstehen, dass auch unser christliches Weihnachten auf vielerlei Weise kulturell geprägt ist und wir dies nicht so einfach abschütteln können und sollen (à la Lütz vom bürgerlichen zum christlichen Weihnachten). So ist es natürlich durch die Kommerzialisierung zur Schaffung von neuen Mystifikationen (wie dem Weihnachtsmann) gekommen; andererseits hat aber auch die städtische Kommerz-Kultur viele altheidnische Elemente weit zurückgedrängt – Gott sei Dank.

Man sollte sich auch mit Begriffen wie „Konsumterror“ (Lütz im idea-Interview) zurückhalten. Der Industrie und dem Kommerz verdanken wir unsere Geschenkkultur. Wenn sich Menschen in Massen aufmachen, um anderen mit Geschenken eine Freude zu machen, ist dies im Grunde nur zu begrüßen; wir sollten dies nicht mit dem Begriff Terror, lat. Schrecken, verbinden. Niemand wird hier im wahren Sinne terrorisiert. Und es gibt wahrlich Schrecklicheres.

Kaum jemand, auch Lütz nicht, will auf die kulturell gewachsenen Elemente unseres modernen Weihnachtsfestes radikal verzichten. Gedankenspiele wie Weihnachten im Sommer sind eben genau dies: bloße Gedanken. Es bleibt also bei Familie, Essen, Geschenken, Schmuck und Lichtern. Aber dann setzen viele christliche Kulturkritiker noch eins drauf: geistliche Tiefe soll gefunden werden; die Besinnung dürfe nicht zu kurz kommen; das exklusive Familienfest, so Lütz, solle man um Einsame, Asylanten und Flüchtlinge erweitern. Gute Vorschläge, gewiss, aber Lütz als Psychiater dürfte wissen, dass man mit Forderungen, Weihnachten endlich mal entspannt, liebevoll, besinnlich und vor allem „anders“ zu feiern, den Stress oft nur noch weiter erhöht (Lütz vor zwei Jahren zum Domradio: „Eigentlich müssten wir als Christen Einsame, Obdachlose und Bedürftige einladen“; Weihnachten dürfe nicht nur ein Familienfest sein).

Anstatt den Schwarzen Peter der Industrie zuzuschieben (die angeblich jährlich den Konsumrausch auslöst) und Heidentum und Weltlichkeit zu beklagen, sollten Christen in den Kirchen darauf achten, dass dort ganz einfach die biblischen Geschichten ordentlich ausgelegt werden; dass an dieser Stelle nicht zu viel moderne Kultur in die Texte hineingelesen wird. Christen müssen sich vor einem moralistischen Christkind/Weihnachtsmann-Evangelium in Acht nehmen (im Struwwelpeter-Vorspruch: „Wenn die Kinder artig sind, / Kommt zu ihnen das Christkind“; im Lied „Santa Claus Is Coming To Town“, 1934: „He‘s making a list / He‘s checking it twice / He‘s gonna find out / Who is naughty and nice / Santa Claus is coming to town“). Dann sieht man vielleicht auch etwas klarer, was aus biblischer Perspektive Weihnachten sein darf und was es sein soll. Und welche großen Freiheiten wir im Umgang mit unseren kulturellen Traditionen genießen.