Die zwei Seiten des Christentums

Die zwei Seiten des Christentums

Wer den Himmel am meisten herbeiwünscht, dient der Erde am besten. Wer den Menschen weniger liebt als Gott, erweist der Menschheit den größten Dienst (C.S. Lewis, „Menschheit im Atomzeitalter“, 1948)

 

„Kein Mensch erhofft sich vom Tod so viel wie wir“

C.S. Lewis gehört zu den bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts. Er hatte nie Theologie studiert, keinen theologischen akademischen Grad erworben (sieht man von einem Ehrendoktor 1946 ab) und unterrichtete nirgends an einem Lehrstuhl für Theologie. Was den Briten herausragen lässt, ist seine Fähigkeit, grundlegende theologische Gedanken zu kommunizieren, so dass diese dann auch von vielen verstanden werden. Lewis war ein begnadeter ‘Übersetzer’ von Theologie – eine Fähigkeit, die sich natürlich in seinem erzählerischen Werk, aber oft auch in seinen Essays zeigt.

„Ein paar Gedanken“ – so unprätentiös ist ein Vortrag aus dem Jahr 1948 überschrieben („Some Thoughts“; zuerst im Sammelband God in the dock; deutsch in Gültiges und Endgültiges). Lewis gelingt es darin meisterhaft, auf wenigen Seiten die Einzigartigkeit des christlichen Glaubens vor Augen zu führen.

Lewis schildert das „wohltuend zweischneidige Wesen des Christentums“. Jemand, der dem Christentum heute zum ersten Mal begegnen würde, sähe womöglich zuerst, wie diesseitsorientiert diese Religion ist. Er nennt ihren kulturellen Einfluss in der Geschichte, was wir heute gerne als Transformation von ganzen Gesellschaften bezeichnen; es fallen die Stichwörter  Krankenpflege, Armenfürsorge, Hochachtung der Ehe, Förderung von Kunst und Philosophie. Dem fiktiven Beobachter „würde es nicht schwerfallen, das Christentum einzuordnen“, nämlich unter die „weltbejahenden Religionen“ wie z.B. der Konfuzianismus.

Denkbar aber auch, dass solch ein Beobachter woanders anfängt, und so würde er schnell bemerken, „dass im Zentrum aller christlichen Kunst das Bild eines Menschen steht, der langsam zu Tode gefoltert wird; und dass sein Folterinstrument weltweit zum Symbol dieses Glaubens geworden ist; dass Märtyrertum eine geradezu typische christliche Haltung ist; dass unser Kalender nicht nur Festtage, sondern ebenso Fastenzeiten kennt; dass wir ständig über die Vergänglichkeit… nachsinnen; dass wir aufgerufen sind, all unsere Hoffnung auf eine andere Welt zu setzen“. Wegen dieser so ganz anderen Seite würde er das Christentum „den weltabgewandten Religionen zuordnen“ – „in der Gegend des Buddhismus“.

Weltbejahung und Weltverachtung, Blick ins Jenseits und Handeln im Diesseits – das Christentum widersetzt sich jedoch einseitigen Zuordnungen zu nur einem dieser beiden Pole, was den Beobachter „sehr wundern“ würde. Diese Polarität mag für viele ein „unauslöschlicher Widerspruch“ sein, den Christen jedoch, so Lewis, „erscheint die Erklärung dieser ‘Zweischneidigkeit’ seines Glaubens einfach.“ Die zweifache „Haltung hat ihren logischen Ursprung in den Lehren von der Erschaffung der Welt und vom Sündenfall.“

Auf der einen Seite ist die natürliche Welt zu achten, weil sie Gottes gute Schöpfung ist: „Weil Gott das Natürliche geschaffen hat – es in seiner Liebe und Schöpfergabe erfand –, sollen wir es in Ehren halten“. Auf der anderen Seite ist die Welt, die Natur und der Mensch, gefallen, weshalb gilt: „das Böse in ihr muss abgetötet werden“. Die Schöpfung benötigt  „Korrektur“, womit Lewis natürlich den Begriff „Erlösung“ übersetzt. Erlösung kann missverstanden werden als Befreiung aus den Fesseln des Irdischen, Materiellen und Geschaffenen wie im Platonismus und Buddhismus. „Korrektur ist etwas grundsätzlich anderes als manichäische Ablehnung“.

Die nichtchristlichen Religionen und Weltanschauungen tendieren immer zu einem der beiden Pole, und Lewis nennt hier den Glauben an eine Vielzahl von Göttern und daran, dass alles Teil des Göttlichen ist: „Polytheismus ist letztlich immer Naturverehrung; Pantheismus Naturverachtung“. Beide Weltanschauungen schaffen jedoch keine rationale Grundlage für das, was in den Krankenhäusern wie dem christlichen in Irland, in dem Lewis die Ansprache hielt, geschieht: „So entschlossen und kompetent und unbeirrbar gegen den Tod ankämpfen, als ob man ein weltlicher Humanist wäre, und dabei zu wissen, dass der Tod… etwas ist, wovon sich kein weltlicher Humanist auch nur träumen ließe“. Christen glauben, dass die „wahren Schätze jenseits des Grabes sind“, weshalb gilt: „kein Mensch erhofft sich vom Tod so viel wie wir“. Er steht an der Schwelle zu etwas viel Besserem. Doch weil der Tod eben auch ein Skandalon und ein Feind ist, ein Einbrecher in Gottes gute Welt, soll die natürliche Welt nicht einfach nur verächtlich hinter sich gelassen werden. Lewis weiter über den Tod: „nichts kann uns mit seiner – nun, mit seiner Unnatürlichkeit versöhnen“.

„Sie weilen auf Erden, aber ihr Wandel ist im Himmel“

Lewis steht damit in der Tradition der großen christlichen Denker, die diese zwei Seiten des Christentums, die natürlich in der Bibel verwurzelt sind, klar gesehen und formuliert haben. Schon im Diognetbrief aus dem 2. Jahrhundert gibt es einen Abschnitt, der die beiden Seiten oder die beiden Aspekte des christlichen Lebens eindrücklich skizziert. Der Autor stellt zuerst dar, dass die Gläubigen wie andere Menschen auch leben – die Weltzugewandtheit: „Denn die Christen sind weder durch Heimat noch durch Sprache und Sitten von den übrigen Menschen verschieden. Sie bewohnen nirgendwo eigene Städte, bedienen sich keiner abweichenden Sprache und führen auch kein absonderliches Leben… Sie bewohnen Städte von Griechen und Nichtgriechen, wie es einem jeden das Schicksal beschieden hat, und fügen sich der Landessitte in Kleidung, Nahrung und in der sonstigen Lebensart…“

Christen leben in der Welt, sie bejahen diese Welt in vielerlei Hinsicht, aber sie sind nicht von dieser Welt, weshalb sie „einen wunderbaren und anerkanntermaßen überraschenden Wandel in ihrem bürgerlichen Leben“ zeigen. „Sie bewohnen jeder sein Vaterland, aber nur wie Beisassen; sie beteiligen sich an allem wie Bürger und lassen sich alles gefallen wie Fremde; jede Fremde ist ihnen Vaterland und jedes Vaterland eine Fremde. Sie heiraten wie alle andern und zeugen Kinder, setzen aber die geborenen nicht aus. Sie haben gemeinsamen Tisch, aber kein gemeinsames Lager. Sie sind im Fleische, leben aber nicht nach dem Fleische. Sie weilen auf Erden, aber ihr Wandel ist im Himmel. Sie gehorchen den bestehenden Gesetzen und überbieten in ihrem Lebenswandel die Gesetze.“

„Die hervorragende Kraft des Geistes“

Lewis spricht in seinem Vortrag vor einem „wohltuend zweischneidigen Wesen des Christentums“.  Er hatte damit wohl sein konkretes Thema im Blick: die Krankenfürsorge – ein echte Wohltat für die Leidenden. Der Autor des Diognetbriefs nennt weitere ethische Handlungen: das Nichtaussetzen von Neugeborenen, was natürlich zu deren Wohl geschah; und das Überbieten der Gesetze, was zu allgemeinen Wohl der Gesellschaft beitrug. Das Christentum ist keine ethische Religion im eigentlichen Sinne, d.h. in seinem Kern steht nicht das gute Werk des Menschen. Aber die Gewissheit des ewigen Lebens, das unverdient geschenkt wird, führt zu einem erneuerten und sichtbar anderem Handeln in dieser Welt.

Der Skizze des Diognetbriefs folgt Anfang des 5. Jahrhunderts das monumentale Werk Der Gottesstaat. Augustinus stellt darin dar, dass die Christen, die Bürger des Gottesstaates, die „nach Gott lebenden Menschen“ sind; diejenigen, die den „höchsten Ruhm in Gott“ finden und die vor allem von der Gottesliebe bestimmt werden. Die Bürger des Weltreiches dagegen sind „dieser Welt hingegeben“, leben „nach der Welt Weise“ und werden von der Selbstliebe beherrscht (XIV, 28; XV,21). Für die Gläubigen des Gottesstaates ist das ewige Leben das höchste Gut. Die anderen suchen das „Endziel“ in diesem Leben, „entweder im Leibe oder in der Seele oder in beiden“, „entweder in der List oder in der Tugend oder in beiden“; sie wollen „in erstaunlicher Verblendung hier glückselig sein und durch sich selbst glückselig werden“ (XIX,4). Tatsächlich sind auch auf Erden sind Frieden und Glück zu finden, aber „diese Glückseligkeit ist, verglichen mit jener, die wir endgültig nennen, nichts als Elend“ (XIX,10).

In all dem setzt der Kirchenvater den Akzent auf die Jenseitsausrichtung, auf die Weltabgewandtheit. Aber auch er zeigt, dass der Glaube an einen heiligen, gerechten und vollkommenen Gott den Unterschied im Diesseits ausmacht. Gerade weil die Christen ihre erste Heimat im Gottesstaat haben, sind sie die besseren Bürger auf Erden. In einem Abschnitt schildert er zum Kontrast den Weltgeist: „Die Verehrer und Liebhaber der Götter, deren Verbrechen und Schandtaten sie mit Freuden nachahmen, kümmert es nicht im geringsten, wenn der Staat hässlich und abscheulich ist“; Hauptsache, dieser ist „reich an Schätzen, berühmt durch Siege“; Hauptsache, alle haben „genug für die tägliche Verschwendung“. Die Ethik der Bürger – sie spielt keine Rolle: „Die Könige seien darauf bedacht, nicht über gute, sondern unterwürfige Untertanten zu herrschen“. In diesem Staat kümmert man sich nicht um Gerechtigkeit und Wohltat, um Kranke und Schwache; vielmehr gilt: „Öffentliche Dirnen soll’s im Überfluss für alle geben“; „jeder soll, wie er mag und kann, Tag und Nacht spielen, saufen, speien, in Saus und Braus leben“ (II,20) – siehe 1 Kor 15,32.

In der großen Geschichtstheologie des Augustinus ist nur der Gottesstaat ewig, doch er hält die Waage zwischen Weltbejahung und Weltverachtung. In einem Abschnitt schildert der Kirchenvater breit die Größe des Geistes, den Gott den Menschen gegeben hat; dieser ist „für Wissen und Belehrung empfänglich“ (XXII,24). Dieser kreative Geist ist „solch hohes Gut, solch ein Wunderwerk des Allmächtigen, dass niemand es richtig mit Worten beschreiben oder in Gedanken erfassen kann“. Natürlich sind auch „die Künste rechter Lebensführung, die zur Seligkeit verhelfen“ äußerst wichtig; und sicherlich bemühen wir uns oft um „überflüssige, ja gefährliche und verderbliche Dinge“. Augustinus betont, die „hervorragende Kraft des Geistes“ diene aber auch „dem Unterhalt“ und dem „Schmuck des Lebens“.

Und dann lässt er seiner Begeisterung freien Lauf, fragt rhetorisch: „Was für ein großes natürliches Gut ist dieser Menschengeist, der all das erlernen und ausüben konnte?“ Er nennt die „wunderbaren und erstaunenswerten Erzeugnisse im Bekleidungs- und Baugewerbe“, die „Fortschritte im Ackerbau und Schifffahrt“; was hat sich dieser Geist „nicht alles ausgedacht und ausgeführt in Herstellung aller möglichen Gefäße oder auch der mannigfaltigsten Skulpturen und Malereien!“ Er erwähnt das Theater, spricht von der Zähmung der Tiere, von der „Fülle von Heil- und Hilfsmitteln“, von Speisen und Gewürzen, von der Vielfalt der Sprache und Schrift, von der Musik, vom „Scharfsinn“ in Mathematik und Astronomie; „ja, wer kann es beschreiben, welche Unsumme weltlichen Wissens er angehäuft hat“. All dies spiegelt auch den schöpferischen Gott wieder. Was würde Augustinus heute sagen, wenn er die Errungenschaften der Technik der letzten beiden Jahrhunderte betrachten würde? Warum ist uns eigentlich dieser Geist der Begeisterung über die „hervorragende Kraft des Geistes“ weitgehend verloren gegangen?

„Es ist unmöglich, auf Gott zu hoffen, ohne an allem Geschaffenen zu verzweifeln“

Kommen wir schließlich noch zu Martin Luther, der die zwei Seiten des Christentums ebenfalls sehr klar gesehen hat. Im Kleinen Katechismus im Teil zwei zum Apostolikums erklärt er „Ich glaube an Gott den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde“ wie folgt: „Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit aller Notdurft und Nahrung dieses Leibes und Lebens mich reichlich und täglich versorgt, wider alle Fährlichkeit beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohne all mein Verdienst und Würdigkeit: des alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin.“

In diesem einen langen Satz springt uns die Bejahung der Schöpfung, die Weltzugewandtheit, geradezu in die Augen. So banale Dinge wie Schuhe, Haus oder das Vieh werden genannt. Damit wird ausgedrückt, dass auch das Alltägliche gut und von Gott gewollt ist. Auch hier wird jeder falschen Abwertung des Irdischen, Materiellen und Geschöpflichen gewehrt. Diese irdische Welt ist unser Handlungsfeld, der Ort der christlichen Ethik, der Bewährung des Glaubens und des Gehorsams. „Sinn und Geschmack fürs Endliche“, so Oswald Bayer, wird hier gelehrt – dies ist gesunde, biblische Diesseitsorientierung.

Dieser Geschmack fürs Endliche ist dann gesund, wenn man zuvor am Endlichen verzweifelt ist und vom Jenseits geschmeckt hat. Luther in der Erläuterung zur elften These der Heidelberger Disputation aus dem Jahr 1518: „Es ist unmöglich, auf Gott zu hoffen, ohne an allem Geschaffenen zu verzweifeln und zu wissen, daß einem nichts nützen kann außer Gott.“ Weil wir uns aber doch „auf das Geschaffene verlassen, so ist es klar, daß wegen solcher Unreinheit in allen Dingen Gottes Gericht zu fürchten ist“. Hier hat Luther die falsche Weltlichkeit im Blick, die Naturverehrung, das Verharren im Diesseits. Das Geschaffene ist gut, doch es ist von Unreinheit, Sünde, durchdrungen, so dass z.B. der „der Wille ein Gefangener und ein Sklave der Sünde [ist]“.

Luther entwirft in diesem wohl ersten wichtigen durch und durch reformatorischen Text  seine „Theologie des Kreuzes“. Er hatte begriffen, dass sich am Kreuz die Geister scheiden; dass es nicht um die Frage geht, ob man religiös oder atheistisch ist (auch die heidnischen Römer waren ja durch und durch religiös), sondern an welchen Gott man glaubt. Luther zur 20. These: „So reicht es für niemand aus, Gott in seiner Herrlichkeit und Majestät zu erkennen, wenn er ihn nicht in der Niedrigkeit und Schmach seines Kreuzes erkennt.“ Zu den „Theologen der Herrlichkeit“: „Weil sie das Kreuz nicht kennen und es hassen, müssen sie notwendig das Gegenteil lieben, d.h. Weisheit, Ruhm, Macht“ (22). Eine Ethik, die diese drei Dinge hochhält, hat Augustinus geschildert (s.o.).

Woody Allen ringt seit vielen Jahrzehnten mit der Gottesfrage, ist aber bis heute in seinem Atheismus gefangen. Der Filmregisseur vor einigen Wochen in einem Interview: „Ich hasse die Realität. Sie macht keinen Spaß. Eine traurige, tragische Geschichte, die Realität. Aber wissen Sie, es gibt keinen anderen Ort, an den man gehen kann. Die Realität ist alles, was wir haben.“ In einer ironischen und bitteren Weise bestätigt er damit, was C.S. Lewis sagt: „Gerade weil wir etwas anderes mehr lieben als diese Welt, lieben wir diese Welt mehr als jene, die nichts anderes kennen.“ Wer nur die sichtbare Realität hat, der muss sie hassen; wer mehr kennt, kann sie lieben.