„Die Anmaßung von Wissen“

„Die Anmaßung von Wissen“

Gestern vor 40 Jahren, am 11. Dezember 1974, wurde Friedrich August von Hayek (1899–1992) der Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften überreicht (kein ‘echter’ Nobelpreis, da der Stifter nicht Alfred Nobel, sondern die schwedische Reichsbank war). Der damals in Deutschland lebende Brite, der in Österreich aufwuchs und bis Anfang der 3oer Jahre in Wien arbeitete, gehört zu den großen Denkern des 20. Jahrhunderts. Eine große Lektion, die von bis heute zu lernen ist: die Warnung vor der Anmaßung von Wissen.

So hieß auch seine Rede aus Anlass der Verleihung des Preises in Stockholm (hier der englische Text: The Pretence of Knowledge). Darin warnt Hayek davor, in den Sozialwissenschaften „die Verfahren der exakten Naturwissenschaften, die so überaus erfolgreich waren, möglichst genau nachzuahmen“. Diesen „schweren Fehler“ nennt er „Szientismus“, der ironischerweise „gänzlich unwissenschaftlich im wahrsten Sinne des Wortes ist“. In den exakten Naturwissenschaften wird richtig angenommen, „dass jeder wichtige Faktor, der die beobachteten Ergebnisse mitbestimmt, selbst unmittelbar beobachtbar und messbar ist.“ Bei der „Untersuchung komplexer Phänomen wie des Marktes“, also in der Wirtschaft und Gesellschaft, wo alles von den Handlungen zahlreicher Individuen abhängt, „können alle die Umstände, die das Resultat des Prozesses bestimmen… kaum je voll bekannt und messbar sein.“

In den exakten Naturwissenschaften lassen „sich Erklärung und Voraussage auf Gesetze gründen, die die beobachteten Erscheinungen als Funktionen verhältnismäßig weniger Variabler… darstellen.“ Ganz anders bei den „inhärent komplexen Phänomenen“. Der Szientismus in der Ökonomie, so Hayeks Kritik, ist der Fiktion verfallen, dass die Faktoren, die man messen kann, die einzig relevanten sind.

In der Folge führt der Szientismus zur Selbstüberschätzung, so dass man sich vom Wesen der Wissenschaft – dem kritischen Denken – entfernt: „Aber der Glaube an die unbegrenzte Macht der Wissenschaft beruht nur zu oft auf einem falschen Glauben, dass die wissenschaftliche Methode in der Anwendung einer gebrauchsfertigen Technik oder in der Nachahmung der Form anstatt des Wesens des wissenschaftlichen Verfahrens besteht, so als brauchte man nur ein paar Kochrezepte anzuwenden, um alle sozialen Probleme zu lösen. Es sieht manchmal so aus, als seien die Techniken der Wissenschaft leichter zu erlernen als das Denken, das uns zeigt, welches die Probleme sind und wie man sie angeht.“

Hayeks Hauptkritikpunkt am Sozialismus (der in der Rede nirgends genannt wird) ist der Versuch der planvollen Konstruktion einer Gesellschaft: „In dem Glauben, dass wir die Kenntnis und die Macht besitzen, die Vorgänge in der Gesellschaft ganz nach unserem Gutdünken zu gestalten, eine Kenntnis, die wir in Wirklichkeit nicht besitzen, werden wir nur Schaden anrichten. In den exakten Naturwissenschaften mag nicht viel dagegen zu sagen sein, dass das Unmögliche versucht werden soll; man mag sogar das Gefühl haben, dass man die Überoptimistischen nicht zu sehr entmutigen sollte, weil ihre Experimente schließlich aus zu neuen Einsichten führen können. Aber im Bereich der Gesellschaft wird der falsche Glaube, dass die Ausübung einer gewissen Macht vorteilhafte Folgen haben würde, dazu führen, dass einer Behörde neue Macht übertragen wird, auf andere Menschen Zwang auszuüben.“

Im Bereich inhärenter Komplexität können wir kein vollständiges Wissen erwerben. Will man die Gesellschaftsordnung verbessern, wird man sein Wissen „nicht dazu verwenden dürfen, um die Ergebnisse zu formen wie der Handwerker sein Werk formt, sondern ein Wachstum zu kultivieren, indem er die geeignete Umgebung schafft, wie es der Gärtner für seine Pflanzen macht.“ Dies ist ein sehr hilfreiches Bild und einer der wenigen anschaulichen Vergleiche in den klaren, aber doch meist trockenen Sätzen Hayeks. Ergebnisse formen oder Bedingungen schaffen – im Hinblick auf die großen, aber auch die kleinen sozialen Probleme sind dies die beiden Paradigmen. Unsere Fähigkeiten zu Formung sind jedoch aufgrund des begrenzten Wissens äußerst beschränkt. Hayek endet seine Rede mit einer Warnung: „Die Erkenntnis der unüberschreitbaren Grenzen seines Wissens sollte den Forscher auf dem Gebiet der Gesellschaft eine Demut lehren, die ihn davor bewahrt, ein Mitschuldiger in des Menschen unglückseligem Streben nach Beherrschung der Gesellschaft zu werden – ein Streben, das ihn nicht nur zum Tyrannen über seine Mitmenschen, sondern auch zum Zerstörer einer Zivilisation machen kann, die kein Verstand entworfen hat, sondern die erwachsen ist aus den freien Bemühungen von Millionen von Individuen.“

Wie auch sein Freund Karl Popper stellte Hayek unser Unwissen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen – ungewöhnlich für einen Denker. In seinem wichtigen Werk Die Verfassung der Freiheit: „Das Argument für die Freiheit gründet sich auf die Erkenntnis unserer Unwissenheit.“ Die Begründung: „Wenn es allwissende Menschen gäbe, … gäbe es wenig zugunsten der Freiheit zu sagen… Freiheit ist wesentlich, um Raum für das Unvorhersehbare und Unvoraussagbare zu lassen… Weil jeder Einzelne so wenig weiß, und insbesondere, weil wir selten wissen, wer von uns etwas am besten weiß, vertrauen wir darauf, dass die unabhängigen und wettbewerblichen Bemühungen Vieler die Dinge hervorbringen, die wir wünschen werden, wenn wir sie sehen. So demütigend es für unseren Stolz sein mag, wir müssen anerkennen, dass der Fortschritt und selbst die Erhaltung unserer Zivilisation von der größtmöglichen Gelegenheit für den Eintritt von Zufällen abhängig ist.“

Und Sätze, die so auch von Popper stammen könnten: „Natürlich gehen alle politischen Theorien davon aus, dass die meisten Menschen sehr unwissend sind. Die Vertreter der Freiheit unterscheiden sich von den übrigen dadurch, dass sie zu den Unwissenden auch sich selbst und auch die Weisesten zählen. Gegenüber der Gesamtheit des Wissens, das in der Entwicklung einer dynamischen Zivilisation ständig genutzt wird, ist der Unterschied zwischen dem Wissen, das der Weiseste, und dem Wissen, das der Kenntnisloseste bewusst verwenden kann, verhältnismäßig bedeutungslos. “

„Gerade weil wir nicht wissen, wie die Einzelnen ihre Freiheit nützen werden, ist sie so wichtig“, so Hayek. Es macht daher wenig Sinn und wir werden nicht viel erreichen, „wenn wir die Freiheit auf die besonderen Fälle beschränken, in denen wir wissen, dass sie Gutes stiften wird. Freiheit, die nur gewährt wird, wenn im Voraus bekannt ist, dass ihre Folgen günstig sein werden, ist nicht Freiheit… Es ist daher kein Argument gegen individuelle Freiheit, dass sie oft missbraucht wird. Freiheit bedeutet notwendig, dass vieles getan werden wird, dass uns nicht gefällt. Unser Vertrauen auf die Freiheit beruht nicht auf voraussehbaren Ergebnissen in bestimmten Umständen, sondern auf dem Glauben, dass sie im Ganzen mehr Kräfte zum Guten als zum Schlechten auslösen wird.“

Diese Demut im Hinblick auf das Wissen des Menschen kann von Christen nur begrüßt werden. Hayek selbst war (wie auch Popper) erklärter Agnostiker, der aber gerade in späteren Jahren die Bedeutung der Religionen würdigte. Sie sind es, die moralische Konventionen und Traditionen bewahren und überliefern. Hans Jörg Hennecke in Friedrich August von Hayek zur Einführung: „Zumal der Erfolg des Christentums ist für Hayek darin begründet, dass es in den Zehn Geboten und in seiner personalistischen Sozialethik Moralvorstellungen geschützt und auszubreiten geholfen hat, die den Regeln für eine freie Gesellschaft entsprechen, insbesondere also die Institutionen Familie und Privateigentum. In der Tradition von Alexis de Tocqueville und Lord Acton und im Unterschied zu vielen atheistischen Liberalen hält er Liberalismus und Christentum grundsätzlich für miteinander vereinbar.“

Außerdem deutete schon er „die großen Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts als quasi-religiöse Bewegungen“, so Hennecke. Der gemeinsame Kern von Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus liege darin, „dass sie für Moralvorstellungen werben, die im Widerspruch zu den Regeln der ‘Offenen Gesellschaft’ stehen und in atavistischer Manier das Ideal der Horde beschwören: ‘Der Sozialismus ist einfach ein Wiedererstarken jener Stammesmoral, deren allmähliche Schwächung es ermöglicht hat, der Großen Gesellschaft näherzukommen’.“

Die „Offene Gesellschaft“ ist das große Thema der beiden Briten Hayek und Popper. Letzterer verfasst im II Weltkrieg sein Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Über die beiden schreibt auch Karen Horn, die Vorsitzende der Friedrich-August-von-Hayek-Gesellschaft, in „Welches Wirtschaftssystem passt zur offenen Gesellschaft?

Im deutschsprachigen Raum hat Hayek zahlreiche Feinde, gerade auch in seiner österreichischen Heimat. Christan Felber, Begründer des Konzepts der Gemeinwohl-Ökonomie, spart nicht mit Seitenhieben auf Hayek. Hass begegnet diesem von Seiten der Gewerkschaftsbewegung, da Hayek sich tatsächlich gegen zu große Macht einzelner Gewerkschaften aussprach. So bezeichnete jüngst  Markus Marterbauer hier auf dem Blog des ÖGB-Journals „Arbeit und Wirtschaft“ Hayek sogar als „Antidemokraten“ – im Wesentlichen, weil er in der Militärdiktatur Augusto Pinochets in Chile auch Positives sah („I prefer a liberal dictator to democratic government lacking liberalism“). Bei Marterbauer wird daraus eine „öffentliche Unterstützung“, weshalb Hayek eine „Gegnerschaft zum demokratischen System westlicher Prägung“ entwickelt hätte. Daher sein Fazit: „Alle jene Institutionen, die sich noch heute auf Friedrich August Hayek berufen, sollten dies schamvoll beenden.“

Marterbauer  meint, Hayeks „Unterstützung für den faschistischen Militärputsch in Chile“ basiere „auf seinen staatsphilosophischen Theorien“: „Bereits in der Verfassung der Freiheit (1960) relativiert Hayek den Wert der Demokratie, in dem er ihr rein instrumentellen Charakter für die Verwirklichung eines sehr speziellen Freiheitsbegriffes zuschreibt. In Hayeks Vorstellung kann die Freiheit des Individuums nur durch eine begrenzte Demokratie erreicht werden, in der die wesentlichen Rahmenbedingungen wie Privateigentum, Vertragstreue oder der Wert der Familie durch Verfassung vorgegeben und nicht demokratisch veränderbar sein sollen.“

Die Diskussion um die „Unterstützung“ Pinochets kann hier nicht vertieft werden. Wahrscheinlich ist es korrekter von einer Relativierung zu sprechen. Hayek war wohl beeindruckt von den Wirtschaftsreformen im Land (unter der Anleitung u.a. von Milton Friedman und den „Chicago boys“), die ja tatsächlich langfristig sehr viel Frucht brachten – Chile ist heute als einziges südamerikanisches Land in der OECD. Das Folterregime Pinochets ist nicht in Schutz zu nehmen, und Hayeks Äußerungen in diese Richtung sind als Fehler zu bezeichnen. Es muss aber die Bemerkung erlaubt sein, dass alle Kritiker Hayeks im eigenen Stall sauber machen sollten: Ist jemand, der sich für Che Guevara begeistert – ganz gewiss kein Demokrat, der nachgewiesenermaßen im Zuge der Revolution in Kuba tausende ohne Gerichtsurteil hinrichten ließ – deswegen schon ein Antidemokrat?

Dämonisierungen à la Marterbauer führen leider dazu, dass man sich mit den auch von ihm aufgeworfenen Fragen viel zu wenig beschäftigt – und dies gilt natürlich auch für evangelikale Christen: Was können wir wirklich wissen? Was sind die Grenzen unseres Wissens? Ich halte Hayeks und Poppers Konzept der Kritik der Anmaßung von Wissen für äußerst fruchtbar – man denke nur an die Apologetik und konkret die Neuen Atheisten wie Dawkins oder Harris: diese glauben immer alles ganz ganz genau zu wissen. Woher eigentlich? Die von Hayek hinterfragte Wissenschaftsgläubigkeit und der Positivismus ist bei ihnen offensichtlich.

Und ist Hayek nun ein Antidemokrat? Ja, er sprach sich für eine begrenzte Demokratie aus. Und die großen, wahren Freunde der Demokratie haben seit de Tocqueville recht genau ihre Schwächen und Grenzen gesehen. Wie schon dem Franzosen graute Hayek vor dem Diktat einer allmächtigen Mehrheit. Recht, Gerechtigkeit und Schöpfungsordnungen, „Privateigentum, Vertragstreue oder der Wert der Familie“, sind tatsächlich dem Willen von Mehrheiten zu entziehen. Gott bewahre uns vor denen, die – um höherer Ziele wegen – glauben, dass man diese fundamentalen Rechte außer Kraft setzen darf, und sei es demokratisch. Popper, Hayek, de Tocqueville hatten begriffen, dass Demokratie (wie Freiheit und Gerechtigkeit) ein Negativum ist, d.h. ihr Wert liegt in erster Linie darin, dass sie uns vor Tyrannei schützt und erlaubt, Herrscher unblutig wieder loszuwerden. Für alle Gesellschaftskonstrukteure geht es in der Demokratie um anderes: „der einzige[!] Zweck der Demokratie [ist] die Umsetzung seines Willens“ (C. Felber), die Umsetzung des Volkswillens. Wer um die Gefahr der Anmaßung von  Wissen weiß, wird diesem allmächtigen und allwissenden Volkswillen nicht zu viel zutrauen.