„Wird der Westen Osteuropa wieder verraten?“
„Der Kreml ist nicht an allem schuld“ – so überschrieb idea.de am 6. Dezember einen Artikel über den Vortrag von William Yoder in der Celler Baptistenkirche Ende November. Der mennonitische Theologe aus den USA wohnt seit vielen Jahren in Russland, arbeitet mit der dortigen Allianz und einem Baptistenbund zusammen und wird als Russland-Kenner bezeichnet. Yoder wies auf die „großen Wahrnehmungsunterschiede“ des Konflikts in der Ostukraine in Russland und der Ukraine hin, warnte vor „einseitigen Schuldzuweisungen“, zeigte Verständnis für die Annexion der Krim durch Russland. „Sowohl Russland als auch die Ukraine betreiben nach seiner Ansicht Propaganda.“
Yoder bemüht sich auch in seinen Texten um Ausgewogenheit, doch am Ende steht immer die Beschwichtigung. „Falls Russland tatsächlich den Kampf der Separatisten in der Ost-Ukraine massiv unterstützt, dann kann der ganze Konflikt nur als höchst unglücklicher Stellvertreterkrieg zwischen Russland und den USA angesehen werden“, wie es in einem seiner englischsprachigen Texte heißt. In einem anderen Beitrag zitiert Yoder unkommentiert einen Landsmann, der im Kreml-Kanal „Russia Today“ am 5. September meinte, „Russland habe schon vor Jahren die Ukraine an den Westen verloren. Russland befinde sich in einem Nachhutgefecht; sein Einfluss werde sich auf einige wenige Landstriche beschränken, ‘die noch am russischsten denken und sich am ehesten dem US-Einfluss widersetzen’.“ Yoder nennt die verschiedenen russischen Satellitenstaaten von Süd-Ossetien über Abchasien bis Transnistrien und meint dann tatsächlich: „richtig ausgeweitet hat sich nur die Nato… Deshalb fällt es schwer, von einer einseitigen, russischen ‘Aggression’ zu sprechen. Auf die Einkreisung Kaliningrads haben die Russen nun doch reagiert – sie haben sich dabei nur etwas Zeit gelassen. Will Putin nun Russland mächtig ausdehnen – oder will er nur den freien Fall aufhalten?“
So weit sind wir schon. Der kaltblütige Aggressor wird mit Verständnis überschüttet, und Schuld haben natürlich letztlich die Staaten des Westens; sie hätten angefangen. Putin habe nur, so auch Alexander Gauland in seiner Rede auf dem AfD-Parteitag am 22. März, auf eine „geostrategische Bedrohung“ reagiert und sich „auf eine alte russische, zaristische Tradition besonnen: das Einsammeln russischer Erde.“ Der Politiker schließlich: „Ein starkes Russland war immer auch ein freundliches Russland.“
Sätze wie diese und all das In-Schutz-Nehmen des Chefs im Kreml sind ein Schlag ins Gesicht der Zentraleuropäer – Einwohner der Länder, die schon mehrfach wie Polen und das Baltikum von ihren starken Nachbarn zerrieben wurde. Vom einstmals expansiven Deutschland geht keinerlei Bedrohung mehr aus, was natürlich besonders in Warschau geschätzt wird. Nun fürchtet man sich in diesen Ländern vor einem Aufleben dieser alten „zaristische Tradition“, die sich der alten sowjetischen Methoden bedient: das Blaue vom Himmel lügen. Dass diese elende Propaganda Frucht trägt, zeigt auch ein Kommentar zu dem idea-Artikel, der es auf den Punkt bringt: „die USA zusammen mit der EU [sind] der schuldige und kriegstreibende Part“.
Man reibt sich verwundert die Augen: Russland glaubt das Recht zu haben, in die Handlungen unabhängiger Staaten einzugreifen, wenn es scheint, dass sie sich zu stark dem Westen zuwenden. Christian Neef, auch ein Russland-Kenner, im „Spiegel“ (49/2014): Wenn Putin von „Recht“ spricht, „meint er das Recht Russlands, sich zu nehmen, was ihm gebührt, und zu bestimmen, welchen Kurs die Ukraine künftig nimmt.“
Vor dieser ‘Recht’-Setzung zittert man in Zentraleuropa, und deshalb haben die Staaten zwischen Tallinn und Sofia nach und nach in die Nato (und EU) gedrängt. Dahinter steht keine Verschwörung des „Welttyrannen“ USA, sondern das Streben nach Sicherheit in Freiheit. Eine Freiheit, für die allein im Baltikum in der Nachkriegszeit hunderttausende Partisanen vergeblich kämpften. Ein Aufstand, der damals nicht vom Ausland geschürt und auch nicht unterstützt war.
Es gibt nun jedoch genug Stimmen im Westen, die die Nato-Osterweiterung als das Ur-Übel ansehen, das einen neuen Kalten Krieg ausgelöst habe. Yoder zitiert den berühmten US-Diplomat George Kennan, der 1998 sagte, die Ausweitung der Nato gen Osten sei „ein tragischer Fehler“ gewesen, weil er Russland provozieren musste.
Tatsächlich haben Bundesaußenminister Genscher und sein US-Kollege Baker in den Verhandlungen um die deutsche Einheit Anfang 1990 der sowjetischen Seite Zugeständnisse gemacht: die Nato beabsichtige keine Ausdehnung über die Oder nach Osten. Diese mündlichen Zusagen wurden von der sowjetischen Führung nicht aufgegriffen, d.h. sie fanden in keinem der anschließenden Abkommen schriftliche Erwähnung. Denn, so Schewardnadse, damals sowjetischer Außenminister, die Auflösung des Warschauer Paktes „lag außerhalb unserer Vorstellungswelt“. Der Gedanke, die Nato würde sich auf Länder dieses Bündnisses ausdehnen, klang damals vollkommen absurd. Auch für die Führer des Westens. Niemand plante also eine Nato-Mitgliedschaft der baltischen Staaten, die 1990 noch zur UdSSR gehörten. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion änderte sich natürlich die ganze Situation. Die freien Länder – von niemandem gezwungen, von niemandem gedrängt – beantragten den Beitritt zum westlichen Bündnis. Hätte man sie vor der Tür stehen lassen müssen? Joschka Fischer im „Spiegel“-Interview (42/2014): „Wo wären wir denn heute, wenn wir die osteuropäischen Staaten nicht aufgenommen hätten? Dann gäbe es ein gefährlich instabiles Zwischeneuropa.“
Von einem tatsächlichen Wortbruch „des Westens“ kann also keine Rede sein. Verträge und Abmachungen wurden eingehalten. Interessanterweise verzichtete Moskau 1998 bis 2002, als die Osterweiterungen beschlossen wurden, auf jeden Tumult und akzeptierte (wenn auch wenig begeistert) die Aufnahme der Zentraleuropäer. Genauso wenig hat Heimtücke vorgelegen, denn dazu gehört eine echte Täuschungsabsicht.
Doch der stete Propaganda-Tropfen höhlt bekanntlich den Stein. Nun muss man Sprüche aushalten wie „die Nato hat sich mit ihren Kanonen bis an unsere Staatsgrenzen vorgebohrt“ oder – so Putin selbst – „Auch wenn es keine Krise in der Ost-Ukraine gegeben hätte, hätte der Westen trotzdem einen Grund gefunden Russland zu bremsen” (auf Deutsch u.a. über RT, Russia Today, verbreitet, s. Bild o.). Verschwörungsfan schwadronieren über die „Dämokratie“ (die USA natürlich) und glauben, Obama wolle „Russland ruinieren“. Jedem nur halbwegs Interessierten sind alle Daten über Kanonen und Panzer und Kampfflugzeuge in der Region leicht zugänglich. Von irgendeiner Art von echter militärischer Bedrohung Russlands kann keine Rede sein. Die Armeen des Baltikums sind geradezu mickrig; auch die in Litauen und Estland stationierten Nato-Jets (12 an der Zahl) haben eher symbolischen Wert. Kaliningrad dagegen ist vollgestopft mit Militär und Angriffswaffen (die Balten haben noch nicht einmal Kampfpanzer). Wer richtet hier denn seine Kanonen auf wen?
Yoder sieht Propaganda auf beiden Seiten und regt sich auch darüber auf, dass z.B. die britische „Sun“ nach dem Abschuss des malaysischen Flugzeugs über der Ukraine im Juli gleich „Putin’s Missile” (Putins Rakete) titelte. Doch ewig kann man das diplomatische Spiel „keiner sagt die Wahrheit“ nicht spielen. Wer hat denn nun die Maschine vom Himmel geholt?
Jan Fleischhauer hat dankenswerter Weise in seiner „Spiegel-Online“-Kolumne „Die vergessenen Toten von Flug MH17“ wieder ins Gedächtnis gerufen. Zu einer Günther-Jauch-Sendung im November: „63 Minuten redeten die Talkgäste über Wladimir Putin – es war die zweite Sendung in Folge, die den russischen Präsidenten und seine geopolitischen Ideen zum Thema hatte. Die Toten von Flug MH17kamen, wie schon am Sonntag zuvor, nicht ein einziges Mal vor. Kein Wort über den Abschuss der Malaysia-Airlines-Maschine, bei dem vieles dafür spricht, dass die Waffe aus Russland stammt. Keine Nachfrage des Moderators, warum man einem Mann vertrauen soll, der bis heute Lügen verbreiten lässt, wenn es um den Ablauf der Katastrophe geht.“
„Dass eine Rakete aus russischen Beständen MH17 im Flug traf,“ so Fleischhauer, „halten inzwischen Leute, die ihre Informationen nicht nur von ‘Russia Today’ beziehen, für mehr als wahrscheinlich.“ Er weist auf die unabhängigen „Bellingcat“-Recherchen („by and for citizen investigative journalists“) hin. Deren Ergebnisse fasste die „Zeit“ zusammen, die von einer „dichten Indizienkette“ spricht, „in die sich die abgehörten Telefonate, die von der ukrainischen Regierung veröffentlicht und zunächst angezweifelt wurden, nahtlos einfügen“. Einen abschließenden Beweis gibt es (noch) nicht, aber eine „weitgehende Rekonstruktion der Ereignisse ist möglich“. Man darf gewiss behaupten, dass die Separatisten mit russischen Waffen das Flugzeug abschossen. Und, so die „Zeit“, die Lügen der Separatisten und des Kremls wurden eindeutig entlarvt.
Hätte der Kreml eine reine Weste, würde er sich nicht in Lügen verstricken. Fleischhauer: „Die russische Regierung hat bis heute Halbwahrheiten und Desinformation zu dem Abschuss in Umlauf gebracht. Die Radardaten, die angeblich beweisen, dass sich ein ukrainischer Kampfjet der malaysischen Maschine bis auf drei bis fünf Kilometer genähert hat, blieb das russische Verteidigungsministerium bis heute schuldig. Ein Video, demzufolge sich die Buk-Raketen am Abend des 17. Juli in der Nähe von Krasnoarmijsk, also einer von der ukrainischen Armee kontrollierten Stadt, befand, ist eine Montage, wie ‘Bellingcat’ herausgefunden hat.“
Gewiss ist auch der ukrainischen Regierung nicht jedes Wort zu glauben – wie auch nicht jedem deutschen Kabinettsmitglied. Doch aus dem Kreml kommen so gut wie nur Lügen – und nichts anderes. Nun mögen das in Russland und Yoder eingeschlossen wohl viele anders sehen. Dies hat dann aber mit einer gravierenden und naiven Unkenntnis der Herrschaftsmethoden der Sowjets und ihren Folgen zu tun. Die Relativierung von Gut und Böse, von Wahr und Falsch gehörte zum kommunistischen System und wurde in der Sowjetunion geradezu perfektioniert. (Hier ein ARD-Beitrag über den russischen “Medienkrieg”.) Die kommunistischen Staaten waren ganz auf Lügen aufgebaut. Und dies beeinträchtigte das gesamte moralische Klima von Gesellschaften. Vaclav Havel in seiner berühmten Rede am 1. Januar 1990: „Am schlimmsten ist es, dass wir in einer verschmutzten moralischen Umwelt leben. Wir sind moralisch krank geworden, weil wir es uns angewöhnt haben, etwas anderes zu sagen, als wir dachten.“
Die Zentraleuropäer haben sich auf den Weg der harten Aufarbeitung dieses schweren Erbes gemacht. Sie können gut unterscheiden zwischen Politikern im Westen, die natürlich auch keine Engel sind, und einem System der Lüge, in das sie nie mehr zurück wollen. In demokratischen Staaten wird auch gelogen, aber die Lügen kommen dank freier Presse und Gerichte über kurz oder lang ans Tageslicht. Putin setzt dagegen in seinem Reich auf eine systematische Unterdrückung der Wahrheit – daher die Gängelung von Presse und Justiz. Vom Geist der Selbstkritik und der Korrektur wie bei Havel ist im Kreml nichts zu sehen. Man trauert den glorreichen Sowjetzeiten von Herzen nach und reaktiviert alte ‘bewährte’ KGB-Methoden.
Natürlich ist der Kreml nicht „an allem“ schuld. Hat dies jemals jemand behauptet? Doch niemand anders als die Machthaber dort sind verantwortlich für eine Auffrischung der russischen Expansionsphantasien. Joschka Fischer nüchtern: „Es war eben auch eine Illusion der Europäer zu glauben, dass Russland von seinem Weltmachtanspruch ablassen und stattdessen den eigentlich richtigen Weg zur wirtschaftlichen Integration in Europa einschlagen würde. Damit hat Russland eine weitere große Modernisierungschance in seiner Geschichte vertan.“
Die Staaten im Osten der EU wollen diese Chance nutzen – und tun dies, Polen allen voran. Sie sind heilfroh, dass sie zum ersten Mal seit Jahrhunderten frei über ihr Schicksal bestimmen können und keinem Tyrannen schutzlos ausgeliefert sind. Ginge es nach all den Russland-Verstehern à la Yoder, hätten sie sich mit weniger zufrieden geben müssen. Und wenn „die Ukraine sich von all dem freimacht, was sie noch aus der Sowjetzeit in sich trägt, ihr postsowjetisches Erbe also, dann gehört sie zu Europa“, so erfreulich eindeutig Fischer.
Wenn Yoder nun durch deutsche Gemeinden tingelt und dabei seine Kreml-Beschwichtigung betreibt, dann wird dies nur eine „trübe deutsche Tradition“ verstärken, so Thomas Schmid im Frühjahr in der „Welt“: „Das ewige deutsche Schwanken zwischen Ost und West“. Deshalb muss man mit Sofi Oksanen, die ebenfalls dort am 18.04. schrieb, fragen: „Wird der Westen Osteuropa wieder verraten?“ „Das letzte Mal wurden Osteuropa und die baltischen Staaten unter dem Molotow-Ribbentrop-Pakt an die Sowjetunion und ihre Einflusssphäre verkauft“, so die finnische Autorin. Sie endet ihren Beitrag mit diesen Worten: „Es ist an der Zeit, dass der Westen Nein zu Russlands Vorhaben sagt, sein Territorium über die Grenzen des Landes hinaus auszuweiten. Und das ist nicht durch diplomatischen Dialog zu erreichen. Es ist unmöglich, mit einem Gegner zu verhandeln, der, wenn es um seine Ziele geht, ständig lügt… Der Westen hat versucht, die Kreml-Politik zu verstehen. Aber es ist wirklich nicht nötig, Kolonialismus zu verstehen. Es geht schlicht um Gier, und sie muss gestoppt werden.“
PS: Russland-Kennern vom Schlage Yoders seien die Schriften von Edward Lucas anbefohlen. Der britische Autor vom Economist, der u.a. in Estland lebte, gut polnisch spricht und jüngst Ehrendoktor der Vytautas-der-Grosse-Universität in Kaunas wurde, hat schon 2008 in The New Cold War warnend seine Stimme erhoben (bisher erschien nur dieses Buch auf Deutsch: Der Kalte Krieg des Kreml); jüngst kam eine aktualisierte Neuauflage heraus. Sein zweites Buch Decpetion – Spies, Lies and How Russia Dupes the West erschien auf Litauisch, nicht auf Deutsch. Eine Analyse der Lage in der Region aus seiner Sicht vom September gibt es hier: Russia is winning: “Many policymakers and analysts in London and other Western capitals… blame the West for provoking the crisis in Ukraine by ignoring Russia’s interests. I disagree profoundly. My views are based on my experiences over many years in Estonia, Latvia, Lithuania, Poland, the Czech Republic, Ukraine, Moldova, Russia and other countries in the region. Our friends there have long been warning us of the dangerous direction of events. We have not listened to them. Instead, we have systematically patronised, belittled and ignored people who understand the problem better than we do. Now they have been proved right. I hope that my voice may be heard, where theirs, still, is not.”
Wie wichtig Lucas Sätze sind und wie verbohrt naiv viele westliche Intellektuelle tatsächlich sich über Osteuropa äußern, zeigt der vorgestrige Aufruf von 60 Personen des öffentlichen Lebens, viel Prominenz darunter, natürlich auch die unvermeidlichen Käßmann und Grün. Karl Schlögel kommentierte heute in der “Welt” treffend: “ein peinliches Dokument”. Und Edo Reents auf faz.net: „Das Resultat zeugt von einer grotesk verzerrten Wahrnehmung der Realität und einem beunruhigenden Geschichtsbild.“ (Das Echo reichte bis Litauen, s. hier: „Į miltus sumalė advokataujančius Rusijai“). Man vergleiche mit der Erklärung polnischer Intellektueller Ende August („Gestern Hitler und Danzig, heute Putin und Donezk“): „Wer heute Putin nicht “No pasarán” entgegenruft, macht die Europäische Union und ihre Werte lächerlich und willigt ein, dass die Weltordnung umgestürzt wird.
Hier noch ein guter Beitrag zu RT Deutsch in der “Zeit”.