Die Weisheit der Katechismen
Während des Vorlesungswochenendes am EBI im Oktober ging es in Holgers Einführungskurs um die Geschichte der Theologie und unser theologisches Erbe. Dazu zählen vor allem auch die Bekenntnisse der Kirche. Manche Katechismen haben ebenfalls Bekenntnisrang erlangt. In diesem Zusammenhang sind natürlich der Heidelberger, aber zuerst Luthers Katechismen zu nennen. Hier eine deutlich erweiterte Einleitung zu Luthers Kleinem und Großem Katechismus, die sich auf die Hauptteile “Gebote” und “Glauben” konzentriert.
Eine der Wiederentdeckungen der Reformatoren war, dass allein der Glaube den sündigen Menschen mit Gott versöhnt. Sie betonten, dass dieser Glaube nicht nur ein bloßes Fürwahrhalten, sondern im Kern persönliches Vertrauen ist. Der Glaube vertraut den Versprechen im Evangelium, ergreift diese Zusagen mit dem eigenen Herzen. Diese Versprechen Gottes begegnen uns in der verkündigten Botschaft der Bibel. Daher rückte bei den Evangelischen die Erklärung der Schrift in den Mittelpunkt der Kirche, die auslegende Predigt ins Zentrum des Gottesdienstes. Die Menschen sollen wirklich begreifen, was Gott ihnen in seinem Wort sagen will, denn ohne Verstehen der Zusagen kein Glauben. Die Aufgabe der Kirche ist es daher, das persönliche Wachstum des Einzelnen im Glauben – im Glauben an das offenbarte Wort – zu fördern.
„Sie leben dahin wie das liebe Vieh“
Um 1525/26 bildeten sich erste evangelische Landeskirchen. Kirchenvisitationen zeigten jedoch bald die katastrophale Unwissenheit der einfachen Gläubigen wie auch der Geistlichen. Kurt Aland: „Das Ergebnis der Visitationen war alles andere als erfreulich. Es zeigte sich, daß die völlige Durchsetzung der Reformation im Bewußtsein der Gemeinde, ihre Hinführung zum neuen Glauben… noch nicht möglich gewesen war; daß das Bekenntnis zum Neuen und die Verurteilung des Alten eben tatsächlich weithin formal geblieben und nicht bis in die notwendige Tiefe vorgedrungen war. So entstehen als Konsequenz aus diesen Visitationen die Katechismen Luthers…“ (Geschichte der Christenheit, II)
Luther selbst nahm in der Vorrede des Kleinen Katechismus ebenfalls kein Blatt vor den Mund: „Hilf, lieber Gott, welchen Jammer habe ich gesehen: dass der gemeine Mann doch so gar nichts weiß von der christlichen Lehre… und dass leider viele Pfarrer recht ungeschickt und untüchtig sind zu lehren. Sie sollen doch alle Christen heißen, getauft sein und die heiligen Sakramente empfangen, können aber weder das Vaterunser, noch den Glauben oder die Zehn Gebote, leben dahin wie das liebe Vieh und wie unvernünftige Säue.“
Die erschreckende Unkenntnis in den Gemeinden musste behoben werden. Die Kirchen waren in die Verantwortung gerufen,ihrer pädagogischen Aufgabe nachzukommen. Ein wichtiges Mittel waren die Katechismen, die in der Reformationszeit zahlreich veröffentlicht wurden. Ihr Ziel war und ist die allgemeine Verständlichkeit der christlichen Lehre. Es ging also – anders als z.B. beim Augsburger Bekenntnis – nicht so sehr um das Bekenntnis nach außen, sondern um die „Volkserziehung“, eben die Katechese (von gr. katechein – unterrichten, unterweisen, belehren).
Diese Katechese hatte in der christlichen Kirche natürlich eine lange Geschichte. Schon in der frühen Christenheit gab es einen Unterricht für die zu Taufenden, die Katechumenen (der Unterricht selbst war das sog. Katechumenat). Damals entwickelte sich wohl auch das Frage-und-Antwort-Schema, das die Katechismen bis heute häufig kennzeichnet.
Luther knüpfte inhaltlich an die traditionellen Element der Unterweisung an: Apostolikum und Vaterunser fanden sich auch schon in der Katechese des frühen Mittelalters; nur der Dekalog, die Zehn Gebote, kamen dort meist nicht vor. Seine Katechismen beruhen wahrscheinlich auf Predigtreihen des Jahres 1528 über die fünf „Hauptstücke“: Zehn Gebote, Glaube, Vaterunser, Taufe und Abendmahl. Luther wollte Antworten auf grundlegende Fragen geben, die er schon 1520 formuliert hatte (zitiert nach H. Roller in der Einleitung zu Der Große und der Kleine Katechismus): „Was soll ich tun und lassen? Woran erkenne ich meine Krankheit? – Dazu brauche ich die Zehn Gebote. Wo finde ich Arznei? Wo finde ich Hilfe, die Gebote zu erfüllen? – dazu brauche ich den Glauben. Wie bringe ich diese Hilfe zu mir? – Dazu brauche ich das Gebet (Vaterunser) und die Sakramente.“
„Ich muß ein Kind und Schüler des Katechismus bleiben“
Im Frühjahr 1529 erschien dann zuerst der umfangreichere Deutsch Katechismus, später Große Katechismus genannt: eine Art Lehrbuch, in dem Luther breiter argumentiert (aber selbst dies anspruchsvollere Werk soll, so in der Vorrede, auch „für die Kinder und Einfältigen“ bestimmt sein). Es folgte Enchiridion. Der kleine Katechismus für die gemeinen Pfarrherren und Prediger, später nur Kleiner Katechismus genannt. Dieser hat die gleiche Grundstruktur wie der Große, ist aber wesentlich prägnanter und mit seinen knapp fünfzig Fragen auch zum Memorieren geeignet (zu den fünf Hauptteilen traten später noch der Abschnitt über das Amt der Schlüssel und die Beichte sowie einige Anhänge wie z.B. Gebete hinzu). Es war, anders als es der ursprüngliche Titel vermuten lässt, vor allem für die „Hausväter“, also die Laien, bestimmt, die für die Weitergabe der grundlegenden Lehrinhalte an Familie (und Haus- und Hofangestellte) verantwortlich waren. In der Vorrede des Kleinen Katechismus gibt Luther übrigens viele konkrete Hinweise, wie pädagogisch vorzugehen ist.
Besonders der Kleine Katechismus beinhaltet christliches Elementarwissen (worauf auch der damals beliebte gr. Titel enchiridion – Handbuch hindeutet); und, so Luther, wer dies „nicht kennt, kann nicht zu den Christen gezählt und kann zu keinem Sakrament zugelassen werden – so wie man auch einen Handwerker, der sein Handwerk und dessen Regeln und Vorschriften nicht kennt, für unfähig hält und entläßt.“ Obwohl auch von Luther oft mit „Kinderlehre“ gleichgesetzt, begriff der große Theologe dennoch, dass sich jeder Christ immer wieder an dies Elementarwissen erinnern muss: „Ich muss ein Kind und Schüler des Katechismus bleiben und bleibe es auch gerne.“ Gerade in der Vorrede des Großen Katechismus kritisiert er die „vermessenen Heiligen“ scharf, die „wahrlich nicht so gelehrt und hohe Doktoren sind“ und bloß nicht meinen sollten, sie hätten den ‘einfachen’ Katechismus „ausgelernt“.
Luthers Katechismen erfreuten sich bald großer Beliebtheit. Neben seinen Schmalkaldischen Artikeln wurden sie in das Konkordienbuch (1580) aufgenommen, die Sammlung der Bekenntnisschriften der Lutheraner. Gerade im 16. Jahrhundert wurden jedoch noch weitere lutherische Katechismen verfasst wie z.B. durch Johannes Brenz. Die Katechismen des Württemberger Reformators wurden noch Jahrhunderte später gedruckt.
Die reformierten Evangelischen teilten Luthers Sicht und entwickelten eine noch größere Vielfalt von Katechismen. Bekenntnisstatus erlangten in vielen ihrer Kirchen der Heidelberger Katechismus und später die Westminster-Katechismen. Auch die katholische Kirche erkannte die Wichtigkeit dieser Lehrbücher und schuf Mitte des 16. Jahrhunderts den Catechismus Romanus(Römischer Katechismus). Viel größere Bedeutung errang jedoch Robert Bellarmins Katechismus aus dem Jahr 1597, der auch noch im 20. Jahrhundert erschien.
„Das umfassende protestantische Lehrbuch der Ethik“
Betrachtet man den Großen Katechismus, so fällt das Gewicht der Zehn Gebote auf: Ihre Erläuterung nimmt etwa die Hälfte des Katechismus ein, fünfmal so viel Raum wie das Glaubensbekenntnis. Dies drückt Luthers große Sorge um die Moral des Kirchenvolkes aus, wusste er doch um den Missbrauch der evangelischen Lehre, die „faule, schädliche, schändliche, fleischliche Freiheit“. Der Reformator sah die Gebote als Ausdrucksformen der christlichen Liebe an, als „Summarium aller Tugenden“.
Die Reformatoren legten auch deshalb den Akzent auf die Zehn Gebote, um die katholische Zweiteilung der Ethik abzuwehren: die angeblich ‘einfacheren’ 10 Gebote für alle, und die darüberhinausgehende ‘Elite-Ethik’ der besonderen und verdienstvollen religiösen Werke. Daher betonte schon Melanchton, dass der gesamte Aufbau der Ethik den 10 Geboten zu entnehmen sei. Luther im Großen Katechismus: „So haben wir nun die zehn Gebote, einen Ausbund göttlicher Lehre, was wir tun sollen, dass unser ganzes Leben Gott gefalle, und den rechten Born und Rohr, aus und in welchem quellen und gehen müssen alles, was gute Werke sein sollen; also dass außer den zehn Geboten kein Werk noch Wesen gut und Gott gefällig sein kann, es sei so groß und köstlich vor der Welt, wie es wolle.“
Gott fordert von uns ausschließlich das, was er uns mitgeteilt hat. Wer eigenmächtig über das hinaus, was Gott als Sünde definiert hat, weitere Handlungen und Gedanken als Sünde verbietet – und sei es auch in noch so frommer Absicht –, der macht sich selbst zum Gesetzgeber und legt den Menschen ein untragbares Joch auf. Luther: „Zuerst ist zu wissen, dass es keine guten Werke gibt als allein die, die Gott geboten hat, wie es ebenso keine Sünde gibt, als allein die, die Gott verboten hat. Darum: wer gute Werke kennen und tun will, der braucht nichts anderes als Gottes Gebote zu kennen.“ (Sermon von den guten Werken)
Die Ausführungen im Katechismus nennt Klaus Bockmühl daher „das umfassende protestantische Lehrbuch der Ethik für die Gläubigen; er ist zugleich das ethische Handbuch für den Pfarrer“, denn für die Geistlichen gab es eben keine Extra-Ethik (Gesetz und Geist). Neu war vor allem auch, dass der Nächste Ziel und Gegenstand des christlichen Handelns ist. „Die von der Reformation betonte Zentralstellung des Nächsten kann man in ihrer historischen Bedeutung nicht leicht überschätzen“, so Bockmühl.
„Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass…“
Außerdem fällt auf, welche herausragende Rolle Luther dem Ersten Gebot zukommen lässt. Es ist das im wahrsten Sinne des Wortes entscheidende Gebot, denn hier entscheidet sich unsere Stellung zu Gott. Gegen Ende der Erläuterung der Gebote schreibt Luther, dass mit dem Gebot „Du sollst nicht andere Götter haben“ dies gefordert wird: „Du sollt mich als deinen einzigen rechten Gott fürchten, lieben und mir vertrauen“. Und weiter: „Denn wo ein Herz so gegen Gott gerichtet ist, hat es dieses und alle anderen Gebote erfüllt. Wer andererseits etwas anderes im Himmel und auf Erden fürchtet und liebt, der wird weder dieses noch irgendein anderes halten.“
Daraus folgt, dass allein der Glaube das Erste Gebot erfüllt, was Luther schon 1520 in Von der Freiheit eines Christenmenschen und im Sermon von den guten Werken betonte. Im Sermon: „Dieser Glaube, dieses Vertrauen, diese aus Herzensgrund kommende Zuversicht ist die wahrhaftige Erfüllung dieses ersten Gebotes“. So erläutert Luther auch im Großen Katechismus das Erste Gebot: es wird durch den Glauben gehalten, denn „‘einen Gott haben’ ist nichts anderes, als ihm von Herzen trauen und glauben; wie ich oft gesagt habe, dass allein das Vertrauen und Glaubens des Herzens beide macht: Gott und Abgott. Sind Glaube und Vertrauen recht, so ist auch dein Gott recht; und umgekehrt: wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zusammen, Glaube und Gott. Woran Du nun (sage ich) dein Herz hängst und Dich darauf verlässt, das ist eigentlich dein Gott.“
Der Glaube ist das „Hauptwerk“, das die menschlichen Werke erst zu guten Werken macht. Ohne den Glauben sind die Werke, mit denen man die anderen Gebote zu erfüllen meint, „wahrhaftig Abgötterei“, seien sie äußerlich auch noch so religiös. Daher müssen im Glauben „alle Werke geschehen“ (Sermon). Auf diese Weise ist „das erste Gebot das Haupt und die Quelle“, die die anderen Gebote mit Leben erfüllt; es gibt „seinen Glanz in die anderen alle“. Umgekehrt, so Luther weiter im Großen Katechismus, hängen alle weiteren Gebote am ersten und beziehen sich darauf zurück.
Sehr deutlich wird dies auch im Kleinen Katechismus, wo Luther das erste Gebot knapp so erklärt: „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen“. Das Gebot wird als eine Art Präambel angesehen, das die Erläuterung der folgenden Gebote bestimmt, denn er leitet die Auslegung der Gebote zwei bis zehn immer gleich wie folgt ein: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass…“ Der Glaube führt zum Handeln und zur Liebe, und nur der Glaube macht aus den einzelnen Werken, die äußerlich jeder tun kann, christliche. Luther hämmert auf diese Weise ein: Werke sind Ausdruck des Glaubens, des richtigen Verhältnisses zu Gott; sie schaffen dieses Verhältnis nicht.
Oswald Bayer hält daher völlig zu Recht fest: „den Glauben nun als Erfüllung des Ersten Gebots zu fassen,… – dies ist eine der wichtigsten theologischen Einsichten Luthers überhaupt, die in ihrer grundlegenden Bedeutung kaum überschätzt werden kann.“ (Martin Luthers Theologie)
Das Geniale ist vor allem auch, dass so die gesamte Ethik und Moral in den Kontext der Gottesverehrung gestellt wird. Thomas Schirrmacher: „Oberstes Gebot der christlichen Ethik bleibt es, Gott zu danken, zu ehren und von ganzem Herzen zu lieben“ („Die doxologische Dimension der Ethik“, in: Leben zur Ehre Gottes). Außerdem wird so jeder „Werkreligion“, dem falschen Moralismus und aller Gesetzlichkeit vorgebeugt, denn die die guten Werke sind auf diese Weise betrachtet keinerlei Weg zu Heil und Errettung. Der Glaube ist zwar das „Hauptwerk“, aber er wiederum ist ja Gottesgeschenk und Gottes Werk (s.u.).
„Ohne all mein Verdienst und Würdigkeit“
In Luthers Katechismen strahlen neben der Erläuterung der Gebote im Großen die Antworten zum Glauben im Kleinen Katechismus hervor. Die drei Abschnitte zu Schöpfung, Erlösung und Heiligung entsprechend der Teile des Apostolikums zu Vater, Sohn und Geist gehören zum Besten, was jemals der Feder eines Theologen entsprungen ist. Hören wir zuerst auf die Auslegung von „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer Himmels und der Erden“:
„Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit aller Notdurft und Nahrung dieses Leibes und Lebens (mich) reichlich und täglich versorget, wider alle Fährlichkeit beschirmet und vor allem Übel behütet und bewahret; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohne all mein Verdienst und Würdigkeit: des alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gewißlich wahr.“
Hier wird sofort wieder die persönliche Dimension des Glaubens deutlich (kräftig unterstrichen ja auch im Heidelberger), denn Luther formuliert in der ersten Person – es geht hier nicht um abstrakte Wahrheiten, sondern um mein Leben hier und heute. Dies wird auch dadurch unterstrichen, dass Luther nach dem „geschaffen“ zu Verben in der Gegenwartsform übergeht.
In diesem einen langen Satz springt uns die Bejahung der Schöpfung geradezu in die Augen. So banale Dinge wie Schuhe, Haus oder das Vieh werden genannt. Damit wird ausgedrückt, dass auch das Alltägliche gut und von Gott gewollt ist. Jedem Platonismus, jeder Abwertung des Irdischen und Materiellen, wird hier gewehrt. Diese irdische Welt ist unser Handlungsfeld, der Ort der christlichen Ethik, der Bewährung des Glaubens und des Gehorsams. „Sinn und Geschmack fürs Endliche“, so Bayer, wird hier gelehrt – dies ist gesunde, biblische Diesseitsorientierung. (Wenn heute gerade „emergente“ Autoren eine falsche Jenseitsorientierung der protestantischen und evangelikalen Tradition bemängeln und sogar meinen, erst jüngst sei die „geheime“ Botschaft Jesu vom Reich Gottes, das hier anbricht, wiederentdeckt worden, dann kann man nur fragen: schon Luther gelesen?)
Diese Welt ist jedoch auch gefallene Schöpfung. Nach dem Fall ist alles vom Nichts und vom Tod bedroht, ist Leben grundlegend gefährdet. Der Heidelberger Katechismus spricht in Fr. 27 ebenfalls konkret von Dürre, Krankheit und Armut. Auch der Christ ist all dieser „Fährlichkeit“ oder diesen Gefahren ausgesetzt. Luther streicht hier Gottes bewahrendes, schützendes und erhaltendes Handeln heraus, theologisch gesprochen: seine Vorsehung. Diese darf nicht aus den Augen verloren werden, denn sie ist Quelle von Trost und Hoffnung. Wir sind daher nicht nur für die Erlösung, sondern auch für dies Werk Gottes zu Dank und Lob aufgerufen.
Oswald Bayer weist schließlich auf die Wichtigkeit des Einschubs „ohne all mein Verdienst und Würdigkeit“ hin: „Nicht erst die Erlösung, sondern schon die Schöpfung ist ein Werk der Barmherzigkeit des dreieinen Gottes“. Die Schöpfung ruht nicht in sich selbst, sondern wird von einem mächtigen und guten Gott unverdient erhalten. Der Gott des Evangeliums zeigt sich also nicht nur in der Erlösung als gnädig, sondern auch hier im Erhaltungshandeln. Dies ist nicht rettende, sondern allgemeine Gnade, von der auch die Nichtgläubige Nutzen haben und für die jeder Mensch dankbar sein soll.
„Auf daß ich sein eigen sei“
Den langen zweiten Artikel des Apostolikums über Christus erläutert Luther im Kleinen Katechismus wie folgt:
„Ich glaube, daß Jesus Christus, wahrhaftiger Gott vom Vater in Ewigkeit geboren und auch wahrhaftiger Mensch von der Jungfrau Maria geboren, sei mein Herr, der mich verlornen und verdammten Menschen erlöset hat, erworben, gewonnen und von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels; nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben; auf daß ich sein eigen sei und in seinem Reich unter ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit, gleichwie er ist auferstanden vom Tode, lebet und regieret in Ewigkeit. Das ist gewißlich wahr.“
Das Apostolikum gibt in diesem Teil einen Abriss der Lehre von der Person Christi: Empfängnis, Geburt, Leben, Sterben, Auferstehung, Himmelfahrt, Wiederkunft. Sein Werk der Erlösung wird direkt gar nicht genannt. Luthers Erläuterung konzentriert sich aber nach einem Einschub („wahrhaftiger Gott…, wahrhaftiger Mensch“) ganz auf das rettende Handeln des Gottessohnes. Damit wird unterstrichen, wie eng Person und Werk Christi zusammenhängen. Jesus konnte nur deshalb wirklich erlösend handeln, weil er eben der Gottmensch war und ist, und er kam auf Erden, weil er eine bestimmte Aufgabe erfüllen sollte.
Luther zeigt damit, dass es keine abstrakte oder unpersönlich-ferne Gotteserkenntnis gibt. Schon Melanchton formulierte 1521 in Loci communes: Christus erkennen heißt seine Wohltaten erkennen, nämlich sein Erlösungswerk für uns. Sicher nicht zufällig konstruiert Luther den Hauptsatz des Abschnitts zugespitzt persönlich und existentiell: „Ich glaube, daß Jesus Christus… sei mein Herr“.
Der Reformator zeichnet hier wie im nächsten Abschnitt ein nüchternes Bild des Menschen: verloren und verdammt. Der unerlöste Mensch kann sich aus dieser Lage nicht selbst befreien, er ist eben in der „Gewalt des Teufels“. Einige Jahre zuvor gebrauchte Luther in Vom unfreien Willen das Bild des Zug- oder Reittiers für den Menschen: Entweder werden wir von Gott oder dem Teufel geritten, „und es steht nicht in seiner [des Menschen] freien Entscheidung, zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn sich zu verschaffen zu suchen, sondern die Reiter selbst kämpfen miteinander, ihn zu erlangen und zu besitzen.“ Dadurch wird eigentlich nicht so sehr die Passivität des Menschen als vielmehr die Aktivität Gottes unterstrichen.
Bei der Zueignung des Heils ist auch hier deshalb Christus der allein aktive, der erlöst und uns zum Eigentum gemacht hat. Dies ist die Sprache des Monergismus im Hinblick auf das Heil: Gott allein (gr. monos) rettet Sünder, die Rettung ist nicht Ergebnis einer Kooperation oder Zusammenarbeit (Synergismus, von gr. syn – zusammen) von Mensch und Gott.
Die klassische lutherische und reformierte Theologie ist durch und durch monergistisch, und die zeitgenössische evangelikale weitgehend synergistisch, die Aktivität des Menschen betonend. Es sei hier nur darauf hingewiesen, dass C.S. Lewis in Überrascht vor Freude (Suprised by Joy, 1955) seinen Weg zum christlichen Glauben eher in den Spuren Luthers umschreibt (auch wenn er kein Monergist war): Grundtenor in dem Buch ist nicht er, Lewis, auf der Suche nach Gott, sondern vielmehr Gott auf der Suche nach ihm – Gott war hinter ihm her. Mit zahlreichen Bildern unterstreicht Lewis dies: Gott nennt er „den große Angler“, der ihn, den zappelnden Fisch, an Land holt; er vergleicht sich mit einer gejagten Maus oder einem Fuchs, aus dem Wald vertrieben, der nun übers freie Feld rennt. Gott drängte ihn in die Enge, wie in einem Schachspiel. Das vorletzte Kapitel heißt nicht zufällig „Schachmatt“: „Auf dem ganzen Brett standen meine Figuren in den unvorteilhaften Stellungen. Bald konnte ich mir nicht einmal mehr die Illusion machen, die Initiative läge bei mir. Mein Gegner begann mit seinen abschließenden Zügen.“
Wie auch der Heidelberger Katechismus gleich zu Beginn, so betont auch Luther hier, dass das rettende Handeln Gottes zu einem Besitzwechsel führt: der Christ ist Eigentum Christi („auf daß ich sein eigen sei“). Jesus als Retter annehmen ist nicht von seinem Herrsein und damit seiner Autorität zu trennen. Der Wechsel des Besitzers ist Trost, so ja der Heidelberger, aber es bleibt genauso auch der Ruf in die Unterordnung und den Gehorsam („…in seinem Reich unter ihm lebe und ihm diene“).
Luthers Worte in diesem Abschnitt bürsten heute mächtig gegen den Strich: Monergismus, konsequente Unterordnung unter eine Autorität – und auch noch „sein heiliges, teures Blut“. Die Rede von einem nötigen Opfer, dazu noch blutig, muss sich heutzutage viel Spott gefallen lassen und wird als „Sprachspiel“ hinwegerklärt. Thomas Breuer war in einem „Worthaus“-Vortrag wenigstens ehrlich, wenn er meinte: Bei der Deutung des Kreuzestodes „hilft auch der Katechismus [Luthers] nicht weiter“.
„Ich glaube, dass ich nicht… glauben kann“
Kommen wir zum dritten Artikel des Apostolikums („ich glaube an den Hl. Geist, die heilige christliche Kirche…“), den der Reformator wie so erklärt:
„Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durchs Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten; gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, erleuchtet, heiliget und bei Jesus Christus erhält im rechten, einigen Glauben; in welcher Christenheit er mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergibt und am Jüngsten Tage mich und alle Toten auferwecken wird und mir samt allen Gläubigen in Christus ein ewiges Leben geben wird. Das ist gewißlich wahr.“
Wird der erste Teil auf sein Grundgerüst reduziert, klingt es paradox, aber biblisch: „Ich glaube, dass ich nicht… glauben… kann“ – dies ist Mk 9,24 („ich glaube; hilf meinem Unglauben!“) in anderen Worten. Wie wir sahen, erfüllt nur der Glaube das Erste Gebot und damit alle anderen. Das macht die Sache aber nicht einfacher, im Gegenteil. Der rebellische Mensch kann zwar das eine oder andere äußere Werk des Gehorsams tun, aber Gott von Herzen rechtgeben, ihn lieben und ihm vertrauen, will und kann er nicht.
Im Großen Katechismus unterstreicht Luther in diesem Zusammenhang daher die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium: „Aus dem siehest Du nun, daß der Glaube eine gar viel andere Lehre ist als die Zehn Gebote. Denn jene (der Zehn Gebote) lehret wohl, was wir tun sollen; diese aber sagt, was uns Gott tue und gebe.“ Die Gebote, das Gesetz, machen „noch keinen Christen, denn es bleibt noch immer Gottes Zorn und Ungnade über uns, weil wirs nicht halten können, was Gott von uns fordert“. Das Evangelium dagegen „bringet eitel Gnade, machet uns fromm und Gott angenehm. Denn durch diese Erkenntnis kriegen wir Lust und Liebe zu allen Geboten Gottes, weil wir hier sehen, wie sich Gott ganz und gar mit allem, das er hat und vermag, uns zu Hilfe und Stütze gibt, die Zehn Gebote zu halten: der Vater alle Kreaturen, Christus alle seine Werke, der Heilige Geist alle seine Gaben.“
Es ist nun interessant zu sehen, wie der Abschnitt über den zweiten Artikel („Von der Erlösung“) und dieser dritte („Von der Heiligung“) zusammenhängen. Im zweiten ist es Christus, der die Gläubigen erwirbt, aber es wird noch nicht erläutert, wie dies genau geschieht. Völlig richtig ordnet Luther die Antwort des Menschen dem Heiligen Geist zu. Andernfalls liegt die Versuchung nahe, dies sich selbst zuzuschreiben. Es ist aber der Geist, der wirksam beruft, und er ist auch, der erleuchtet, heiligt und erhält, so der Reformator. Zwischen Christ werden und Christ bleiben besteht keinerlei Gegensatz, kein Bruch. Der Geist, der zum Gläubigen macht ist auch der Geist, der in die Heiligung führt und im Glauben bewahrt.
Wie handelt der Geist nun? Er beruft „durchs Evangelium“. Melanchton fomulierte diesen Gedanken im Augsburger Bekenntnis ein Jahr später so: „Solchen Glauben zu erlangen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, Evangelium und Sakrament gegeben, wodurch er, als durch Mittel, den Heiligen Geist gibt, welcher den Glauben, wo und wann er will, in denen wirkt, die das Evangelium hören…“ Wort, Geist und Verkündigung sind Thema in diesem Art. 5, den Bayer den „wichtigsten Artikel des Augsburger Bekenntnisses“ nennt, weil er das „Zünglein an der Waage“ ist. Denn hier wird geschildert, wie der Glaube durch den Geist gewirkt wird. Der Geist wirkt nicht unvermittelt, sondern eben durch das Evangelium und durch Mittel.
Das Verhältnis von Wort und Geist war eine Hauptlinie der Auseinandersetzung in der beginnenden Reformation. Es ist, so der Reformator in den Schmalkaldischen Artikeln, „fest dabei zu bleiben, daß Gott niemandem seinen Geist und seine Gnade gibt außer durch oder mit dem vorhergehenden äußerlichen Wort, damit wir uns bewahren vor den Enthusiasten, das ist Geistern (Schwärmern), die sich rühmen, den Geist ohne und vor dem Wort zu haben…“
Schon in Wider die himmlischen Propheten (1525) befaßte sich der Reformator ausführlich mit diesen Fragen. Er wandte sich darin gegen Karlstadt (Andreas Bodenstein), bei dem die innere Geisterfahrung ins Zentrum gerückt war („ich brauche das äußere Zeugnis nicht“). Luther hielt darin fest: „So nun Gott sein heiliges Evangelium hat hinausgehen lassen, handelt er mit uns auf zweierlei Weise. Einmal äußerlich, das andere Mal innerlich. Äußerlich handelt er mit uns durch das mündliche Wort des Evangeliums und durch leibliche Zeichen, als da sind Taufe und Sakramente. Innerlich handelt er mit uns durch den Heiligen Geist und Glauben samt anderen Gaben. Aber das alles dermaßen und in der Ordnung, daß die äußerlichen Stücke vorangehen sollen und müssen und die innerlichen hernach durch die äußerlichen kommen; so hat er es beschlossen keinem Menschen die innerlichen Stücke zu geben ohne durch die äußerlichen Stücke. Denn er will niemand den Geist noch Glauben geben ohne das äußerliche Wort und Zeichen, das er dazu eingesetzt hat.“
Die Spiritualisten dagegen rissen Schrift und Geist auseinander: Der Geist wirkt neben der Schrift; sein Wirken ist das Eigentliche neben dem das Reden des schriftlichen Wortes verblasst. Die meisten Reformatoren widersprachen diesem Denken massiv. Sicher kann der Buchstabe als solcher nicht das Herz verändern. Aber der Hl. Geist benutzt den Buchstaben, er nutzt das Schriftstudium und das gepredigte Wort, um dadurch zu wirken. Im Jahr 1539 meinte Luther zu Psalm 119: „Gott will dir seinen Geist nur durch dies äußerliche Wort geben“. Und dies äußerliche Wort ist zuerst ein Buch, das gelesen, studiert und dessen Botschaft dann verkündigt sein will.
„Die ganze Christenheit auf Erden“
Ein letzter wichtiger Gedanke, der an dem letzten Punkt direkt anknüpft. Der dritte Artikel des Apostolikums nennt die Kirche und die „Gemeinschaft der Heiligen“. In der Erläuterung des Kleinen Katechismus verbindet Luther das Wirken des Geist am einzelnen Menschen mit dem an allen Gläubigen: „gleichwie er [der Hl. Geist] die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, erleuchtet“ usw.
Mit dem Christwerden, so wieder Oswald Bayer, ist die Kirchwerdung direkt verbunden. Mit dem Glauben des einzelnen Christen konstituiert sich auch die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen. Diese Gleichordnung besagt, „dass die Kirche… der Sache nach weder vor noch nach der Berufung der einzelnen Christen durch das Evangelium besteht. Luther versteht also die Kirche weder im römisch-katholischen Sinn als Heilsanstalt noch im neuzeitlich-kollegialistischen Sinn als Verein.“
Im katholischen Verständnis ist es die Kirche, die zuerst glaubt und mit der der Gläubige dann glaubt. Sie steht in jeder Hinsicht an erster Stelle. Protestanten widersprechen: das dreimalige „ich glaube…“ Luthers. Aber es ist eben nicht so, wie Bayer sehr gut betont, dass zuerst Einzelne gläubig werden, sich dann zusammenschließen und so erst die oder besser: eine Kirche in einem zweiten Schritt gebildet wird. Das führt geradezu unvermeidlich zu der Auffassung, dass die Kirche dort ist, wo Gläubige sind; und dass dort, wo liebevolle, geschwisterliche Beziehungen bestehen, auch schon Kirche ist. Darin steckt natürlich Wahrheit (s. Mt 18,20). Die Kirche ist aber nicht nur die unsichtbare, zu der tatsächlich alle Gläubigen qua Glauben gehören. Sie hat auch eine institutionelle Seite, und hier nennen die protestantischen Bekenntnisschriften als ihr Kennzeichen zuerst immer die wahre Verkündigung des Evangeliums. Luther im Großen Katechismus: „wo man nicht von Christus predigt, da ist kein heiliger Geist, welcher die christliche Kirche machet…“
Nicht zufällig gab Johannes Calvin dem Buch IV seiner Institutio über die Kirche die Überschrift „Von den äußeren Mitteln oder Beihilfen, mit denen uns Gott zu der Gemeinschaft mit Christus einlädt und in ihr erhält“ – Gott benutzt „äußere Mittel“, um das Heil auszuteilen. Das erste Kapitel ist überschrieben „Von der wahren Kirche, mit der wir die Einheit halten müssen, weil sie die Mutter aller Frommen ist“. Der Genfer Reformator: „Gewiß, Gott gibt uns den Glauben ins Herz – aber durch das Werkzeug seines Evangeliums.“ Gott hat die Macht selig zu machen, aber diese Macht entfaltet er „in der Predigt des Evangeliums“ (IV,1,5).
Das zum Glauben kommen findet also nicht losgelöst von der Kirche statt, weil es eben die Verkündigung der Kirche (wie direkt oder indirekt auch immer) ist, durch die Glaube geweckt und geschenkt wird. Auf diese Weise ist die Kirche „die Mutter, die einen jeglichen Christen durch das Wort Gottes zeugt und trägt“, so Luther im Großen Katechismus. Die Kirche, so auch Calvin, trägt den „Ehrennamen ‘Mutter’.“
Der Heilige Geist wirkt also „individuierend, aber nicht isolierend“, so Bayer. Er wirkt direkt und persönlich, ohne Dazwischenschaltung eines priesterlichen Systems. Aber er handelt im Kontext der Kirche, mit ihr und führt direkt in sie hinein. – Luther hat mit seinen Katechismen sogar eine Skizze der Ekklesiologie, der Lehre von der Kirche, vorgelegt.
Luther ist es durch die enge Verzahnung der drei Artikel gelungen, den trinitarischen Charakter des christlichen Glaubens gut darzustellen. Im Großen Katechismus: „Des Vaters Huld und Gnade“ erkennen wir nur durch Christus, „der ein Spiegel des väterlichen Herzens ist“. Ohne ihn und sein Handeln sähen wir nur „einen zornigen und schrecklichen Richter“. Christus wird aber nur durch den Geist erkannt: „Von Christus aber könnten wir auch nichts wissen, wo es nicht durch den Heiligen Geist offenbart wäre.“ Daher fasst Luther zum Abschnitt über den Glaubensbekenntnis zusammen: „Siehe, da hast Du das ganze göttliche Wesen, Willen und Werk mit ganz kurzen und doch reichen Worten aufs allerfeinste abgemalet, darin alle unsere Weisheit stehet, die über alle Menschenweisheit, Sinn und Vernunft gehet und schwebt“. – Dieses ‘Gemälde’ Luthers lädt auch heute zur Betrachtung und Meditation ein.