Glaube und Denken

Glaube und Denken

Über die Notwendigkeit des Nachdenkens

Christen wird gerne vorgeworfen, dass sie das vernünftige Denken vernachlässigen. So schreibt der berühmte Astrophysiker Carl Sagan (1934–1996):

„Methodik und Ethik von Wissenschaft und Religion unterscheiden sich grundlegend. Die Religion fordert uns zum fraglosen Glauben auf, sogar (oder besonders) dann, wenn es keine eindeutigen Beweise gibt. Das ist ja gerade die zentrale Bedeutung des Glaubens. Die Wissenschaft dagegen fordert uns auf, nichts auf Treu und Glauben hinzunehmen, nicht unserem Hang zur Selbsttäuschung nachzugeben und angebliche Beweise abzulehnen. Der Wissenschaft gilt tiefe Skepsis als höchste Tugend. Die Religion erblickt darin oft ein Hindernis auf dem Weg zur Erleuchtung.“ (Gott und der tropfende Wasserhahn)

Gewiss ist in diesen Sätzen auch Wahrheit enthalten, dennoch zeichnet Sagan hier ein falsches Schwarz-Weiß-Bild. Noch schärfere Äußerungen in dieser Richtung gibt es natürlich beim Kopf der „Neuen Atheisten“, in Richard Dawkins Der Gotteswahn. Dort wirft der Oxforder Biologe allen Christen pauschal Irrationalismus und Unterdrückung des vernünftigen Denkens vor.

Natürlich gibt es Christen, die denkfaul sind. Doch dass das Christentum einen blinden Glauben verlangt, ist ein Mythos, der durch ständige Wiederholung nicht wahrer wird. In der griechischen Philosophie wurde der Verstand als höchster ‘Teil’ des Menschen angesehen. Dem ist tatsächlich zu widersprechen, denn die Vernunft ist nicht wichtiger als die Emotionen oder der Wille. Dennoch gilt, dass der Gläubige das Denken hoch achtet.

Das Denken ist grundsätzlich gut, denn Gott ist eine denkende Person und der Mensch denkt, weil er das Ebenbild Gottes ist. 26 Mal heißt es im AT über Gott, dass er „in seinem Herzen spricht“, d.h. nachdenkt (1 Sam 2,35; Ps 33,10–11; Jer 44,21). Natürlich denkt Gott nicht in der genau gleichen Weise wie wir. Er braucht nichts zu durchdenken, ist nicht gezwungen, mühsam zu Schlussfolgerungen zu kommen. Denn ihm sind alle seine Gedanken immer vollkommen gegenwärtig. Insofern ist Gott kein Philosoph, kein Freund der Weisheit, der diese suchen muss. Er ist die Sophia, die Weisheit, schlechthin.

Gott hat den Menschen den Verstand gegeben zur Kommunikation untereinander, mit ihm und für seine Aufgaben auf der Erde. Ein Gläubiger ist ein gern und bewusst denkender Mensch. John Stott betonte dies in Es kommt auch auf den Verstand an: „Durch die Heilige Schrift hat Gott gesprochen, das heißt, er hat sich durch Worte mitgeteilt… Kommunikation durch Worte setzt einen Verstand voraus, der verstehen und deuten kann“. Das Christentum ist in seinem Wesen eine Offenbarungsreligion, und diese rationale Offenbarung will verstanden werden.Stott

Stott zitiert den schottischen Theologen James Orr (1844–1913): „Wenn es eine Religion in der Welt gibt, die die Bedeutung der Lehre unterstreicht, dann ist das die Religion Christi. Es ist oft darauf hingewiesen worden, dass das Lehrelement in heidnischen Religionen verschwindend klein ist – es geht hauptsächlich um die Ausführung eines Rituals. Genau an dieser Stelle unterscheidet sich das Christentum von anderen Religionen – es enthält Lehre. Es kommt zu den Menschen mit einer bestimmten, positiven Lehre; es beansprucht, die Wahrheit zu sein; es gründet Religion auf Wissen, obwohl es Wissen ist, das nur unter moralischen Voraussetzungen zu erlangen ist… Religion, losgelöst von ernsthaftem, erhabenem Denken, hat sich noch immer, durch die ganze Geschichte der Kirche, als eine Religion erwiesen, die immer schwächer, geistloser und ungesünder wurde. Der Intellekt, der so um seine Rechte innerhalb der Religion betrogen wurde, hat dann außerhalb nach Befriedigung gesucht – und dabei einen gottlosen Rationalismus entwickelt.“

Der US-Soziologe Rodney Stark hat auf diese Zusammenhänge in The Victory of Reason hingewiesen. Nur im Judentum und Christentum waren die Grundlagen für eine rationale Theologie gegeben (ein personaler, allmächtiger mit einer vernünftigen Kommunikation an seine Ebenbilder); nur dort wurde das intensive Nachdenken über Gott und seine Welt zu einer Tugend. Er schildert dann im Buch ausführlich die Folgen für Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft.victory_of_reason_hirez

Christen haben eine „neue Gesinnung“, sind „Umdenkende“ (gr. metanoia – Umkehr, Buße, wörtl. Umdenken; von gr. nous – Verstand). Wir sollen deshalb nicht gedankenlos in den Tag hineinleben (Spr 15,28; 14,15). Ein Christ unterstellt alles Denken dem Gehorsam Christi (2 Kor 10,3–6). Selbstbeherrschung/Besonnenheit hat auch viel damit zu tun, nicht den Trieben zu folgen, sondern erst nachzudenken und dann zu handeln (Spr 15,28; Apg 24,25; Röm 12,3; 1 Pt 4,7; 2 Pt 1,6; 1 Kor 7,29; Tit 1,8).

Gott will der Ausgangspunkt unseres Denkens sein, aber nicht unser Denken ersetzen! Der große Prediger Martyn Lloyd-Jones (1899–1981) in Studies in the Sermon on the Mount zu Mt 6,30 (das falsche Sorgen):

„Nach der Lehre unseres Herrn in diesem Abschnitt ist Glaube zunächst Denken, und die Schwierigkeit mit den Kleingläubigen ist, dass sie nicht denken. Und Gott lässt es zu, dass die Umstände sie dann strafen… Wir müssen mehr Zeit darauf verwenden, die Lektionen unseres Herrn durch Beobachtung und Anwendung zu lernen. Die Bibel ist voller Logik. Wir dürfen uns den Glauben nie als etwas rein Mystisches vorstellen. Wir setzen uns nicht einfach in den Sessel und erwarten Wunderdinge. Das ist nicht christlicher Glaube. Christlicher Glaube hat wesentlich mit dem Denken zu tun. Seht die Vögel an, denkt über sie nach und zieht eure Folgerungen, seht das Gras an und die Lilien auf dem Feld [Mt 6,26–30]… Der Glaube kann auch folgendermaßen beschrieben werden: Er ist wie ein Mann, der darauf besteht, zu denken, obwohl alles um ihn herum ihn intellektuell zu frustrieren scheint. Das Problem des Kleingläubigen ist, dass er sein Denken nicht kontrolliert und stattdessen sein Denken von etwas anderem kontrolliert wird. So bewegt er sich im Kreis. Das ist das Wesen der Sorge und der Quälerei… Das ist aber nicht Denken, sondern Gedankenlosigkeit, Unfähigkeit zu denken.“

In der deutschen pietistischen und erwecklichen Tradition wird dagegen das Denken nicht unbedingt hochgeschätzt. Recht einflussreich war Otto Riecker (1896–1989), Gründer der Bibelschule Adelshofen, mit seinem Buch Bildung und Heiliger Geist. Darin findet sich neben berechtigter Kritik am „Theologismus“ teilweise scharfe Polemik gegen den „griechischen Geist“. Manchmal ist nicht ganz klar, was Riecker meint, wenn er z.B. fordert, man solle „liebend“ statt „philosophisch denken“. Riecker bevorzugt die „unmittelbare Erfahrung“; der Glaube habe seinen Platz „in der unmittelbaren Erlebnissphäre“, nicht im „begrifflichen Denken“. Die direkte Steuerung durch den Hl. Geist stellt er der Lenkung durchs Gehirn, d.h. durch das Denken gegenüber. Wir müssten erlöst werden „von diesem ewigen Denkenmüssen“.Riecker

Zu Calvins (aber nicht nur Calvins!) Lehre von der doppelten Prädestination meint er selbstsicher: „Das war eine klare, theologistische Operation, die viel Streit hervorrief und die niemals christlich ist. So kann ein Jünger nicht denken. Das ist griechisches Denken… Niemals bestimmt Gott Menschen zur Verdammnis!“ Es wäre gerade an dieser Stelle zu fragen (und dies gilt aber auch für seinen gesamten Ansatz), wie er dies biblisch fundiert begründet. Riecker ist selbst viel stärker von seinen (platonistischen?) Denkvoraussetzungen geprägt, als ihm das bewusst ist. Intensiveres und selbstkritisches Nachdenken hätte ihm an mancher Stelle sicher geholfen. So presst er alles in sein doch arg enges Schema Philosophie/Scholastik/Theologismus gegen lebendigen Glauben/Geistesleitung/spirituelle Erfahrung.

Für hilfreicher halte ich die Schriften der Mitarbeiter der „L’Abri fellowship“, gegründet von Francis A. Schaeffer (1912–1984) Mitte der 50er Jahre in der Schweiz. L’Abri verbindet tiefe Frömmigkeit, evangelistische Motivation, Bibeltreue und eine Betonung von Kultur, Denken, Weltanschauung. Auf Deutsch zugänglich ist z.B. Jerram Barrs Artikel „Das vernachlässigte Denken“ (s. hier). Der langjährige Mitarbeiter des britischen L’Abri-Zweiges (nun in den USA lehrend) schreibt dort:

„Wir haben es versäumt, ein christliches Denken zu entwickeln, und wir haben es versäumt, dieses Denken auf unsere Kultur zu beziehen und anzuwenden, wenn wir versuchen, ihre Götzen bloßzustellen und Menschen für Jesus Christus zu gewinnen. Man braucht nur an die gängigen Redensarten zu denken, die es in der Kirche und um uns her gibt. Die Leute reden von einem „Sprung des Glaubens“, und sie sagen,  „Stell’  keine Fragen, glaub’ einfach!“, „Verlass dich nicht auf deinen Verstand“,  „Folge dem Herzen und nicht dem Verstand“, „Das Herz hat Gründe, von denen der Verstand nichts weiß.“ Ein christliches Denken und Bewusstsein ist von grundlegender Bedeutung, und darüber muss sich diese Generation von Christen Gedanken machen, wenn sie die Herausforderung der Zeit annehmen will…  Gott hat uns mit einem Verstand erschaffen, ob wir das nun mögen oder nicht. Wenn wir es nun versäumen, ein christliches Denken und Bewusstsein zu entwickeln oder in unseren jungen Leuten zu fördern, dann werden wir uns entweder in ein kulturelles Ghetto zurückzuziehen oder wir werden uns dem Denken der Welt anpassen.“ (s. auch www.labri-ideas-library.org/ und die Seite der britischen Studentenbewegung UCCF www.bethinking.org)

BlamiresSchon vor fast 50 Jahren beklagte der Brite Harry Blamires in The Christian Mind: How Should Christians Think? die Vernachlässigung des christlichen Denkens: „Der Verstand der Christen hat sich dem Trend der Zeit gebeugt. Er ist schwach und rückgratlos geworden wie nie zuvor“. Damit hat man sich selbst in der Öffentlichkeit zum Schweigen verdammt; der Glaube wurde privatisiert, die Wahrheit subjektiviert. Stott geht im Kapitel „Können wir konsequent denken?“ in Christsein in den Brennpunkten unserer Zeit I auf Blamires berühmtes Buch ein und formuliert gut: „Wenn wir ein rechtschaffenes, aufrichtiges Leben führen wollen, dann müssen wir auch in unserem Denken rechtschaffen und aufrichtig sein“ (im Original prägnanter: „If we want to live straight, we have to think straight“). Diese Tradition setzt der US-Theologe David F. Wells (geb. 1939) fort mit Werken wie God in the Wasteland oder No Place for Truth, or, Whatever Happened to Evangelical Theology?

All dies ist relevant für die Praxis, ja für die Ethik entscheidend wichtig. Denn Gott will nicht, dass wir seine Gebote einfach nachplappern, sondern über sie nachdenken, sie durchdenken und sie dann richtig anwenden – in unserer jeweiligen Situation; wir müssen gezielt und bewusst nachdenken, um gute Entscheidungen im Alltag fällen zu können. Und wir müssen uns meist viel mehr Gedanken darüber machen, warum wir nun so handeln wie wir handeln. Thomas Schirrmacher nennt den Bereich der Familie:

„Für Kinder christlicher Familien stellt es ein großes Problem dar, dass ihre Eltern oft einen frommen Lebensstil pflegen, aber nicht wissen, warum sie so oder so handeln. Das Vorbild der Eltern ist enorm wichtig, aber wenn Eltern nicht darüber nachgedacht haben, warum sie dieses für wichtig halten und jenes für grundfalsch, haben die Kinder keine Möglichkeit, einen eigenen Standpunkt zu finden. Entweder kopieren sie alles, oder werfen alles über Bord. Das Ziel ist aber, dass die Kinder verstehen, warum die Eltern so handeln, damit sie später in völlig anderen Situationen dieselbe Wahrheit anwenden können.“ (Führen in ethischer Verantwortung)TS

Ohne Nachdenken kommt man besonders in der Ethik nicht weit, da die Bibel ja zu vielen Themen gar nicht direkt Stellung nimmt. Wir müssen daher nachdenken, um aus der Bibel die richtigen Schlüsse zu ziehen. Das Westminster-Bekenntnis (Art. 1,6): „Der ganze Ratschluss Gottes – bezüglich alles dessen, was notwendig ist zu seiner eigenen Ehre, zum Heil, Glauben und Leben der Menschen – ist entweder ausdrücklich in der Schrift niedergelegt oder kann mit guter und notwendiger Folgerichtigkeit aus der Schrift abgeleitet werden..“.

Als Beispiele aus der Sexualethik seien hier nur die Abtreibung, die künstliche Befruchtung  und der voreheliche Geschlechtsverkehr genannt, zu denen die Bibel herzlich wenig direkt sagt. Dennoch können gut begründete Positionen durch Exegese und eben Denken aus der Schrift abgeleitet werden. Schirrmacher weißt schließlich sehr gut auf den Zusammenhang von Nachdenken und Liebe hin: „Liebe ist zwingend auf das Denken und die Kommunikation angewiesen. Wer Liebe umsetzen will, muss bereit sein, viel Zeit zu investieren, um auf dem Wege des Denkens, des Gewissens und der Beratung zu einer Entscheidung zu gelangen, die den größten Nutzen für alle hat und gerechtfertigt werden kann.“