Recht auf Nahrung?

Recht auf Nahrung?

Es ist sinnlos, von einem Recht auf einen Zustand zu sprechen, wenn niemand die Pflicht oder auch nur die Macht hat, diesen her­beizuführen. Friedrich A. von Hayek

Es ist nicht gut, wenn Menschen hungern. Und es ist gut, wenn andere ihnen helfen. Menschen in Not werden gerade in diesen Tagen auch von den Mitarbeitern der Welthungerhilfe in den Ebola-Gebieten in Westafrika vor dem Tod bewahrt. Die strengen Sicherheitsmaßnahmen wie Straßensperren führen nämlich auch dazu, dass sich die Bevölkerung nicht wie sonst auf regionalen Märkten ausreichend versorgen kann.

Akute Hilfe in der Not ist unbedingt nötig. Aber gibt es auch ein „Recht auf Nahrung“, wie es ebenfalls die Welthungerhilfe am Welternährungstag (16. Oktober) jüngst lautstark forderte? Ist angemessene Ernährung ein Menschenrecht? Viele wie auch die Welternährungsorganisation FAO oder nicht zuletzt Jean Ziegler, der seine Internetseite gleich so benannt hat (www.righttofood.org), bejahen dies ganz eindeutig. Und gewiss haben auch die meisten Christen spontan nichts gegen solch einen Rechtsanspruch einzuwenden. Recht auf Nahrung? – Warum nicht? Doch sollte tatsächlich von einem Recht auf Nahrung gesprochen werden? Und hilft dies den Hungernden?

Menschenrechte sind Schutzrechte

Die Grund- und Menschenrechte wurden in der Neuzeit als Persönlichkeits- und Freiheitsrechte formuliert – Abwehr- oder Schutzrechte und damit eng verbunden demokratische Mitwirkungsrechte. Hierzu gehören Gleichheit vor dem Gesetz, Recht auf Freizügigkeit, Eigentum und freie Meinungsäußerung, Religionsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Die Verfassungen westlicher Staaten wie auch das bundesdeutsche Grundgesetz (Art. 1–19) spiegeln diese liberal-rechtsstaatliche Grundrechtstheorie wider.

Neben diese „erste Generation“ der Menschenrechte trat im 20. Jahrhundert die „zweite Generation“. Diese bilden die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leistungsrechte im Sinne von Anspruchs- und Teilhaberrechten. Dazu gehören Recht auf soziale Sicherheit, Arbeit und Nahrung, Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben usw. Der „dritten Generation“ geht es um die kollektiven Rechte der Völker. Art. 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Jeder hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.“ Laut Wikipedia-Eintrag zu „Menschenrechte“ sind damit u.a. „Recht auf Entwicklung, das Recht auf Frieden, auf eine saubere Umwelt, auf Kommunikation sowie auf einen gerechten Anteil an den Schätzen von Natur und Kultur“ gemeint.

Die ‘klassischen’ Menschenrechte finden sich in den ersten 21 Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948; ab Art. 22 („Recht auf soziale Sicherheit“) folgen die der zweiten und dritten Generation. Diese Erweiterung ist aber nun alles andere als unproblematisch. Thomas Schirrmacher betont: „Menschenrechte sind also Schutzrechte [die der „ersten Generation“], das heißt es geht weniger um Dinge, die einem Menschen zustehen, als um Beschränkungen des Staates und anderer Institutionen, in das Leben des einzelnen einzugreifen. Deutlich wird dieser Unterschied etwa beim bisweilen als Menschenrecht geforderten ‘Recht auf Arbeit’, wenn es hier nicht nur um den Schutz geht, sondern um eine konkrete, materielle Forderung, die keine Gesellschaft erfüllen kann.“ (Ethik, III)

Er zitiert Robert Spaemann aus Menschenrecht und Menschenwürde: „Gelingt es etwa, sozialen Grundrechten die gleiche Bedeutung zu geben wie den elementaren Garantien der Freiheit und des Rechtsschutzes, so heißt das, daß auch die elementaren Garantien der Freiheit und des Rechtsschutzes so relativ verstanden werden, wie die sozialen Grundrechte ihrer Natur nach relativ sind“. Zu dieser Relativierung gleich noch mehr.

Gerechtigkeit und Barmherzigkeit

Kritisch äußerst sich auch Thomas K. Johnson in Human Rights – A Christian Primer zu der Ausweitung (hier zum freien Download; dort vor allem ab S, 79, „But What Rights?“)Der reformierte US-Theologe, Mitarbeiter des Martin Bucer-Seminars und wohnhaft in Prag, glaubt, „dass nicht alle diese Veränderungen in der Art und Weise, wie über Menschenrechte geredet wird, gut gewesen sind. Einige Aussagen in den wichtigen öffentlichen Menschenrechtserklärungen scheinen von Ideologien geprägt zu sein, die wir Christen ablehnen sollten…“ Konkreter drückte sich Friedrich A. von Hayek zu diesen Ideologien aus. Zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Kapitel „Gerechtigkeit und individuelle Rechte“ aus Recht, Gesetz und Freiheit (s.u. Anhang): „Dieses Dokument ist eingestande­nermaßen ein Versuch, die Rechte der westlichen liberalen Tradition mit der völlig anderen Vorstellung, die sich aus der marxistischen Russischen Revolu­tion herleitet, zu verschmelzen.“

TS TKJ

Thomas K. Johnson (l.) mit Thomas Schirrmacher

Auch Johnson betont, dass die „zweite Generation“ der Menschenrechte sich deutlich von der ersten unterscheidet: „Eine klassische Formulieren der zweiten Generation von Menschenrechten ist in den Artikeln 24 und 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen zu finden… Hier wurde von den grundlegenden Freiheits- und Schutzrechten auf eine ganz andere Art von Anspruch übergegangen, dass nämlich dem Staat eine starke Verpflichtung obliegt, seinen Bewohnern bestimmte Dienstleistungen anzubieten. Ich glaube nicht, dass dies eine sinnvolle Art der moralischen Sprache ist, da die moralische Forderung Gerechtigkeit zu üben (was den Schutz von Rechten einschließt) mit der moralischen Forderung nach Barmherzigkeit und Treue vermischt wird“.

Die ‘Rechte’ der zweiten und dritten Generation sind „ganz anderer Art“, weshalb sie eigentlich nicht als Rechte bezeichnet werden sollen. Johnson streicht sehr gut den Unterschied zwischen dem Bereich der Gerechtigkeit und dem der Barmherzigkeit heraus, was ganz ähnlich schon Frederic Bastiat vor über 150 Jahren formulierte (s. hier und hier). In den Worten Johnsons: „Wir sollten um Dinge wie Essen, Kleidung, Unterkunft und medizinische Versorgung für Menschen in Not sehr besorgt sein, aber das sollte als Barmherzigkeit…, nicht in erster Linie als Praktizierung von Gerechtigkeit beschrieben werden. Diese Verwirrung kann die unbeabsichtigte Folge haben, dass die öffentliche Besorgnis um die Menschenrechte der ersten Generation geschwächt wird.“

Damit hat er ein sehr ernstes Problem auch der heutigen evangelikalen Sozialethik erfasst. Nun geht es so gut wie immer um den Einsatz für Gerechtigkeit – einher mit der Inflation der Rechte geht die Ausweitung dieses Begriffs. Doch so tritt Schutz vor Sklaverei und willkürlicher Verhaftung neben das Recht auf angemessenen Lebensstandard, hohe Arbeitslosenunterstützung und bezahlten Urlaub. Gerade die Artikel 24 und 25 der Allgemeinen Erklärung, so Johnson, erscheinen wie eine „Wunschliste“ – als ob man so viele Rechte haben können, wie man sich wünscht. „Solch willkürliche Ansprüche auf eine unbegrenzte Liste von Rechten können die gesamte Anstrengung zu ernstem Schutz der Menschenrechte im Namen der Gerechtigkeit nur zu leicht diskreditieren.“ Denn der der Kern des Problems mit der zweiten Generation der Menschenrechte ist dies: „Wenn alles zu einem Recht wird, dann wird nichts ein Recht sein.”

Rechte als bloße Ziele

Die Aufnahme der wirtschaftlichen und sozialen Rechte in die Standardlisten der Menschenrechte, so Johnson, „lässt alle Menschenrechte wie ferne, vage politische Ziele klingen, die zu einem späteren Zeitpunkt in der Geschichte der Menschheit verfolgt werden; sie sind dann nicht mehr Forderungen der Gerechtigkeit, die hier und heute eingehalten werden können und sollen, Forderungen, die in der Regel von jemandem (oft Vertreter einer Regierung oder der Armee) eingehalten werden, indem Ungerechtigkeiten unterbunden werden.“

Er zitiert Paul Marshall: „Das Problem der Betrachtung von wirtschaftlichen Bestimmungen als Rechte ist, dass eine bestimmte Regierung oft aus legitimen Gründen nicht in der Lage ist, solche Rechte zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt zu erfüllen. Selbst eine wohlmeinende Regierung ist nicht immer in der Lage, Einkommen, Wohnung oder Gesundheitsversorgung oder sogar Nahrungsmittel zu garantieren. Viele afrikanische Länder haben einfach nicht die Ressourcen dazu. Wenn wir wirtschaftliche Garantien als Rechte behandeln, dann sind wir gezwungen zu akzeptieren, dass Rechte nicht sofort erfüllt werden können und müssen. Sie sind dann nicht mehr Dinge, die wirklich garantiert, sondern die vielmehr als Ziele angestrebt werden soll. Das Ergebnis ist, dass wir am Ende Rechte zu bloßen Zielen verdünnen und ihre Unmittelbarkeit leugnen.“

Was man sieht und was nicht sieht

Johnson plädiert also dafür, entsprechend einer langen Tradition nur die Schutzrechte als Menschenrechte zu bezeichnen: „Angesichts der Art und Weise, wie die Bibel zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit unterscheidet, und angesichts der Art und Weise, wie Thomas von Aquin und andere frühere christliche Ethiker über die ordnungsgemäße Funktion von Menschenrechtsansprüchen sprachen, denke ich, es wäre besser, wenn Christen den Begriff ‘Menschenrechte’ nur noch für die Rechte der ‘ersten Generation’ gebrauchen.“

Denn wenn z.B. ein Organ der Obrigkeit einen schweren Akt der Ungerechtigkeit begeht, d.h. Menschenrechte von Einwohner tatsächlich verletzt, dann wird „von gewissenhaften Gläubigen verlangt, dass sie dagegen protestieren und unter Umständen zivilen Ungehorsam begehen.“ Menschrechte müssen unbedingt beachtet und gewahrt werden; soziale ‘Rechte’, die tatsächlich nur anzustrebende Ziele sind, können – s. Marshall – eben aus verschiedensten Gründen nicht verwirklicht werden, und daher können sie auch nicht in der gleichen Weise wie die echten Menschenrechte eingeklagt werden. Johnson daher weiter: „Dies unterscheidet sich grundlegend [!] von der Aufforderung an eine Regierung, sie sollte Maßnahmen ergreifen, um die medizinische Versorgung, soziale Sicherheit oder die Wohnungssituation zu verbessern.“

Johnson weist sehr gut darauf hin, dass nicht alle unsere Pflichten und Verantwortungen in Kategorien des Rechts (und der Gerechtigkeit) formuliert werden sollten. Konkret kritisiert er, dass der Schutz der Umwelt in Rechtskategorien ausgedrückt wird. Im Hinblick auf Gen 2,15, dem Auftrag zur Bewahrung, Kultivierung und Pflege der Schöpfung: „Zerstörung der Umwelt ist eine Sünde gegen dieses Gebot Gottes. Aber nicht jede moralische Verantwortung sollte als Menschenrecht bezeichnet werden. Einige unserer Verantwortungen gegenüber anderen Menschen sind besser als Pflichten der Gnade, Treue und Barmherzigkeit zu beschreiben. Und unsere Sorge für die nichtmenschliche Schöpfung ist besser als eine Pflicht der Haushalterschaft eines Schatzes, der uns anvertraut worden ist, zu bezeichnen. Menschen brauchen eine Umwelt, die nicht zu sehr verschmutzt ist, und wir haben die Pflicht, uns um Gottes Welt zu kümmern. Warum dies nicht einfach sagen, anstatt mit dem Reden über ein Menschenrecht auf eine gesunde und nachhaltige Umwelt zu verwirren?“

Der schon erwähnte Bastiat schrieb ein weiteres brillanten Werk, das bis heute nichts an seiner Aktualität verloren hat: „Was man sieht und was nicht sieht“. Darin geht es um die (erst einmal) nicht zu sehenden Folgen von wirtschaftlichen Maßnahmen, die auf den ersten Blick völlig gut, sozial und einleuchtend erscheinen (ein Beispiel heute wären die populären Mietspreisbremsen: man sieht, dass man weniger Miete zahlen muss; was man nicht sieht, ist die Zahl der Wohnungen, die wegen so einer Bremse nicht gebaut werden, was langfristig zu einer Verschärfung des eigentlichen Problems führt). Ein ähnlicher Mechanismus ist auch in unserem Zusammenhang festzustellen. Die Ausweitung des Rechts (und auch der Gerechtigkeit) sieht wunderbar aus, und wer ein Recht auf Nahrung unterstützt, propagiert und sich dafür einsetzt, steht automatisch auf der richtigen Seite. Was man nicht sieht oder nicht sehen will, ist, dass dies (s. die Zitate von Spaemann, Marshall und Johnson) zur einer Schwächung. Verdünnung und Relativierung des Rechtsbegriffs überhaupt führt und damit schließlich auch die klassischen Schutzrechte leiden.

So wird schon eine ganze Weile gegen das Recht auf Eigentum polemisiert, auch durch zahlreiche linke Sozialethiker. Wer sich nicht bereitwillig von seinem Eigentum „überschüssige Liquidität“ wegbesteuern lässt, wer an seinem Eigentum hartnäckig festhält, der will seinen Nächsten nicht lieben, dem wird schnell pauschal Gier und Anbetung des Mammons unterstellt. So jemand weigere sich, zur Armutssenkung beizutragen. Die Aufweichung des Rechts auf Eigentum klingt dann so: „Meinen Nächsten wie mich zu lieben ist kaum möglich, wenn ich grundsätzlich Eigentum gegen andere Menschen verteidige…“ Diese Sprache ist vielsagend: es sei unmoralisch, das Recht auf Eigentum zu verteidigen?! Dabei ist der rechtliche Eigentumsschutz, die grundsätzliche Verteidigung des Eigentums, einer der wichtigsten Faktoren zur Reduzierung der Armut (s. dazu Hernando de Sotos Arbeiten).

Wem die Armen und Hungernden wirklich am Herzen liegen, der sollte sich für klar und präzise definierte Rechte und auch für einen engen Gerechtigkeitsbegriff starkmachen. Daher will auch Johnson ausdrücklich betonen: „der Grund, warum ich glaube, dass es nicht klug war, normale menschliche Bedürfnisse wie Wohnen, Gesundheit, Einkommen, Nahrung oder soziale Dienstleistungen in die Listen der Menschenrechte aufzunehmen, ist gerade mein starker Wunsch, dass diese echten Bedürfnisse der Menschen erfüllt werden.“

Überlassen wir dem großen Friedrich August von Hayek (1899–1992) das Wort, der gegen Ende des Kapitels in Recht, Gerechtigkeit und Freiheit sehr gut schreibt: „Wenn wir wollen, daß es jedermann gut geht, werden wir diesem Ziel nicht dadurch am nächsten kommen, daß wir seine Verwirklichung gesetzlich befehlen oder je­dermann einen Rechtsanspruch auf das geben, was er unseres Erachtens haben sollte, sondern dadurch, daß wir für jedermann Anreize schaffen, möglichst vieles zu tun, das anderen Vorteile bringt.“

 

Friedrich August von Hayek: „Recht, Gesetz und Freiheit“ (1979)

Anhang (zu Kapitel 9) Gerechtigkeit und individuelle Rechte

[Kursiv HL] Der Übergang von der negativen Vorstellung von Gerechtigkeit, wie sie durch Regeln individuellen Verhaltens definiert ist, zu einer »positiven« Vorstellung, der zufolge es Pflicht der »Gesellschaft« ist, darauf zu achten, daß der einzelne bestimmte Dinge hat, wird oft durch Betonung der Rechte des einzelnen be­werkstelligt. Anscheinend haben in der jüngeren Generation die Wohlfahrtsin­stitutionen, in die sie hineingeboren wurde, ein Gefühl erzeugt, daß sie gegenüber der »Gesellschaft« einen Rechtsanspruch auf Versorgung mit be­stimmten Dingen habe, die zu beschaffen Pflicht dieser Gesellschaft sei. So stark dieses Gefühl auch sein mag, sein Vorhandensein beweist nicht, daß der Anspruch irgendetwas mit Gerechtigkeit zu tun hätte, oder daß solche An­sprüche in einer freien Gesellschaft befriedigt werden könnten.Anhang (zu Kapitel 9) Gerechtigkeit und individuelle Rechte

Es gibt einen Sinn des Wortes »Recht«, in dem jede Regel gerechten indivi­duellen Verhaltens einen entsprechenden subjektiven Rechtsanspruch schafft. Soweit Verhaltensregeln individuelle Sphären abgrenzen, wird der einzelne ein Recht auf seine Sphäre haben, und bei deren Verteidigung sind ihm Mitgefühl und Unterstützung seiner Mitmenschen sicher. Und dort, wo Menschen Orga­nisationen wie den Staat gebildet haben, die Verhaltensregeln durchsetzen, wird der einzelne gegenüber dem Staat einen Rechtsanspruch haben, daß sein Recht geschützt wird und Verletzungen desselben wiedergutgemacht werden.

Solche Ansprüche können aber nur insoweit rechtmäßige Ansprüche oder subjektive Rechte sein, als sie sich an eine Person oder Organisation (wie den Staat) richten, die handeln kann und in ihrem Handeln an Regeln gerechten Verhaltens gebunden ist. Hierzu zählen Ansprüche gegenüber Personen, die freiwillig Verpflichtungen eingegangen sind, oder zwischen Personen, die durch besondere Umstände verbunden sind (wie im Falle der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern). In solchen Umständen werden die Regeln ge­rechten Verhaltens für manche Personen Rechte schaffen und für andere die entsprechenden Pflichten. Sind aber die genannten spezifischen Umstände nicht gegeben, so können Regeln als solche für niemanden ein Recht auf eine bestimmte Art von Sache schaffen. Ein Kind hat ein Recht auf Ernährung, Be­kleidung und ein Dach über dem Kopf, weil den Eltern oder Vormündern oder vielleicht einer bestimmten Behörde eine entsprechende Pflicht auferlegt ist. Hingegen kann es kein solches Recht in abstracto geben, das durch eine Regel gerechten Verhaltens bestimmt wäre, ohne daß die spezifischen Umstände angegeben würden, die bestimmen, wem die entsprechende Pflicht zukommt. Niemand hat ein Recht auf einen bestimmten Sachverhalt, es sei denn, jemand wäre verpflichtet, diesen herbeizuführen. Wir haben kein Recht darauf, daß un­sere Häuser nicht abbrennen, und auch kein Recht darauf, daß unsere Produk­te oder Leistungen einen Käufer finden oder daß wir mit bestimmten Gütern oder Leistungen versorgt werden. Die Gerechtigkeit schafft nicht für unsere Mitmenschen eine allgemeine Pflicht, uns zu versorgen; ein Anspruch auf der­artige Versorgung kann nur insoweit bestehen, als wir zu diesem Zweck eine Organisation unterhalten. Es ist sinnlos, von einem Recht auf einen Zustand zu sprechen, wenn niemand die Pflicht oder auch nur die Macht hat, diesen her­beizuführen. Ebenso sinnlos ist es, von Recht im Sinne eines Anspruchs an ei­ne spontane Ordnung, beispielsweise eine Gesellschaft, zu sprechen, außer wenn damit gesagt sein soll, daß jemand die Pflicht hat, jenen Kosmos in eine Organisation umzuwandeln und sich damit Macht zur Kontrolle ihrer Ergeb­nisse anzueignen.

Da wir alle dazu angehalten sind, die Organisation Staat zu unterstützen, haben wir nach den Grundsätzen, die diese Organisation bestimmen, gewisse Rechte, die gewöhnlich als politische Rechte bezeichnet werden. Das Vorhandensein der Zwangsorganisation Staat und ihrer Organisationsregeln schafft ei­nen Rechtsanspruch auf Anteile an den Staatsleistungen und kann sogar einen Anspruch auf einen gleichen Anteil an der Entscheidung darüber, was der Staat tun soll, begründen. Es schafft aber keine Grundlage für einen Anspruch auf etwas, das der Staat nicht für alle leistet und vielleicht nicht leisten könnte. Wir sind in diesem Sinne nicht Mitglieder einer Organisation mit Namen Gesell­schaft, weil die Gesellschaft, die die Mittel für die Befriedigung des Großteils unserer Bedürfnisse schafft, nicht eine von einem bewußten Willen geleitete Organisation ist und das, was sie schafft, gar nicht schaffen könnte, wenn sie es wäre.

Die altehrwürdigen politischen und staatsbürgerlichen Rechte, die in förm­lichen Bills of Rights niedergelegt sind, bilden im wesentlichen eine Forderung, die Macht desStaates möge, soweit sie reicht, gerecht gebraucht werden. Wie wir sehen werden, laufen sie alle auf spezifische Anwendungen der umfassen­deren Formel hinaus (und ließen sich faktisch durch diese ersetzen), daß kein Zwang angewendet werden darf, außer bei der Durchsetzung einer allgemei­nen, auf eine unbekannte Zahl zukünftiger Fälle anwendbaren Regel. Es mag durchaus wünschenswert sein, daß diese Rechte wahrhaft allgemein werden, indem alle Staaten sie sich zu eigen machen. Aber solange die Macht der ein­zelnen Staaten irgendwie beschränkt ist, können diese Rechte keine Pflicht der Staaten begründen, einen bestimmten Sachverhalt herzustellen. Was wir ver­langen können, ist, daß der Staat, soweit er handelt, gerecht handelt; aber wir können aus ihnen keinerlei positive Befugnisse ableiten, die der Staat haben sollte. Sie lassen die Frage völlig offen, ob die Zwangsorganisation, die wir Staat nennen, rechtens dazu gebraucht werden kann und soll, die spezifische materi­elle Position von Einzelpersonen oder Gruppen festzulegen.

Den negativen Rechten, die lediglich ein Komplement der Regeln zum Schutz der Privatsphäre sind und in den Organisationsurkunden der Staaten festgeschrieben sind, und den positiven Rechten der Bürger, an der Leitung die­ser Organisation mitzuwirken, hat man jüngst neue positive »soziale und öko­nomische« Menschenrechte hinzugefügt, für die ein gleicher oder sogar ein höherer Rang in Anspruch genommen wird. Es handelt sich hier um Forde­rungen bestimmter Vorteile, auf die jedes menschliche Wesen als solches An­spruch haben soll, ohne jede Angabe, wer verpflichtet sein soll, diese Vorteile zu beschaffen, oder auf welche Weise sie beschafft werden sollen. Derlei posi­tive Rechte verlangen aber als ihr Gegenstück eine Entscheidung, daß jemand (eine Person oder Organisation) verpflichtet wird, das bereitzustellen, was die anderen bekommen sollen. Natürlich ist es sinnlos, sie als Ansprüche an »die Gesellschaft« zu bezeichnen, weil »die Gesellschaft« nicht denken, handeln, werten oder jemanden in bestimmter Weise »behandeln« kann. Sollen derarti­ge Ansprüche Befriedigung finden, so muß die spontane Ordnung, die wir Gesellschaft nennen, durch eine vorsätzlich geleitete Organisation ersetzt werden: Der kosmos des Marktes wäre durch eine taxis zu ersetzen, deren Angehörige das tun müßten, was man ihnen vorschreibt. Sie dürften nicht ihr Wissen für ih­re eigenen Zwecke verwenden, sondern müßten den Plan ausführen, den ihre Beherrscher entworfen haben, um den zu befriedigenden Bedürfnissen zu ent­sprechen. Daraus folgt, daß die alten Bürgerrechte und die neuen sozialen und ökonomischen Rechte nicht gleichzeitig verwirklicht werden können, sondern in Wirklichkeit unvereinbar sind; die neuen Rechte ließen sich nicht gesetzlich durchsetzen, ohne daß gleichzeitig jene liberale Ordnung zerstört würde, auf die die alten Bürgerrechte abzielen.

Ihren Hauptanstoß bekam die neue Tendenz mit Präsident Franklin Roo­sevelts Erklärung seiner »Vier Freiheiten«, die neben der alten »Meinungsfrei­heit« und »Religionsfreiheit« auch die »Freiheit von Not« und »Freiheit von Furcht« umfaßten. Ihre endgültige Form fand sie jedoch erst in der Allgemei­nen Erklärung der Menschenrechte, die 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Dieses Dokument ist eingestande­nermaßen ein Versuch, die Rechte der westlichen liberalen Tradition mit der völlig anderen Vorstellung, die sich aus der marxistischen Russischen Revolu­tion herleitet, zu verschmelzen. Sie fügt der Liste der klassischen Bürgerrech­te, die in ihren ersten 21 Artikeln aufgezählt ist, sieben weitere Garantien hinzu, die die neuen »sozialen und ökonomischen Rechte« ausdrücken sollen. In diesen zusätzlichen Klauseln wird »jedem Menschen als Mitglied der Gesell­schaft« die Erfüllung positiver Ansprüche auf spezifische Vorteile zugesichert, ohne daß gleichzeitig irgend jemand die Pflicht oder Aufgabe ihrer Bereitstel­lung zugewiesen bekäme. Das Dokument unterläßt es auch vollständig, diese Rechte in solcher Weise zu definieren, daß ein Gericht im Einzelfall deren In­halt zu bestimmen vermöchte. Was kann beispielsweise die juristische Bedeu­tung der Feststellung sein, jedermann habe Anspruch darauf, »… in den Genuß der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unent­behrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen« (Art. 22)? Gegen wen soll »jeder Mensch« einen Anspruch haben auf »angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen« (Art. 23 (1)) und auf »angemessene und befriedigende Entlohnung« (Art. 23 (3))? Was sind die Folgen der Forde­rung, daß jedermann das Recht haben solle, »am kulturellen Leben der Ge­meinschaft frei teilzunehmen … und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Wohltaten teilzuhaben« (Art. 27 (1))? »Jeder Mensch« soll sogar »An­spruch auf eine soziale und internationale Ordnung [haben], in welcher die in der vorliegenden Erklärung angeführten Rechte und Freiheiten voll verwirk­licht werden können« (Art. 28) – anscheinend unter der Annahme, daß das nicht nur möglich ist, sondern daß man nunmehr eine Methode kennt, wie sich diese Ansprüche für alle Menschen erfüllen lassen.

Offensichtlich beruhen alle diese »Rechte« auf der Deutung der Gesell­schaft als vorsätzlich geschaffener Organisation, von der jedermann beschäftigt wird. In einem System von Regeln gerechten Verhaltens, das von der Vorstel­lung persönlicher Verantwortung ausgeht, könnten sie nicht verallgemeinert werden, und sie erfordern daher, daß das Gesellschaftsganze in eine einzige Organisation umgewandelt wird, das heißt im vollsten Sinne des Wortes tota­litär wird. Wir haben gesehen, daß Regeln gerechten Verhaltens, die in gleicher Weise für alle gelten, aber niemanden den Befehlen eines Vorgesetzten unter­stellen, niemals festlegen können, welche bestimmten Dinge irgendjemand ha­ben soll. Sie können niemals eine Form haben wie: »Jeder Mensch muß das und das haben«. In einer freien Gesellschaft muß das, was der einzelne erhalten wird, immer in gewissem Maß von spezifischen Umständen abhängen, die nie­mand vorhersehen kann und niemand zu bestimmen vermag. Regeln gerechten Verhaltens können daher nie einer Person als solcher (anders als den Mitglie­dern einer bestimmten Organisation) einen Anspruch auf bestimmte Dinge verleihen; sie können nur Gelegenheiten zur Erwerbung solcher Ansprüche herbeiführen.

Anscheinend kam esden Verfassern der »Erklärung« nie in den Sinn, daß nicht jedermann angestelltes Mitglied einer Organisation ist, dessen »Anspruch auf Erholung und Freizeit sowie auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit und auf periodischen, bezahlten Urlaub« (Art. 24) garantiert werden kann. An der Vorstellung eines »allgemeinen Rechtes«, das dem Bauern, dem Eskimo und vermutlich auch dem Schneemenschen »periodischen bezahlten Urlaub« zusichert, zeigt sich die Absurdität der ganzen Sache. Schon das kleinste Quentchen von gesundem Menschenverstand hätte den Verfassern des Doku­ments sagen müssen, daß das, was sie zu allgemeinen Rechten erklärten, in der Gegenwart und für alle vorhersehbare Zukunft vollkommen unerreichbar ist und daß ihre feierliche Verkündigung als Rechte in verantwortungsloser Weise mit dem Begriff »Recht« spielt, was nur zur Folge haben kann, die Achtung vor diesem zu zerstören.

Das ganze Dokument ist tatsächlich in jenem Jargon des Organisationsden­kens gehalten, den man in den Mitteilungen von Gewerkschaftsvertretern oder der Internationalen Arbeitsorganisation zu erwarten gelernt hat und in dem sich eine Haltung ausdrückt, die Arbeitnehmer in der Wirtschaft mit Beamten und mit den Managern von Großunternehmen gemein haben, die aber ganz und gar nicht zu den Grundsätzen paßt, auf denen die Ordnung einer Großen Gesellschaft beruht. Wäre das Dokument lediglich das Erzeugnis einer inter­nationalen Gruppe von Sozialphilosophen (was es ja ursprünglich ist), so wäre es nur ein einigermaßen beunruhigender Beweis dafür, in welchem Ausmaß sich in den Vorstellungen dieser Sozialphilosophen das Organisationsdenken breitgemacht hat und wie völlig fremd ihnen die Grundideale einer freien Ge­sellschaft bereits geworden sind. Aber seine Verabschiedung durch eine Grup­pe von, wie man annehmen darf, verantwortungsbewußten Staatsmännern, die ernsthaft um die Schaffung einer friedlichen internationalen Ordnung bemüht sind, gibt Anlaß zu viel größeren Befürchtungen.

Weitgehend infolge des Einflusses des rationalistischen Konstruktivismus Platons und seiner Anhänger ist das Organisationsdenken schon lange die vor­herrschende Untugend von Sozialphilosophen; essollte uns daher vielleicht nicht wundernehmen, daß akademische Philosophen in ihrem abgeschirmten Leben als Mitglieder von Organisationen jedes Verständnis der Kräfte, die die Große Gesellschaft zusammenhalten, eingebüßt haben und als platonische Phi­losophenkönige, für die sie sich halten, eine Neuordnung der Gesellschaft nach totalitären Richtlinien vorschlagen. Wenn es wahr sein sollte, wie man uns sagt, daß die sozialen und wirtschaftlichen Rechte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heute »von der überwältigenden Mehrheit amerikanischer und britischer Moraltheoretiker akzeptiert« werden,4 so würde das lediglich auf einen bedauerlichen Mangel an Kritikfähigkeit bei diesen Denkern hindeu­ten.

Freilich wäre das Schauspiel, das die Generalversammlung der Vereinten Nationen bietet, wenn sie feierlich erklärt, jeder einzelne (!) möge »sich diese Erklärung stets gegenwärtig halten« (!) und trachten, die allgemeine Wahrung dieser Menschenrechte zu sichern, bloß komisch, wenn nicht die Illusionen, die damit geschaffen werden, zutiefst tragisch wären. Wenn man sieht, wie die um­fassendste Behörde, die die Menschen je geschaffen haben, die Achtung, die man ihr zollen sollte, untergräbt, indem sie das naive Vorurteil fördert, wir könnten jeden uns wünschenswert erscheinenden Sachverhalt dadurch schaf­fen, daß wir einfach anordnen, er solle existieren, und wie sie uns in der Selbst­täuschung bestärkt, wir könnten gleichzeitig die Vorteile der spontanen Ord­nung der Gesellschaft genießen und sie nach unserem Willen formen, so ist das mehr als bloß tragisch.5

Die Grundtatsache, die diese Illusionen einen übersehen lassen, ist die, daß die Verfügbarkeit all jener Vorteile, die wir für möglichst viele Menschen wün­schen würden, davon abhängt, daß eben diese Menschen ihr eigenes bestes Wis­sen zu deren Produktion nutzen. Die Einführung durchsetzbarer Rechtsan­sprüche auf die Vorteile wird sie voraussichtlich nicht hervorbringen. Wenn wir wollen, daß es jedermann gut geht, werden wir diesem Ziel nicht dadurch am nächsten kommen, daß wir seine Verwirklichung gesetzlich befehlen oder je­dermann einen Rechtsanspruch auf das geben, was er unseres Erachtens haben sollte, sondern dadurch, daß wir für jedermann Anreize schaffen, möglichst vieles zu tun, das anderen Vorteile bringt. Dort von Rechten zu sprechen, wo das, worum es geht, bloße Wunschvorstellungen sind, die nur ein freiwilliges System erfüllen kann, lenkt nicht nur die Aufmerksamkeit von den tatsächli­chen Bestimmungsgründen des für alle gewünschten Wohlstandes ab, sondern entwertet auch das Wort »Recht«, dessen eigentlichen Sinn zu bewahren äußerst wichtig ist, wenn wir uns eine freie Gesellschaft erhalten wollen.