Pietismus im Baltikum
Herrnhut – unter der Hut oder dem Schutz des Herrn will man leben. So erklärt sich der Name der 1722 gegründeten Kolonie von Böhmischen (oder Mährischen) Brüdern in der Oberlausitz. Reichsgraf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf hatte die Flüchtlinge vor der katholischen Gegenreformation im Nachbarland auf sein Gut geladen. Die Anhänger der nun weltweit verbreiteten evangelischen Gemeinschaft werden bis heute Herrnhuter oder meist Mährische Brüder (engl. Moravians) genannt. Offizielle Bezeichnung ist Evangelische Brüder-Unität (Unitas Fratrum), die bis auf das 15. Jhdt. zurückgeht. In Sachsen und Deutschland blieben die Herrnhuter Teil der Lutherischen Kirche („Kirchlein in der Kirche“), in anderen Ländern wurden sie unabhängige Denomination (1749 selbständige Kirche in England).
Zinzendorf, einer der herausragenden Persönlichkeiten des deutschen Pietismus, wurde 1737 Bischof und geistlicher Leiter der Unität, die auch am Anfang der modernen Missionsbewegung stand. Schon um 1730 begann die Missionsarbeit in Übersee (erste offizielle Aussendung von Missionaren im August 1732). In England gaben Herrnhuter dem Vater des Methodismus, John Wesley, wichtige Anstöße.
Weltweit ist die Brüder-Unität heute in Provinzen eingeteilt und zählt über 1 Million Anhänger in rund 1600 Gemeinden. In den europäischen Provinzen ist sie nur noch recht schwach vertreten (gut 20.000, davon knapp 6000 in Deutschland), dafür umso stärker auf den ehemaligen Missionsfeldern wie in einigen Ländern Afrikas (Tansania, Südafrika), Mittel- und Südamerikas (Surinam, Nikaragua, Honduras, Jamaica) und Nordamerika.
Von den Naturgöttern zur Bibel
Von Herrnhut aus gelangte der Pietismus auch ins Baltikum. Im Jahr 1729 besuchte der Mähre Christian David zum ersten Mal Livland, der heutige Osten und Norden Lettlands und der Süden Estlands. Das Land war nach der Christianisierung durch den Deutschen Orden im Mittelalter im 16. Jahrhundert evangelisch-lutherisch geworden. Paul Neustupny in seinem Vortrag „Die Wirksamkeit der Herrnhuter Brüdergemeine in Estland und Lettland“ (2009): „Das Christentum kam nach Livland durch die deutschen Ritter. Die Letten und Esten haben zwar formal ihren heidnischen Glauben aufgegeben, insgeheim aber opferten sie auf Hügeln, in Wäldern und an Seen den Naturgöttern und betrieben Zauberei mit magischen Tänzen und Beschwörungen. Daran hat auch die lutherische Reformation nicht viel geändert, die um das Jahr 1521 ins Baltikum kam.“
1736 reiste Graf Zinzendorf selbst für einige Monate ins Baltikum und predigte an vielen Orten. Bis zum Jahr 1740 kamen etwa 50 weitere Brüder. Anlaufstelle waren für den pietistischen Glauben gewonnene Adelige, deutsche Großgrundbesitzer. Ergebnis dieser vielen Dienste war eine Erweckung, die sich schnell in weiten Teilen Livlands ausbreitete. Denn die Brüder „arbeiteten unter dem einheimischen Volk als Ärzte, Lehrer oder Handwerker und kümmerten sich in ihrer freien Zeit um die erweckten Letten und Esten in den einzelnen Kirchspielen. Sie teilten das bescheidene Leben mit den geplagten Bauern, gewannen ihr Vertrauen und brachen damit das Joch des Hasses der Esten und Letten gegenüber allem Deutschen“. Neustupny weiter: „Die Brüder gewannen die Herzen der Ortsbauern durch ihre Predigtart, gefühlsmäßig ausgerichtetes Christentum, Lieder, Gebrauch der lettischen und estnischen Sprache und vor allem durch ihre freundliche Art, die von Deutschen nicht erwartet war“.
Die Christianisierung Jahrhunderte zuvor war weitgehend an der Oberfläche geblieben, heidnische Bräuche wurde vielfach beibehalten (ähnliches gilt für Litauen und Ostpreußen, s.u.). Hier sorgte erst der Pietismus für einen Umschwung – der Gott der Deutschen wurde auch zu dem der Esten und Letten. Neustupny streicht die Bedeutung der von den Brüdern angebotenen „Viertelstundengespräche“ heraus: „Beichtbekenntnisse, bei denen die Esten und Letten von ihren dämonischen Bindungen an alte heidnische Gebräuche freigesprochen werden konnten. Nach solchen Gesprächen sind dann die Leibeigenen zu ihren Gutsherren gegangen und gaben ihnen gestohlene Sachen zurück. Die Esten und Letten selbst zerstörten die Orte heidnischer Opfer. Im lettischen Kirchspiel Urbs zum Beispiel zerstörten die Bauern aus eigenem Antrieb bereits im Jahr 1736 vierundzwanzig heimliche heidnische Opferkultstätten.“
Der heutige Hauptälteste der Brüdergemeine in Estland, Eenok Haamer aus Mustvee, weist auf einen weiteren wichtigen Aspekt hin: „Für die Geschichte des estnischen Volkes war die herrnhuter Brüdergemeine ungeheuer bedeutsam… Sie brachten uns bei, die Bibel als Autorität zu sehen.“ 1736 predigte Zinzendorf in der Olaikriche in Reval, heute Tallinn, und drei Jahre später erschien die erste gedruckte vollständige Bibel auf Estnisch, übersetzt von Anton Thor Helle. Der 79jährige Haamer: „Fortan lernten die meisten Esten das Lesen und Schreiben mit der Heiligen Schrift“ („Idea-Spektrum“, 23/2014).
Volk des lebendigen Glaubens
Anfang der 40er Jahre des 18. Jhdts. wirkten die Herrnhuter unter etwa 15.000 Esten und Letten. Auf der größten estnischen Insel Oesel (heute Saaremaa) brach eine Erweckung aus, die die Mehrheit der Bevölkerung erfasste und große soziale Auswirkungen hatte. Ein ähnlicher Aufbruch ereignete sich um Valmiera in der heutigen lettischen Region Vidzeme.
1721 wurde Livland ein Teil des Zarenreiches. Zwischen 1743 und 1764 war die Brüdergemeine im Russischen Reich verboten, doch dies führte keineswegs zur Auslöschung der Bewegung (Zinzendorf wurde übrigens bei einem zweiten Besuch 1744 in der Zitadelle von Riga inhaftiert). Ende des Jahrhunderts etablierte sich die Aufklärungstheologie in Riga und Dorpat – die Pietisten bildeten einen Gegenpol. Das Nachschlagewerk RGG (1957): „In der Zeit des landeskirchlichen Rationalismus wurde das der Kirche fehlende Gemeinschaftsleben z.T. von der Brüdergemeine ersetzt, die bei ihrer rechtlichen Konsolidierung unter [Zar] Alexander I (1817) in Liv- und Estland in 144 Gemeinden rund 30.000 Mitglieder mit 44 deutschen und rund 1000 estnischen und lettischen leitenden Brüdern zählte und in ihrer Blütezeit (bis zur Mitte des Jhs.) den Esten und Letten die Anfange eines neuen religiösen, sozialen und nationalen Selbstbewusstseins vermittelte.“
Die Jahrzehnte zwischen 1817 und 1857 bilden die zweite Aufschwungsepoche der Brüdergemeine in Livland. Es wird geschätzt, dass sich ihr 1839 allein 74.000 Esten zurechneten, die sich in 256 Gebetshäusern trafen. Neustupny gibt die „Seelenzahl aller in Pflege befindlichen“ für 1857 mit 83.272 an und bemerkt, „dass in dieser Zeit sich alleine in Estland 9,6% aller Einwohner in den Versammlungen der Brüdergemeine trafen, auf der Insel Oesel waren es 15,5%“. Haamer übertreibt nicht: „Wohl kein anderes Volk war damals so vom lebendigen Glauben erfüllt wie das estnische“.
In der guten Stube der Bauern
In Ostpreußen verbreitete sich pietistische Frömmigkeit schon recht früh durch die dort Anfang des 18. Jhdts. angesiedelten Salzburger, Glaubensflüchtlinge aus der Stadt am Inn. Unter den Litauern des nördlichen Ostpreußens (dem sog. Klein-Litauen) erlangten dann aber im 19. Jhdt. andere pietistische Gruppen großen Einfluss. Der erste wichtige Stundenhaltern (lit. sakytojas) war Klimkus Grigelaitis, der im Memelland „Preußisch-Litauer“ ab 1807 zu Erbauungsversammungen lud (lit. surinkimai, daher auch ihre Bezeichnung surinkimininkai – Versammlungsleute). Seine Anhänger in der „alten Versammlung“ wurden Klimkiškai oder Klinkenai genannt. Links der Memel, im Raum Tilsit und Insterburg, leitete der Studentenhalter Jurkūnas aus Piktupönen (1806–1884) die Versammlungen. Seine Anhänger hießen daher “Jurkūniškiai”.
Eine dritte große Gruppe ging aus dem Dienst von Christoph Kukat (Kukaitis) hervor, der in der zweiten Hälfte des 19. Jhdts. wirkte: die Kukaitiškai. Er gründete 1885 den Ostpreußischen Gebetsverein. Kukat dehnte seine Tätigkeit auf ganz Ostpreußen aus und wirkte unter Litauern, Masuren und Deutschen gleichermaßen. Die Versammlungen wurden daher je nach der Sprache der Zuhörer auf Deutsch, Litauisch oder Polnisch gehalten und von 70-80 Stundenhaltern durchgeführt, von denen ca. 25 Litauer und je 30 Deutsche und Masuren waren.
Albertas Juška (s. hier) über das Verhältnis der Gruppen zueinander: „Wesentliche theologische Gegensätze bestanden unter den Kreisen nicht, lediglich in der Lebensführung gab es Unterschiede. So haben z. B. die Jurkūniškiai die kleinen Lebenslaster wie Rauchen oder Trinken weniger streng bekämpft und vermieden jegliche Kritik an der Kirche. Die beiden anderen dagegen, hier besonders der Gebetsverein von Kukaitis, haben praktisch neben der Kirche gewirkt und scheuten sogar teilweise nicht vor Konflikten mit den Behörden zurück, haben aber nicht den Schritt aus der Kirche vollzogen. Die Haltung der Kirchenorgane und der staatlichen Behörden zu den Gemeinschaftsbewegungen war daher zwiespältig.“
Juška schildert auch den Ablauf der litauischen Gebetsversammlungen: Sie „fanden meistens sonntags früh vor dem litauischen Gottesdienst statt, der erst nach dem deutschsprachigen angesetzt wurde, oder am Samstagnachmittag. Der Raum, meistens die gute Stube eins wohlhabenden Bauern, wurde schon am Abend davor ausgeschmückt und die Wege zum Hof mit Sand bestreut. Selbstgefertigte Bibelsprüche zierten die Wände des Raumes. Auf einem mit einer weißen Decke zugedeckten Tisch lagen die Bibel, die Agende und das Gesangbuch. Falls sich ein bekannter Stundenhalter angesagt hatte, kamen Zuhörer auch aus entlegeneren Dörfern. Die Versammelten stimmten noch vor dem Erscheinen des Stundenhalters ein Lied an. Danach betrat dieser mit dem Hausherrn den Raum. Erst nach einem stillen Gebet im Knien sagte er das Eingangslied an. Danach knieten alle nieder und der Stundenhalter sprach ein langes Gebet. Die deutsche Sitte des Stehens war bei den Gemeinschaftsanhängern nicht üblich. Nach einem zweiten Lied wurde wieder gebetet, anschließend eine Bibelstelle vorgelesen und ausgelegt. Diese Predigt hielt der Sakytojas ohne ein Manuskript und ohne irgendwelche Notizen. Das Ablesen einer Predigt galt eines Stundenhalters nicht würdig. Die meisten Stundenhalter waren Bauern oder Handwerker, nur selten fanden sich unter ihnen Lehrer oder Beamte. Diese einfachen Menschen waren jedoch in der Lage, eine Stunde und länger leidenschaftlich zu predigen, wobei sie immer wieder Bibel– und Kirchenliederstellen auswendig zitierten. Mit ihrer Beredsamkeit übertrumpften sie oft die Pfarrer. Ihre Auslegungen waren wegen der volksnahen und bildreichen Sprache sehr geschätzt. Nach der Predigt wurde wieder gesungen. Anschließend betete ein anderer Teilnehmer, meistens der Hausvater. Auch dieses Gebet wurde allgemein frei gehalten. Nach dem gemeinsam gesprochenen Vaterunser sangen die Versammelten ein Abschlusslied. Danach wurden sie mit einem Segen verabschiedet. Insgesamt dauerten solche Hausgottesdienste zwei bis drei Stunden.“
„Eine Welle frommer Erweckung rollte damals über Ostpreußen hinweg und erfasste insbesondere die ethisch nichtdeutschen Gruppen“, also Litauer und Masuren, so Andreas Kossert in Ostpreussen – Geschichte und Mythos. Damals, gegen Ende des 19. Jhdts., besuchte wohl etwa die Hälfe der litauischen Bevölkerung im Nordosten Ostpreußens die Versammlungen. Auch hier hatte dies bedeutende soziale Auswirkungen, nicht zuletzt der Verzicht auf Alkohol. Und Kossert betont: „Ohne die evangelischen Gebetsvereine wäre die litauische Sprache in Preußisch Litauen schneller aus dem öffentlichen Leben verschwunden.“ Kritisch bemerkt er aber auch: „Die litauische Erweckungsbewegung hat mit ihrer Askese letztlich den Untergang der litauischen Volkskultur in Ostpreußen beschleunigt. In heiligem Eifer mussten nämlich die bunten litauischen Nationaltrachten dem strengen dunklen Tuch der puritanischen ‘Maldeninker’ (Brüder im Gebet) weichen. .. [Sie haben] erreicht, daß das litauische Leid in Preußisch Litauen kaum noch zu hören war. Ebenso war der Tanz bei den Frommen verpönt.“
Wichtigste Chrischona-Provinz
Auch die Pilgermission St. Chrischona muss an dieser Stelle genannt werden, obwohl sie schwerpunktmäßig nur unter den Deutschsprachigen arbeitete. Ab den 1870er Jahren wurden Prediger in den Nordosten des Reichs ausgesandt. Der eigentliche Pionier der Arbeit war August Motzkus, der über den Einfluss des erweckten Glaubens berichtet: „An einem Ort, wo beinahe alle Einwohner des Dorfes anfingen, in die Versammlung zu gehen, da klagte der Gastwirt, dass er fast nichts mehr von seinen Getränken verkaufen könne… “
1888 wurde Memel (Klaipeda) ein neuer Schwerpunkt der Chrischona-Arbeit. Noch heute steht das prächtige Gebäude der Gemeinschaft (nun Teil eines Krankenhauses) in der Neustadt, unweit der Baptistenkirche. 1898 wurde die erste ostpreußische Gemeinschaftskonferenz in Königsberg abgehalten, 1901 die „Christliche Vereinigung für Evangelisation und Gemeinschaftspflege in Ostpreußen“ gegründet. In Stallupönen entstand 1903 ein erster EC. Ostpreußen wurde zum bedeutendsten Arbeitsfeld des Chrischona-Verbandes. Nach 50 Jahren Wirken in der fernen Provinz gab es dort 38 Hauptgemeinschaften mit 400 Außenorten, betreut von 51 Predigern und 160 Mitarbeitern. 105 EC-Jugendbünde und 23 Blaukreuz-Vereine waren aktiv. Anfang der 30er Jahre standen schließlich 80 Prediger im Einsatz. Ausführlich schildert übrigens Klaus Haag in „Ich bin verliebt in dieses Land“ – auf den Spuren der Chrischona-Gemeinschaftsarbeit in Ost- und Westpreußen (1877–1945) die Geschichte des Werkes aus dem Vorort von Basel in der Region.
Die Brüdergemeine im nördlichen Baltikum hatte im 20. Jahrhundert ihre Blütezeit schon hinter sich. Als Estland 1918 unabhängig wurde, gehörten noch etwa 3000 Mitglieder zu den herrnhuter Gemeinschaften. In allen baltischen Ländern brachte dann der II Weltkrieg einen gravierenden Einschnitt mit sich. In Ostpreußen löschten Flucht und Vertreibung alles geistliche Leben fast ganz aus. Hans J. Iwand im Jahr 1948: „Die Geschichte des Niedergangs Ostpreußens begann, als das Hakenkreuz dort aufgepflanzt wurde. Als Ostpreußen jener heidnischen Versuchung unterlag, das eigene Blut zu vergotten, hat das Christentum aufgehört, seine Segensmacht auszustrahlen, und die Geschichte Ostpreußens neigte sich ihrer Katastrophe zu.“
Deutliche Spuren hat der ostpreußische Pietismus aber im Ruhrgebiet und Nordrhein-Westfalen hinterlassen, wo heute die Ev.-Luth. Gebetsgemeinschaft als Bewegung innerhalb der Landeskirche tätig ist. Ihre Wurzeln reichen zu den Kukaitiškai. Hier heißt es: „Um die Jahrhundertwende kamen die Menschen von Ostpreußen wegen der besseren Arbeitsbedingungen vor allem in das rheinisch-westfälische Industriegebiet und brachten ihre Gemeinschaftstradition mit. In ihrer neuen Heimat setzten sie ihre Versammlungen in kirchlichen Räumen oder in eigenen Gemeinschaftssälen fort.“
„Der Zeitgeist spricht immer deutlicher Deutsch“
Der Pietismus im Memelland ist als Bewegung nicht mehr existent (nur noch einige Familien, die nicht nach Deutschland übergesiedelt sind, bewahren gleichsam privat noch Elemente dieser Tradition). Heute gibt es zwar hier und dort Bibelstunden in den lutherischen Gemeinden Litauens, doch gehalten werden sie fast nirgendwo von nichtordinierten Stundenhaltern wie früher. Eine ernste Schwäche der Kirche ist nun ihre große Fixierung auf die Pfarrer. Missionen des Gnadauer Verbandes sind nicht im Land aktiv, und auch die Kontakte zum deutschen EC sind, so scheint es, weitgehend eingeschlafen.
In Lettland und Estland wirken immer noch einige Brüdergemeinen, die den Kahlschlag der Sowjetunion überstanden haben. Im Norden steht der schon zitierte Eenok Haamer der kleinen estnischen Gemeinde vor. In Lettland ist an einigen Orten in Vidzeme die Brāļu draudze, die Gemeinschaft der Brüder, aktiv und unterhält die Christian David-Schule im Kreis Madona, unterstützt u.a. vom deutschen Verein Lettlandhilfe.
Vom pietistischen Erbe sind in der ganzen Region also nur kleine Reste übrig. Dieses Element der Frömmigkeit fehlt heute besonders, sind die Länder nun doch wieder Missionsland. Estland ist weltweit eines der Länder mit dem höchsten Anteil an Atheisten bzw. Konfessionslosen. In Litauen halten sich zwar immer noch an die 90 Prozent für irgendwie religiös, doch die Kirchen sind insgesamt nicht voller als in Deutschland. Die Zahl der Protestanten dürfte unter einem Prozent liegen, und die der Evangelikalen nüchtern betrachtet wohl bei ca. 0,3%.
Noch einmal: das Baltikum ist Missionsland. Aber nun kommen aus dem Westen meist nicht Missionare und Prediger und Theologen, nun wehen ganz andere Winde herein. Im Juni tagte die Synode der Europäisch-Festländischen Brüder-Unität im niederländischen Zeist. „idea“ berichtete schon im Vorfeld (s.o.). Für Diskussionen sorgte auch in der Unität die Frage der Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren. 79 Delegierte aus 8 Ländern beschlossen mit großer Mehrheit „nach langer tiefgehender Diskussion, die Entscheidung über Segnungen von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften in die Verantwortung der einzelnen Gemeinden, Ältestenräte, Gemeinhelfer und Gemeinhelferinnen (Pfarrer und Pfarrerinnen) zu übergeben. Dem war ein Prozess von fast zwanzig Jahren vorausgegangen.“ (Pressemeldung der Unität)
Schon ein Beschluss der Provinzialsynode aus dem Jahr 2000 forderte, dass „auf Dauer angelegte Partnerschaften von Liebe und Treue zwischen zwei Männern oder zwei Frauen“ respektiert werden sollen. Und in der „Stellungnahme der Theologischen Kommission der Ev. Brüder-Unität zur Frage der Segnung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften“ aus dem vergangenen Jahr hieß es, „dass wir die Möglichkeit von Segenshandlungen für gleichgeschlechtliche Partnerschaften in der Brüdergemeine für theologisch legitim und wünschenswert halten.“
„Idea“ zu dem jüngsten Beschluss: „Vor allem im Baltikum, in Afrika und in der Karibik gab es dagegen Widerspruch. So hatte sich der Hauptälteste der Brüdergemeine in Estland, Eenok Haamer, im Vorfeld der Synode mit einem Schreiben an die Unitätsleitung gewandt. Darin warnte er vor einem solchen Beschluss, weil er dem biblischen Zeugnis zuwiderlaufe. Es sei ihm unverständlich, dass die Frage der Segnung homosexueller Partnerschaften ein solches Gewicht bekomme, dass nun sogar die Angst vor einer Spaltung der Herrnhuter Brüder-Unität umgeht, so Haamer.“ Der Este im oben zitierten „Spektrum“-Artikel: „Der Zeitgeist spricht immer deutlicher Deutsch.“
Die Synode der Unität betonte zwar, „dass wir die Meinung derjenigen respektieren, die aus ihrer Sicht zu einem anderen Urteil kommen“. Außerdem wird festgehalten, „dass unterschiedliche Meinungen in dieser Frage nicht kirchentrennend sind“. Solch diplomatische Formulierungen können die gravierenden Spannungen, mit denen die Unität zu kämpfen hat, kaum überdecken. Grundlegende Fragen des Bibelverständnisses und der Ethik lassen auch durch diese viele Jahrhunderte alte Gemeinschaft einen Riss gehen – und die Brüdergemeine stellt sich somit in die Reihe der Lutheraner, Reformierten und Anglikaner, die weltweit faktisch gespalten sind.
Christian Friedrich Spittler, Gründer der Pilgermission St. Chrischona im Jahr 1840, meinte einst: „Wenn wir dafür sorgen, dass Heiden Christen werden, dann müssen wir auch darauf bedacht sein, dass Christen keine Heiden werden.“ Vor dieser Herausforderung stehen auch die Kirchen und Gemeinschaften im Baltikum. Mit heidnischem Erbe ist dort immer noch zu ringen wie vor dreihundert Jahren. Doch ausgerechnet nun fallen einem Geschwister im Westen mit einem Rückfall ins Heidentum gleichsam in den Rücken (s. hier Dennis Prager dazu). Woher soll nun Hilfe kommen?
[…] dort, von denen einige den Kahlschlag der Sowjetunion überstanden und noch bis heute existieren (hier mehr […]