„Verdammt zum Glück“
Glaube ist auf der einen Seite etwas, was man hat oder nicht; ein Fundament, auf dem man steht oder nicht; entweder sind wir gläubig oder nicht. Wir sind ein für alle Mal gerettet, und Gott sei Dank reicht auch der kleine Glaube aus, um erlößt zu werden (Mt 17,20). Doch sind wir einmal Christ geworden, gilt uns die Aufforderung, Christus immer ähnlicher zu werden (Röm 8,29), immer mehr Früchte des Geistes (Gal 5,22–23) hervorzubringen.
Nach der Anrede schreibt Paulus den Thessalonichern in 2 Thes 1,3f als allererstes, dass er für sie, d.h. ihren Glaubensweg dankt. Er ist so zufrieden, weil ihr Glaube wächst. Glaube ist also nichts Statisches, Starres. Allen Christen ist geboten im Glauben, in der Erkenntnis Gottes, in der Gnade zuzunehmen; Früchte des Glaubens sollen wachsen (2 Kor 9,10; 10,15; Eph 4,15; Kol 1,10; 2 Pt 3,18). Dies ist ein Gebot, d.h. wir haben keine Erlaubnis einfach zufrieden zu sein und uns zurückzulehnen. Schon im ersten Brief an die Thessalonicher hatte Paulus sie ermahnt: „Macht darin [ein gottgefälliges Leben] auch weiterhin Fortschritte!“ (1 Thes 4,1; s. auch 4,10 und 1 Tim 4,15). Doch es sei betont: dies Gebot gilt wahren Christen. Wir sollen nicht Fortschritte machen, um dann dadurch in den Himmel zu kommen. Weil wir schon gerettet und Bürger des Himmels sind, sollen wir wachsen.
Der entscheidende Punkt ist hier nun, dass dieses Glaubenswachstum „in allen Verfolgungen und Nöten“ (2 Thes 1,4) geschieht. In ihnen oder genauer wegen ihnen. Selbst für Nichtchristen gilt, dass Menschen unter Druck innerlich wachsen. Widerstand und Probleme stählen und stärken den Glauben, lassen Tugenden in uns wachsen wie Paulus in Röm 5,3–4 schreibt: „Denn wir wissen, dass Not uns lehrt durchzuhalten, und wer gelernt hat durchzuhalten, ist bewährt, und bewährt zu sein festigt die Hoffnung“.
Gerade Calvin erinnert uns daran, dass Verfolgung und Leid zum Leben als Christ gehören. Denn er selbst musste um seines Glaubens willen aus der Heimat fliehen. Trotz des klaren biblischen Zeugnisses (s. z.B. Röm 8,17; Phil 1,29; 2 Tim 1,8; 2,3; 3,12; Hbr 12,11; Jak 1,2–3; Kol 1,24) muss dies gerade heute erneut betont werden, da in den Schriften vieler „Lebensberater“ aus dem Lager des Positiven Denkens uns etwas völlig anderes erzählt wird. Wir hätten, so z.B. Joseph Murphy (1898–1981), ein von Gott gegebenes Recht auf Glück und Wohlstand, ein Leben ohne Leid. Leid sei auch gar nicht real; Armut eine „Krankheit des Geistes“.
Pascal Bruckner (geb. 1948, s. Bild o.) hat in Verdammt zum Glück hervorragend den Geist unserer Zeit im Hinblick auf Glück und Leid dargestellt. Der Untertitel im Original: „Essay über die Pflicht, glücklich zu sein“, im Deutschen: „Der Fluch der Moderne“. Der Franzose schreibt: „Wir haben heute alle Rechte außer dem einen, unglücklich zu sein“. Dies ist aber tatsächlich eine Last: „Der Mensch von heute leidet darunter, dass er nicht mehr leiden will…“ Nun wird uns eine „allgemeine Euphorie“ befohlen.
Bruckner stellt gut dar, dass dies historisch eine wirklich neue Entwicklung ist. Mit der Aufklärung im 18. Jhdt. geschah diese „grundlegende Umwälzung, ein Paradigmenwechsel der Geschichte“. Gott verschwand von der Bildfläche; nun wurde das irdische Glück für möglichst viele Ziel: „Überall herrschte mit einem mal die Überzeugung, dass es vernünftig sei, die Einführung des Wohlstandes auf Erden zu wünschen“. Und dies sei auch erreichbar – „was für ein wunderbares Vertrauen in die Fähigkeiten des Menschen“. Man war überzeugt „dass die Menschheit allein für das Leid verantwortlich ist, das sie sich zufügt, und sie allein es bessern oder beseitigen kann“ – natürlich ohne Gott.
Streben nach Glück ersetzte das nach Erlösung: „Wir wollen lieber glücklich sein als erhaben oder errettet“. Das Ergebnis: „Unsere demokratischen Gesellschaften sind in zunehmendem Maße allergisch gegen das Leiden“, aber wir können auch nicht mehr „auf Gott zurückgreifen, um Trost zu finden“. Seitdem das Ziel des Lebens nicht mehr die Pflicht, sondern „das Wohlbefinden ist, trifft die kleinste Unannehmlichkeit wie eine Kränkung.“ Bruckner sehr gut: „Es obliegt nunmehr dem Menschen, seit er der Sicherheit der göttlichen Vorsehung beraubt ist, den Schmerz nach seinen Möglichkeiten auszuschalten: eine ebenso erhebende wie erdrückende Verantwortung.“
Das „Gebot“ glücklich zu sein, begegnet uns vor allem in den Hochglanzmagazinen; sie propagieren ohne Unterlass „zwei einander widersprechende Behauptungen: dass Schönheit, Fitness und Lust für jeden erreichbar sind, sofern er bereit ist, den Preis dafür zu zahlen. Dass jedoch derjenige, der diese Ideale vernachlässigt, für sein Altern, seine Hässlichkeit und seine mangelhafte Libido allein verantwortlich ist. Der demokratische Aspekt: Niemand ist mehr dazu verdammt, seine körperlichen Mängel hinzunehmen, die Natur ist kein Schicksal mehr. Der strafende Aspekt: Denken Sie niemals, Sie seien sich nichts mehr schuldig. Sie können es noch besser, die geringste Nachlässigkeit wird Sie in die Hölle der Schlappschwänze, der Willensschwachen und Frigiden stürzen.“
Bruckner resümiert: „Es ist uns, den zur Freude Verdammten, den Galeerensklaven der Lust, gelungen, mit den Waffen des Paradieses neue kleine Höllen zu erschaffen.“
Man vergleiche dies einmal mit Calvins Ausführungen in Inst. III,9 zum „Trachten nach dem zukünftigen Leben“. Wir tun so, so Calvin aber auch damals, „als wollten wir hier auf Erden unsterblich werden“; „wir schlagen uns nicht nur den Tod aus dem Sinn, sondern auch die Sterblichkeit selber“. Er hält dagegen fest:
„Dies Leben ist, wenn man es an und für sich betrachtet, unruhig, stürmisch und auf gar vielerlei Weise jämmerlich, dagegen in keiner Hinsicht wirklich glücklich; und alles, was man als Güter dieses Lebens ansieht, ist unbeständig, flüchtig, eitel, mit vielen Übeln untermischt und durch sie verdorben. Erst dann sind wir in der Schule des Kreuzes vorangekommen, wenn wir aus solcher Einsicht zugleich den Schluss ziehen, dass wir hier nichts zu suchen und nichts zu erwarten haben als Kampf und dass wir unsere Augen zum Himmel erheben müssen, wenn wir eine Krone gewinnen wollen!“
Natürlich „fangen [wir] schon in diesem Leben unter gar vielerlei Wohltaten an, die Süßigkeit der Güte Gottes zu schmecken“; dafür sind wir dankbar. Doch allgemein gilt, „dass dies Leben an und für sich nichts anderes als ein Elend ist“.
Der große niederländische Reformationsexperte Heiko Oberman (1930–2001) hat darauf hingewiesen, dass uns Calvin auch deshalb fremd geworden ist, weil uns im Westen diese Situation von Verfolgung und Leid kaum noch etwas sagt. Weil wir falschen Propheten nachlaufen, die das leichte Leben verherrlichen. Doch er betont auch: Wenn wir auf eine zukünftige Unterdrückung des Glaubens vorbereitet sein wollen, dann sollten wir Calvin studieren.
(Bruckners Buch ist auch in litauischer Sprache erschienen; einige Gedanken und Zitate dieses Beitrags finden sich im ersten Teil dieses litauischen Artikels.)
Man merkt, der Mann ist Franzose! Überspitzt formuliert, gibt es hier in Österreich eher die Pflicht, UNglücklich zu sein. Wer sich allzu zufrieden zeigt, ist fast schon verdächtig!