„Mir scheint, es gibt zu viel Elend in der Welt“– Darwins Theodizee
Hier der überarbeitete und leicht erweiterte Schluss des letzten Beitrags (“Evolution und Moral“):
Im Zentrum der Bibel steht eine Gute Nachricht: die frohe Botschaft über das, was Gott getan hat, um uns von Sünde und Elend zu erlösen. Die Bibel hat insgesamt eine durch und durch positive Ausrichtung. Doch die dunkle Seite der Welt bleibt keineswegs unbeachtet, im Gegenteil. Das Böse ist wirklich, nicht eine Illusion; es wird nicht ignoriert, sondern muss überwunden werden. Gerade das zeichnet ja die biblische Religion aus und unterscheidet sie von denen des Ostens, die das Böse als Schein betrachten.
Die Bibel gibt uns ein realistisches Bild von der gefallenen Welt – kaum eine Untat, die nicht geschildert wird; Schicksalsschläge, von denen auch die Frommen nicht verschont bleiben; Leiden, die wenig Sinn machen; Grausamkeiten, die uns überflüssig scheinen. Bemerkenswert ist dabei, dass auch alle Übel und alles Böse nicht außerhalb von Gottes Plan geschehen, er vielmehr alles kontrolliert.
Die heilsame Lehre
Traditionell wird dieses Handeln Gottes als seine Vorsehung bezeichnet: die Lehre, „dass der liebe Gott, nachdem er alle Dinge geschaffen hatte, sie keineswegs der Willkür des Zufalls oder Schicksals überlassen hat, sondern das er selbst… sie immerwährend so regiert und lenkt, dass nichts in dieser Welt ohne seinen Willen und seine Anordnung geschieht…“ (Niederländisches Glaubensbekenntnis, Art. 13). Gott hat also nicht nur einmal die Welt erschaffen und sie dann sich selbst überlassen. Wie Calvin in Institutio I,16 betont, ist Gott immer noch eindeutig am Wirken; er ist Auge und Hand; er hält das Ruder und lenkt alle Ereignisse. „Nichts ist heilsamer, als diese Lehre zu kennen“, so der Reformator (I,17,3).
Der persönliche Nutzen für die Gläubigen ist groß: „Diese Lehre bringt uns einen unermesslichen Trost. Denn aus ihr lernen wir, dass uns nichts zufällig trifft, sondern alles nach dem Willen unseres himmlischen Vaters… Hierbei beruhigen wir uns völlig, indem wir wissen, dass Gott die Teufel und alle unsere Feinde gleich wie mit Zügeln im Zaum hält…“, so Guy de Brès, Autor des zitierten Bekenntnisses. Ähnlich spricht auch der Heidelberger Katechismus in Fr. 28 von Geduld und Vertrauen. Calvin nennt in Inst. I,17,7–8 Dankbarkeit bei Erfolg und Segen und Geduld im Leiden. Gewissheit, Hoffnung, Vertrauen, Trost und Ruhe – das ist die Frucht des Glaubens an die Vorsehung. Noch einmal der Reformator: Wenn dem Christen „das Licht der göttlichen Vorsehung“ aufgeht, wird er „von aller Sorge befreit und erlöst“, denn nun vertraut er sich mit Gewissheit Gott an. „Das ist eben der Trost, dass er erkennt: der himmlische Vater hält mit seiner Macht alles zusammen, regiert alles im seinem Befehl und Wink, ordnet alles mit seiner Weisheit, so dass nichts vorfällt ohne seine Zustimmung.“ (Inst. I, 17,11)
Für das persönliche Glaubensleben und die Ethik ist die Vorsehung von geradezu überragender Wichtigkeit. Und es gilt zu beachten, dass das Evangelium selbst von der Vorsehung nicht zu trennen ist. Denn Gott lenkte die Ereignisse der Passion Jesu so, dass das böse Handeln von Menschen (Judas, die Hohenpriester, Pilatus) dem Guten, dem rettenden Sühnetod, dienen musste.
„Machwerk eines stümperhaften oder eines grausam gleichgültigen Gottes“
Doch es ist gerade die Vorsehung, die mit der Evolutionslehre Darwins und einer darwinistischen Deutung des Lebens in der Welt nicht vereinbar ist. Schöpfung und Evolution – unter dieser Überschrift wird meist die Debatte zwischen den Naturwissenschaften und dem christlichen Glauben zusammengefasst. Natürlich ist dies nicht falsch. Es liegt aber auf der Hand, dass hier Vorstellungen zumindest denkbar sind, die eine Schöpfung durch Gott und die Evolutionslehre verbinden: Gott hat die Schöpfung in Gang gesetzt, die sich dann nach den Evolutionsmechanismen gleichsam entfaltet. Evolution und Vorsehung – dies bringt den eigentlichen Konflikt besser auf den Punkt; und auch Darwin selbst hat genau hier den Kern des Problems gesehen. Dieser hat ja keineswegs als Atheist seine Forschungen begonnen; aber er hat recht bald den Glauben an die Vorsehung Gottes verloren (wenn er ihn denn je besessen hatte).
Der Biologe Asa Gray wie auch der Geologe Charles Lyell glaubten, dass Gott den Prozess der Evolution in gütiger Weise gesteuert hat. Darwin widersprach seinem Freund Gray in einem Brief 1860: „Ich gestehe, dass ich Beweise von Planung und Wohlwollen um uns herum nicht so klar sehen kann wie andere und nicht so klar, wie ich es gerne sehen würde. Mir scheint, es gibt zu viel Elend in der Welt. Ich kann mich nicht recht damit befreunden, dass ein gütiger und allmächtiger Gott bewusst die Ichneumoniden mit der ausdrücklichen Absicht erzeugt haben soll, dass sie sich in den lebenden Körpern von Raupen ernähren sollen“ (kursiv HL). Auch am Ende von The Origin of Species (1859) beschrieb Darwin erstaunlich grausame Phänomene der Natur.
Darwin konnte nicht mehr glauben, so Philip Kitcher in Mit Darwin leben, „dass die Welt von einem Wesen geschaffen wurde, das einen großen Plan verfolgt; von einem Wesen, das sich um seine Geschöpfe kümmert; dem nicht entgeht, wenn auch nur der kleinste Spatz vom Dach fällt; und dem in ganz besonderem Maße die Menschheit am Herzen liegt.“ Kitcher, Wissenschaftler an der Columbia University in New York: „Viele Menschen sind beunruhigt vom Leid der Menschen und anderer fühlender Lebewesen und fragen sich, wie dieses Leid mit den Plänen eines allmächtigen und liebenden Gottes vereinbar sei. Darwins Darstellung der Geschichte des Lebens erweitert den Maßstab solchen Leidens noch beträchtlich. Millionen Jahre hindurch erfahren Milliarden von Tieren gewaltiges Leid, und zahlreiche Arten sterben vollständig aus…“ Bis dann endlich der Mensch erscheint.
Doch wenn Gott die Evolution geplant hat (wie Gray und Lyell glaubten), dann hat „dieser Schöpfer eine aberwitzige Geschichte konstruiert“, dessen „Hauptereignis“, die Schaffung des Menschen, von einem „Vorspiel“ eingeleitet wurde, „das drei Milliarden Jahre währte und das oft grausame Leiden unzähliger fühlender Lebewesen umfasst“. Kitcher weiter (und er bringt hier auch Darwins Denken gut zum Ausdruck): „Betrachtet man die Millionen Jahre, in denen fühlende Lebewesen gelitten haben und viele von ihnen eines langen, qualvollen Todes gestorben sind, klingt es doch recht schal, wenn man behauptet, das alles sei notwendig gewesen, damit ganz am Ende der Geschichte unsere Spezies das angeblich transzendente Gut freien, tugendhaften Handelns zu erwerben vermag.“
Fazit: Das Handeln eines wirklich gütigen Gottes ist in der Welt nicht zu erkennen. „All das hat nichts Freundliches und nichts von Vorsehung. Dafür erscheint es atemberaubend verschwenderisch und ineffizient.“ Ja die Welt erscheint sogar als „Machwerk eines stümperhaften oder eines grausam gleichgültigen Gottes“.
Nur die Sonnenseite der Schöpfung
Wie kam Darwin zu dieser Auffassung? Cornelius Hunter hat die theologischen Hintergründe in Darwin’s God, Evolution and the Problem of Evil und im Artikel „Evolution and Theodicy“ untersucht. Er weist darauf hin, dass Darwin schon auf seiner berühmten Reise mit der „Beagle“ John Miltons Paradise Lost las. Das Werk des Puritaners war damals in England sehr beliebt. Milton ging es in dem Poem um eine Lösung des Problems des Bösen und der Rechtfertigung Gottes, was traditionell „Theodizee“ genannt wird. Dies gelang jedoch nur um den Preis, dass Gott in Distanz zur Schöpfung und dem moralischen Bösen (im Handeln von Menschen) in ihr rückte. Darwin, so Hunter, ging nur einen Schritt weiter und rückte Gott auch weg vom Bösen in der Natur.
Darwin, der ja auch Theologie studiert hatte, entwickelte sein Denken auf dem Hintergrund eines bestimmten theologischen Klimas. Einmal stand, wie gesagt, Gott der Welt mit einer gewisses Passivität gegenüber (und der Deismus des 17. und 18. Jhdts. stellte ja nur eine extreme Ausformung dieser breiten Tendenz dar); darüber hinaus „war zu Darwins Zeiten die populäre Vorstellung von Gott ein sehr angenehme. Positive göttliche Eigenschaften wie Weisheit und Güte wurden betont, und dies sogar bis zu dem Punkt, dass Gottes Zorn und seine Lenkung des Bösen noch nicht einmal in Betracht gezogen wurden“, so Hunter.
Er weist auf Adam Sedgwick hin, damals einer der bekanntesten und angesehensten Wissenschaftler in England, der ganz anders als Darwin dachte und die Welt ganz anders sah: „Sedgwick sprach oft von Gottes Macht, Weisheit und Güte. Sein wichtigster Punkt der Anwendung war, wie sich diese positiven Eigenschaften in der Schöpfung manifestieren. ‘Der Erforscher der Natur findet die natürlich Welt voll von Schönheit, Harmonie, Symmetrie und Ordnung vor’, so Sedgwick. ‘Die Biologie war voll der schönen Formen und perfekten Mechanismen… Und alles von Gottes wunderbaren Gesetzen angetrieben’.“ Bei Sedgwick gab es in der Natur nichts Überflüssiges, Grausames und Annomales. Wenn er die Bibel zitierte, so Hunter, dann vermied er ständig Stellen, die Gott und das Böse in Zusammenhang bringen. Ob Hiob oder Römer, überall ist ihm nur die Demonstration von Gottes Kraft und Macht, von Schönheit und Harmonie wichtig, nicht der geheimnisvolle Einschluss des Bösen in Gottes Pläne.
Hunters Schluss: „Sedgwick und seine Generation hatten ein recht idyllisches Bild von der natürlichen Welt. Was sollte ein junger Forscher wie Darwin denken, wenn er dann Parasiten fand, die ihren Wirt langsam martern? Die Natur zeigte sich weniger nett als Sedgwick vorhergesagt hatte, und Darwin suchte nach einer Erklärung. Seine Lösung war die Distanzierung Gottes von der Schöpfung durch das Zwischenschalten eines natürlichen Gesetzes – sein Gesetz der natürlichen Selektion… Darwins Evolutionstheorie war in vieler Hinsicht eine Lösung für das Problem des natürlichen Bösen – eine Theodizee.“
Auch Reinhard Junker und Henk Ullrich weisen in Darwins Rätsel – Schöpfung ohne Schöpfer? auf diese Theologie hin. Darwin studierte den um 1800 sehr einflussreichen Naturforscher und nicht weniger wichtigen anglikanischen Theologen William Paley. Sie zitieren aus der Darwin-Biographie von Desmond und Morris, die über Darwins Lektüre von Paleys Natural Theology (1802) schreiben: Dies Buch „enthielt eine suggestive Schilderung des Lebens, ein Leben voll Güte und Freude. ‘Dies ist eine glückliche Welt, erfüllt von Daseinslust’, schwärmte Paley. ‘An einem Frühlingsmittag oder einem Sommerabend erblicke ich, wo immer ich die Augen hinwende, Myriaden von glücklichen Geschöpfen’.“ Junker und Ullrich gegen Ende ihre Buches: „Darwin lernte von Paley nur die Sonnenseite der Schöpfung kennen. Ein Mangel, der Folgen haben sollte. Denn seine Naturforschung zeigte ihm eindrücklich ganz andere Seiten der Schöpfung: grausame und gemeine.“
Spirituelles oder konfessionelles Christentum
Evolution und gewisse Ausprägungen des Christentums sind harmonisierbar (Teilhard de Chardin ist sicher das bekannteste Beispiel für den Versuch solch einer Integration). Und umgekehrt gilt, so Kitcher in Mit Darwin leben, dass das darwinistische Weltbild „sich mit einer bestimmten Form von Religion, die an göttliche Vorsehung glaubt, nicht vereinbaren lässt.“ Um den „Glauben an eine göttliche Vorsehung zu retten“, müsste man „bestimmte Teile der Lehre vom Übernatürlichen“ bewahren, was nach Kitcher nicht möglich ist. Sein Fazit: „Wenn wir den Glauben an das Übernatürliche überwinden“, dann können wir endlich „mit Darwin leben“.
Als Ausweg bietet sich eine „kosmopolitische Version eines spirituellen Glaubens“ an; der Übergang von Religion zu Religiosität. Kitcher (selbst nicht gläubig in irgendeinem Sinne) empfiehlt: „Es wäre notwendig, von der Religion des Übernatürlichen zur spirituellen Religion überzugehen“. Es ginge in Religion nicht um Lehre, Dogmen, sondern um psychologische Zustände, Erwartungen, Sehnsüchte, Emotionen und ethische Haltungen. Wir brauchen, so Kitcher, das Übernatürliche nicht unbedingt. Wir können und sollen Religion (womit er also Religiosität meint) bewahren, denn wir brauchen sie, weil sie bestimmte Bedürfnisse erfüllt. Religiöse Lehren müssen nicht wahr sein; wichtig ist, dass sie uns inspirieren, Emotionen auslösen usw.: „Für spirituelle Christen sind die in der Hl. Schrift erzählten Geschichten nicht deshalb bedeutsam, weil sie buchstäblich wahr wären, sondern weil sie uns anleiten, uns selbst zu verstehen und uns selbst wie auch unser Denken und Tun gegenüber anderen Menschen zu verbessern.“
Kitcher lässt aber auch keinen Zweifel daran, was dies kostet: der Glauben an „buchstäbliche Wahrheit“ muss verschwinden; göttliche Vorsehung und das Übernatürliche müssen entfernt werden; die Bibel ist nur reine Mythensammlung. „Spirituelle Christen“ lassen sich inspirieren, auch von der Bibel und den Lehren Jesus, seinem Tod am Kreuz. All diese Ereignisse sind natürlich nicht buchstäblich wahr, aber sie leiten uns an „das Tun gegenüber anderen Menschen zu verbessern“. Man mache sich jedoch nichts vor: in so einem spiritualisierten Christentum gibt es keinerlei Quelle der Autorität außerhalb des Menschen bzw. der Menschen; Gott als oberste Norm ist Illusion. Im Hinblick auf die Ethik kann das Ergebnis nur eine vage Hoffnung auf Besserung sein, verschönt durch einen spirituellen Anstrich.
Die einzige Alternative sehe ich in einem robusten konfessionellen und lebendigen Christentum. Die große Tragik war doch, dass Darwin solch einem Christentum wohl nie oder nicht richtig begegnete (ihn prägten Unitarier und eine weitgehend erstarrte und leblose anglikanische Kirche seiner Zeit). Hätte er einmal neben Paley auch Calvin gelesen! Dieser sah natürlich auch Gottes Größe und Majestät in der Schöpfung widergespiegelt; doch er schwärmte eben nicht naiv von einer „glücklichen Welt“: „Unzählig sind die Übel, die unser menschliches Leben belagern, stets lauert in ihnen der Tod“, ja „der Mensch… führt sein Lebens sozusagen stets verwoben mit dem Tod“ (Inst. I,17,10). Auf dem Hintergrund solcher Einsichten hätte Darwin seine Beobachtungen wohl besser einordnen können.
Es sind gerade die protestantischen Bekenntnisse, die so wichtige Fundamente für eine robuste und tragfähige Theologie und Ethik liefern. Im heutigen Gemeindeleben kommt die Lehre der Vorsehung jedoch kaum vor; dieser Stolperstein des Darwinismus hat sich schon abgewetzt. Ein Grund dürfte in der weitgehenden Entkonfessionalisierung der Kirchen liegen (in den Landeskirchen hat man die Bekenntnisse noch, glaubt aber nicht mehr so recht an ihre Inhalte; die meisten Freikirchen sind schon lange überwiegend bekenntnisfrei oder formulieren sich kurze Zusammenfassungen des Glaubens, bei denen die Vorsehung dann natürlich auf der Strecke bleibt).
Eine Vorsehung, die Gutes wie Böses umfasst – diese Tradition, wie sie im Heidelberger Katechismus gut zur Sprache kommt, war Darwin leider fremd. Diese Unkenntnis führte mit zu seiner Theodizee, und diese Unkenntnis führt viele Christen zu dem Glauben, ein Friede mit Darwin sei möglich. Dort heißt es in Fr. 27, dass die Vorsehung die „allmächtige und gegenwärtige Kraft Gottes“ ist, mit der er die Schöpfung regiert und lenkt, so dass „Laub und Gras, Regen und Dürre, fruchtbare und unfruchtbare Jahre… Gesundheit und Krankheit, Reichtum und Armut… uns nicht durch Zufall, sondern aus seiner väterlichen Hand zukommt.“
Glaube an die Evolution oder die Vorsehung
Zu viel Leid und Elend in der Welt – das hatte im Fall Darwins auch eine persönliche Dimension. 1851 verstarb seine Lieblingstochter Annie im Alter von gerade zehn Jahren. Darwins verwelkendem Glauben versetzte dies wohl den Todesstoß. Dabei ging er jedoch nicht zu einem offenen Atheismus über, gab sich vielmehr gegen Ende des Lebens mit einem die Gottesfrage in der Schwebe haltenden Agnostizismus zufrieden.
Den Begriff Agnostizismus hatte Thomas Henry Huxley (1825–1895) erfunden. Auch er, Freund und Mitkämpfer Darwins, hatte 1860 einen vierjährigen Sohn verloren. So wundert es nicht, dass er 1863 in einem Brief sich klar von jedem Glauben an einen Gott der Vorsehung distanzierte: „Ich kann nicht einen Schatten oder den allerkleinsten Beweis dafür sehen, dass das große Unbekannte hinter den Phänomenen dieses Universums zu uns in einer Beziehung wie ein liebender und sorgender Vater steht, wie es das Christentum bekräftigt.“
Auch Huxley bekannte sich nicht zum Atheismus, aber sein Beispiel zeigt, dass an die Stelle eines Glaubens an die Vorsehung ein anderer Glaube tritt. Denn Huxley popularisierte Darwins Lehre nicht nur höchst erfolgreich („Darwins Bulldogge“). Sein Ziel war es, die christliche Weltsicht durch eine naturalistische als vorherrschende in der Gesellschaft zu ersetzen. Unser Wissen, so Huxley, reicht so weit, wie die Wissenschaft reicht; es gibt nur eine Art des Wissens und eine Art es zu erwerben. Religion sei demgegenüber eine Angelegenheit des privaten Bereichs und der Emotionen, aber nicht der öffentlichen und intellektuellen Diskussion. Der „Hohepriester der Evolution“ nannte die Wissenschaft schon mal provokant „Kirche“ („church scientific“), seine Vorträge „Predigten“ („lay sermons“). In einem Brief an einen Freund 1871 erwähnt er Vorträge vor Biologielehrern, um sie „zu wissenschaftlichen Missionaren zu bekehren“, damit diese widerum „die christlichen Heiden“ zum „wahren Glauben“ an die Wissenschaft „bekehren“. Solch eine angriffslustige Sprache und diese Liebe zu aggressiven Debatten war nicht Darwins Ding. Doch wie Nick Spencer in Darwin and God zeigt, befürwortete Darwin das Vorgehen seines jungen Freundes. Darwin hatte durchaus Sympathie für die ins Ideologische erweiterte Biologie – seine Bulldogge ließ er an der langen Leine.
An die Vorsehung Gottes muss man glauben, weil sie alles andere als offensichtlich ist. Dies zu leugnen wäre völlig naiv und würde die inneren Kämpfe von vielen Menschen angesichts von Leid und Tod nicht ernst nehmen. Glaube kennt jedoch kein Vakuum. An die Stelle Gottes tritt nicht ein vermeintlich neutraler Agnostizismus, sondern Glaube an eine andere Weltsicht. Huxley gibt uns das beste Beispiel. Heute wirft man oft den evolutionskritischen „Intelligent Design“-Forschern die angeblich religiösen Wurzeln ihrer Lehre vor. Richard Dawkins oder Carl Sagan, Michael Ruse oder Stephen J. Gould – sie alle betonen dagegen, Evolution sei eine Tatsache, die mit Glauben nichts zu tun habe.
Natürlich unterscheiden sich Vorsehung und Evolutionslehre in ihrem Status und ihrer Eigenart (die Evolution beruht vor allem auf Beobachtungen, die Vorsehung vor allem auf Offenbarung). Doch wie Christen an die Vorsehung glauben, so gilt Ähnliches für die Evolutionsanhänger. Makroevolution ist genauso wenig wie Gottes lenkendes Handeln direkt zu beobachten. In den Spuren Huxleys glauben viele an die Evolutionslehre als eine Große Erzählung (Alvin Plantinga: „Grand Evolutionary Story”) oder auch – noch einmal Plantinga (und C.S. Lewis) – einen Mythos: Evolution fungiert im säkularen Sinne als Mythos, denn sie bietet auf einer tiefen, geradezu religiösen Ebene eine umfassende Interpretation von uns selbst und der Welt; sie erklärt, warum wir hier sind, woher wir kommen und wohin wir gehen (s. Plantingas „When Faith and Reason Clash: Evolution and the Bible“). Vor allem ist sie dazu in der Lage, so scheint es, die „überreiche Gegenwart des Leidens“ (so Darwin in seiner Autobiographie) zu integrieren. Zwischen diesem Glauben und dem an einen allmächtigen Gott und getreuen Vater (Heidelberger Katechismus, Fr. 26) gilt es sich zu entscheiden.