Evolution und Moral

Evolution und Moral

Oder: Welche Ethik ist im Schatten Darwins möglich?

„Tatsache, TATSACHE, TATSACHE!“

Für Richard Dawkins ist die Evolution objektiv und unzweifelhaft wahr – so wahr wie die Tatsache, dass die Erde um die Sonne kreist. Er behauptet sogar: „Falls höhere Kreaturen aus dem All je die Erde besuchen sollten, werden sie sich eine erste Frage stellen, um den Grad unserer Zivilisation zu bewerten: ‘Haben sie schon die Evolution entdeckt?’“ (The Selfish Gene) Stephen J. Gould hielt die Evolution ebenfalls für eine gesicherte Tatsache, nicht eine bloße Theorie: Kein vernünftiger Mensch, der die Beweise kennt, könnte sie leugnen. Auch Michael Ruse posaunt hinaus: „Evolution ist eine Tatsache, TATSACHE, TATSACHE!“ Und Dawkins noch provokanter einst in der „New York Times“: „Man kann ganz sicher behaupten, dass jemand, der behauptet nicht an die Evolution zu glauben, entweder unwissend oder dumm oder verrückt ist (oder auch böse, aber das will ich lieber nicht berücksichtigen).“

Dies selbstsichere Auftreten der Biologen verdeckt eine nicht zulässige Vereinfachung, ja man muss sogar von einem gravierenden Fehler sprechen. Nun mögen all diese Wissenschaftler überzeugt sein, dass die Evolutionslehre wahr ist. Doch dies ändert nichts daran, dass diese eine Theorie oder Hypothese ist und bleibt; ein Erklärungsmodell für bestimmte Daten und Tatsachen (vor allem biologische bzw. paläontologische). Eine vielleicht gut, aber nur vorläufig bestätigte Theorie – zu mehr kann es die Evolution (im Sinne der Lehre von der gemeinsamen Abstammung aller Lebewesen) nicht bringen. Natürlich wird der Begriff auch für den tatsächlichen Ablauf der Geschichte gebraucht. Doch dieser Ablauf kann nur rekonstruiert werden; er ist nicht einfach als Tatsache gegeben. Dem Ablauf kann erst dann Faktizität zugesprochen werden, wenn die Theorie belegt ist.

Warum werden diese Bedeutungen dennoch durcheinander geworfen? Warum meint selbst Carl Sagan in Cosmos, dem populärsten Wissenschaftsbuch aller Zeiten, „Evolution ist eine Tatsache, kein Theorie“? Leugnung von Tatsachen hat den Ruch des Dummen, ja Bösartigen (s. Dawkins). Gegner können so leicht diffamiert oder ignoriert werden; sie seien Außenseiter, Einzelgänger und arbeiten natürlich unwissenschaftlich. So muss man sich kaum noch Mühe machen, die Wahrheit der Theorie tatsächlich nachzuweisen.

Daher wundert es nicht, dass heute die begriffliche Unklarheit groß ist. Was kann man da nicht alles lesen: Evolution bedeute, dass der Kosmos einem geschichtlichen Prozess unterliegt; oder dass sich alles Leben wandelt; oder dass man Abschied nimmt von einem statischen Weltbild. Da jeder tagein, tagaus die Dynamik des Lebens erfährt, liegt somit die Wahrheit der Evolution auf der Hand. Unterschlagen wird dabei, dass die zyklischen Religionen der Antike starr, unhistorisch und ohne echte Grundlage für Vielfalt waren. Judentum und Christentum ‘erfanden’ Geschichte und Fortschritt, Wandlung und Vielfalt, und sie brauchten dafür bis vor gut einhundert Jahren auch Darwin nicht. Die Evolution schmückt sich heute mit vielen fremden Federn.

Dawkins & Co. unterscheiden meist nicht zwischen einem historischen und einem experimentellen Bereich, was für das rechte Verständnis von Wissenschaft entscheidend wichtig ist (s. dazu Junker/Scherer: Evolution – Ein kritisches Lehrbuch). In Experimenten untersucht man sich wiederholende Abläufe. Anders verhält es sich im Bereich der historischen Wissenschaften. Die Geschichte der Erde, der Lebewesen und des Menschen lässt sich nicht wiederholen und direkt erforschen. Darum werden Überreste untersucht und gedeutet und weitere Hypothesen aufgestellt, um sich ein möglichst zuverlässiges Bild von der Vergangenheit machen zu können. Vollständiges Wissen über sie ist nicht erreichbar. Je weiter die Vergangenheit zurückliegt, desto unsicherer wird in der Regel unser Wissen. Junker: „In der Diskussion um Schöpfung und Evolution ist es wichtig, Naturwissenschaft und Naturgeschichtsforschung auseinanderzuhalten“ (Jesus, Darwin und die Schöpfung).

Daher hätte auch z.B. Karl R. Popper von Dawkins Trilemma (unwissend, dumm oder verrückt) sicher gar nichts gehalten. Der berühmte Philosoph (1902–1994) leugnete den Darwinismus keineswegs, unterstrich jedoch, dass die Evolutionshypothese als solche kein universales Naturgesetz ist. „Die Entwicklung des Lebens auf der Erde und der menschlichen Gesellschaft ist ein einzigartiger historischer Prozess”. Diese verläuft nach bestimmten Naturgesetzen, „seine Beschreibung ist jedoch kein Gesetz, sondern nur ein historischer singulärer Satz” (Das Elend des Historizismus). Daher hat die Evolutionslehre auch nicht den Tatsachencharakter wie z.B. das Gravitationsgesetz (obwohl natürlich auch dies im strengen Sinn keine Tatsache ist); Sätze, die historische Prozesse beschreiben, bleiben in besonderem Maße offen für Kritik. Auch dies wird durch vollmundige Äußerungen wie oben verdeckt.

Hoimar von Ditfurth, zu Lebzeiten sicher bekanntester TV-Wissenschaftsjournalist in Deutschland, meinte jedoch in Wir sind nicht nur von dieser Welt, dass das evolutionäre Weltbild „nicht mehr insgesamt aufhebbar ist“; es wird sicher als Ganzes nicht mehr verworfen werden. Es vergleicht (wie auch schon Gould) dies mit dem Einsteinschen Gravitationsgesetz, das das von Newton vervollkommnete und so nun miteinschließt, letzteres aber nicht als falsch verwarf – Einstein ging nicht zurück hinter Newton. So stellt sich v. Ditfurth auch die Zukunft der Evolutionslehre vor. Daher gäbe es hinter die Evolution ebenfalls kein Zurück mehr.

Hier muss jedoch noch einmal festgehalten werden: die Evolution ist kein universales Naturgesetz und mit der Gravitation nur schwer vergleichbar. Die Auswirkungen der Schwerkraft beobachten wir täglich; Fallexperimente können jederzeit wiederholt werden. Nichts dergleichen gilt für die Evolution im umfassenden Sinne (also Makroevolution). Wir beobachten den fallenden Apfel, und wir beobachten Ähnlichkeiten zwischen Menschen und Primaten; aber der gemeinsame Vorfahre ist eine Hypothese. Die Evolutionslehre ist eine Große Erzählung (Alvin Plantinga: „Grand Evolutionary Story”), ein echtes Paradigma oder auch – noch einmal Plantinga (und C.S. Lewis) – ein Mythos: Evolution fungiert im säkularen Sinne als Mythos, denn sie bietet „ein gemeinsames Verständnis von uns selbst auf einer tiefen, religiösen Ebene; eine tiefe Interpretation von uns selbst für uns selbst; einen Weg, um zu erklären, warum wir hier sind, woher wir kommen und wohin wir gehen.“ („When Faith and Reason Clash: Evolution and the Bible“)

Der große evolutionäre Stammbaum, dessen Idee sich als einfache Skizze ja schon in Darwins The Origins of Species findet, ist daher eine mutige Extrapolation, eine Vermutung, eine Idee, ein Modell und in seiner Klarheit und Erklärungskraft sogar genial – und dennoch tatsächlich weit von jeder Gewissheit entfernt. (Darwin selbst nannte in Kap. 7 des Werkes das Problem der „missing links“, der fehlenden Übergangsglieder, ohne die von einem eigentlichen wirklich existierenden Stammbaum ja keine Rede sein kann.)

„Ein Dogma der Dunkelheit und des Todes“

Die Evolutionsverfechter müssen daher erstens auf wissenschaftstheoretische und philosophische Kritik hören wie sie z.B. vom schon zitieren Alvin Plantinga – ein angesehener reformierter Philosoph, der lange an der katholischen Notre-Dame-Universität in den USA unterrichtete – beispielhaft geleistet wird (s. sein Where the Conflict Really Lies: Science, Religion, and Naturalism; s. aber auchdiese Kritik des Apologeten William Lane Craig). Lässt man sich vom Mantra der Tatsache der Evolution blenden, kann man gleich alle Waffen niederlegen.

Zweitens muss natürlich über die Deutungen der Funde und der Urgeschichte im Einzelnen gestritten werden. Hier geht es um die Biologie im eigentlichen Sinne. Gerade in diesem Bereich leistet im deutschsprachigen Raum die Studiengemeinschaft „Wort und Wissen“ vorbildliche Arbeit.

Eine dritte Perspektive der Kritik ist die Ethik, der wir uns nun näher zuwenden. Wie relevant die Evolution für Fragen der Moral und des Rechts ist, zeigte sich in bekannten Gerichtsprozessen in den USA vor neunzig Jahren. Im sogenannten „Affenprozess“ in Dayton, Tennessee, wurde 1925 der Biologielehrer John T. Scopes angeklagt, weil er die Abstammung des  Menschen aus dem Tierreich gelehrt hatte. Dies widersprach einem jüngst im Bundesstaat angenommenen Gesetz. Der Prozess wurde nicht (wie man sogar in Jürgen Moltmanns Gott in der Schöpfung lesen kann) von der evolutionskritischen, „fundamentalistischen“ Seite angestrengt. Er war vielmehr eine Inszenierung der Evolutionsbefürworter und der „American Civil Liberties Union“ (der es auch hier weniger um Evolution, als allgemein um freie Rede, Lehre und Pluralismus ging), um das Anti-Evolutionsgesetz im Staat Tennessee, das den Darwinismus aus den Schulen verbannte, zu kippen und die Evolutionsgegner bloßzustellen.

Die Anklage vertrat William Jennings Bryan, einer der bekanntesten Politiker der USA und dreimaliger Präsidentschaftskandidat der Demokraten, der seit 1920 gegen die Evolutionslehre kämpfte. Scopes, der im Prozess fast überhaupt keine Rolle spielte, wurde verteidigt von Clarence Darrow, damals einer der erfolgreichsten Anwälte im Land.

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Darrow (l.) und Bryan, Kontrahenten im “Affenprozess” 1925

Der Prozess erregte ungeheure mediale Aufmerksamkeit. Jeder Satz, jedes Wort, wurde in ganz Amerika bekannt. Dem mit allen Wassern gewaschenen Darrow gelang es, Bryan auszutricksen. Er lud diesen völlig überraschend in den Zeugenstand; Bryan stimmte zu. Fragen zur biblischen Urgeschichte sollten den christlichen Fundamentalismus, den auch Bryan repräsentierte, als rückständig und primitiv erweisen. In der Kleinstadt Dayton ging Bryan als Sieger aus dieser Befragung hervor; ganz anders sah dies in den landesweiten Medien aus, was natürlich entscheidend und von Darrow auch so bezweckt war.

Trick Nummer zwei: Bryan konnte sein Abschlussplädoyer nicht mehr halten, da Darrow auf seines verzichtet hatte. Dies war ein wirklich geschickter Schachzug des Anwalts, denn Bryan hatte an der Rede und seinen Argumenten lange gefeilt. Sie sollte den Höhepunkt seines Plädoyers vor Gericht darstellen. Der Politiker starb kurz nach dem Prozess, aber seine Rede ist uns erhalten, denn sie wurde bald als Bryan’s Last Speech veröffentlicht.

Bryans Text ist bis heute eine lesenswerte und fundierte Gesamtkritik der Evolution. Eine wichtige Trumpfkarte: Ihm lagen die Protokolle des Leopold-Loeb-Prozesses vor. Ein Jahr zuvor hatte Darrow dabei die jugendlichen Dicky Loeb und Nathan Leopold verteidigt, die einen äußerst grausamen und kaltblütigen Mord an einem 14-Jährigen begangen hatten. Der Anwalt rettete beide vor der Todesstrafe, indem er auf die Evolution zurückgriff. Nach Darrow sei entweder die Erziehung oder die Vererbung von den Vorfahren für das Verbrechen verantwortlich zu machen. Loebs Eltern waren vorbildlich, weshalb Darrow zu dem Schluss kam: „Ich weiß nicht, welcher ferne Vorfahre ihm diese Saat geschickt hat, die ihn verdarb; und ich weiß auch nicht, durch wie viele Vorfahren sie wanderte, bevor sie Dicky Loeb erreichte. Ich weiß nur, dass es wahr ist, und es gibt keinen Biologe in der Welt, der nicht sagt, dass ich recht habe.“

Bryans Kommentar: „Psychologen, die auf der Evolutionshypothese aufbauen, lehren, dass der Mensch nichts anderes als ein Bündel von Wesensarten ist, die er von wilden Vorfahren geerbt hat. Das ist die Philosophie, die Mr. Darrow in diesem berühmten Kriminalfall anwandte.“ Und gegen Ende seine Schlussfolgerung: „Dies ist die Quintessenz der Evolution, für uns herausdestilliert von jemandem, der dieser Lehre zu ihrem logischen Schluss gefolgt ist. Man analysiere dies Dogma der Dunkelheit und des Todes. Evolutionisten behaupten, dass damals, zu Beginn des Lebens, ein Tier, dessen Name und Wesen unbekannt ist, einen mörderischen Samen in uns gepflanzt hat und dass die Impulse, die ihren Ursprung in diesem Samen haben, für immer im Blut der Nachfahren des wilden Tieres pulsieren und so zu unzähligen Tötungen anstiften, für die die Mörder nicht verantwortlich sind, weil sie durch das Schicksal der Gesetze der Vererbung gezwungen wurden. Dies ist eine Beleidigung der Vernunft und schockiert das Herz. Diese Lehre ist so tödlich wie Lepra. Sie mag einem Anwalt in einem Kriminalprozess helfen, aber würde sie allgemein akzeptiert, wäre die Zerstörung aller Vorstellung von Verantwortung das Ergebnis und alle Moralvorstellung der Welt bedroht.“

Bryan sagt hier nichts anderes, als dass durch die Evolutionslehre die Grundlagen der Ethik und Moral und damit auch der Justiz zerstört werden. Und er konnte dies an einem konkreten Gerichtsprozess, an den sich noch viele erinnern konnten, anschaulich zeigen. Es ist schon vielsagend und geradezu tragisch, dass Darrow, der kaltblütig ein sozialdarwinistisches Argument nutzte, vor dem Urteil der Nachwelt geradezu glänzend dasteht (im berühmten Film „Inherit the Wind“ verkörpert Spencer Tracey die Darrow-Figur als wahren Helden der Freiheit); und dass der moralisch integre Bryan trotz guter Argumente im Keller der Geschichte verschwand – als einer der ersten unverbesserlichen Kreationisten und Erz-Fundamentalisten.

„Eine darwinistische Gesellschaft wäre ein faschistischer Staat“

Der Sozialdarwinismus war damals auf der Höhe seiner Popularität angelangt, so dass Darrow gerne auf solche Gedanken zurückgriff und Bryan entsprechend reagierte – reagieren musste. Als einer der ersten hatte Herbert Spencer in The Study of Sociology (1875) die biologischen Prinzipien des Darwinismus auf das menschliche Zusammenleben (also auch auf die Moral) und die Gesellschaft ausgeweitet. (Spencer prägte übrigens den Begriff „survival of the fittest“, den Darwin dann übernahm.) Eine konkrete Forderung des Sozialdarwinismus war die Begrenzung des Nachwuchses von bestimmten „minderen“ Menschengruppen oder -rassen. So auch Spencer: „Den Bösen bei der Vermehrung zu unterstützen bedeutet im Effekt nichts anderes, als auf bösartige Weise unsere Nachfahren mit einer Menge von Feinden zu versorgen.“ Zwangssterilisationen waren keinerlei Tabu. Selbst der bekannte Oberste Richter Oliver Wendell Holmes meinte: „Drei Generationen Schwachsinniger sind genug”.

Heute gilt der Sozialdarwinismus als ideologische Entartung, ja Perversion. Moderne Apologeten der Evolution wie allen voran Dawkins betonen, dass die Biologie uns keine Moral vorgibt (er tritt damit in die Fußstapfen von T.H. Huxley, der dies im 19. Jhdt. auch schon unterstrich). Auf seiner Homepage schreibt der Oxforder: „Wissenschaftliche Theorien schreiben nicht vor, wie wir uns verhalten sollen. Ich habe vielfach geschrieben (wie z.B. im ersten Kapitel von A Devil’s Chaplain), dass ich ein leidenschaftlicher Darwinist bin, wenn es um die Wissenschaft der tatsächlichen Evolution des Lebens geht; ich bin jedoch ein leidenschaftlicher ANTI-Darwinist, wenn es um die Regelung der Frage geht, wie sich Menschen untereinander verhalten sollen.“

Mit ähnlichen Worten grenzt er sich vom Sozialdarwinismus auch im Interview „Darwinismus: Rebellen gegen die Gene“(„Die Presse“, 30.07.2005) ab: „Kein anständiger Mensch will in einer Gesellschaft leben, die nach darwinistischen Gesetzen funktioniert. Ich bin leidenschaftlicher Darwinist, wenn es darum geht zu erklären, wie sich das Leben entwickelt hat. Aber ich bin leidenschaftlicher Anti-Darwinist, wenn es darum geht, in welcher Form von Gesellschaft wir leben wollen. Eine darwinistische Gesellschaft wäre ein faschistischer Staat.“

Und die berühmten letzten Worte in Dawkins erstem Buch The Selfish Gene: „Wir haben die Kraft, uns unseren egoistischen Genen unserer Geburt zu widersetzen… Wir können sogar über Wege diskutieren, einen reinen, selbstlosen Altruismus bewusst zu entwickeln und zu pflegen – etwas, was in der Natur keinen Platz hat; etwas, das nie zuvor auf der Welt in der gesamten Geschichte diese Welt existiert hat.“ Wir können, so Dawkins, „unserem Schöpfer [also den Genen] widerstehen“. „Allein wir auf Erden können gegen die Tyrannei unsere egoistischen Replikatoren rebellieren.“

Dawkins macht es sich einmal wieder etwas zu einfach (wir kommen auch später noch zu diesen Zitaten). Im Tierreich, der Biologie, wird ein Kampf ums Überleben geführt, und in der menschlichen Gesellschaft soll Friede herrschen. Bei Darwin selbst lässt sich dies nicht so scharf trennnen. Die Metapher des Krieges in der Natur findet sich schon in The Origin of Species („what war between insect and insect, between insects, snails, and other animals with birds and beasts of prey…“), und im Notebook E schreibt er, dass sich zwei menschliche Rassen in genau der gleichen Weise bekämpfen wie Tiere („When two races of men meet, they act precisely like two species of animals. – they fight, eat each other, bring diseases to each other &c, but then comes the most deadly struggle, namely which have the best fitted organization, or instincts.“).

Dass sich zumindest die Saat des Sozialdarwinismus schon bei Darwin findet, zeigen auch Zitate aus The Descent of Man: „Wenn… die leichtsinnigen, lasterhaften und sonst wie minderwertigen Glieder der menschlichen Gesellschaft… sich schneller als die besseren Klassen vermehren, so wird das Volk zugrunde gehen…“ Dass „die schwächsten Glieder der zivilisierten Gesellschaft ihre Art fortpflanzen“, sei zu ertragen, wird aber „für die Rasse des Menschen in höchstem Maße schädlich sein.“ Hilfe für die Hilflosen sei „hauptsächlich das Resultat des Instinkts der Sympathie“, der aus dem Tierreich stammt, aber unter den Menschen „zarter gemacht“ wurde. Die „Erhaltung und Vermehrung der Schwachen“ soll toleriert werden, habe aber „ganz zweifellos nachteilige Folgen“. – Sätze wie auf einem Silbertablett präsentiert: Es brauchten nur ausreichend unmoralische und skrupellose Menschen wie die Nationalsozialisten und andere, die eben nichts und niemanden mehr „ertragen“ wollten, auftauchen, um sie für ihre Zwecke zu nutzen.

(Sätze aus diesem Abschnitt [ab dem zweiten zitierten Satz] im 5. Kapitel werden im evolutionskritischen Film “Expelled: No Intelligence Allowed” verkürzt zitiert, so dass der Eindruck erweckt wird, dass Darwin die Vermehrungskontrolle unter Menschen befürwortete und voll und ganz auf sozialdarwinistischer Linie lag. Kritiker haben zurecht darauf hingewiesen, dass Darwin die Menschen eben nicht so behandelt sehen wollte. Was dieser Kritiker des Films jedoch übersehen, ist die Tatsache, dass das Vermehren der Schwachen laut Darwin eben doch objektive Nachteile mit sich bringt; außerdem kann er nicht deutlich machen, warum denn den Instinkten gefolgt werden sollte und was den Menschen zu etwas Besonderem macht, was besondere Achtung mit sich brächte. Mir scheint, dass sich in Darwins Denken und Empfinden gleichsam irrationale Reste von christlichen Überzeugungen finden, für die er aber keine Grundlage in seiner Weltsicht mehr findet.)

V. Ditfurth verglich die Hexenprozesse mit den Auswüchsen des Sozialdarwinismus bei den Nazis (man denke an ihre Euthanasieprogramme); wie man die Verfolgung der Hexen nicht dem Christentum als solchem anrechnen dürfe, so auch nicht die „Vernichtung unwerten Lebens“ dem Darwinismus. Doch wo sind die Äußerungen Jesu, die eine Verbrennung von Hexen rechtfertigen würden? Demgegenüber hat der Wiener Historiker und Theologe Franz Stuhlhofer in Charles Darwin: Weltreise zum Agnostizismus gezeigt, dass schon Darwin den Kampf ums Dasein auch auf den Menschen übertrug. Das penetrante Übergehen dieser Tatsache bringt nicht weiter.

„Der Teufel in Gestalt eines Pavians“

Ob Darwin nun der Hauptanstifter des Sozialdarwinismus war oder nicht; ob er nun selbst schon ein „Darwinian fundamentalist“ (Adam Gopnik in „The New Yorker“, 2006) war oder erst später seine Gedanken ideologisch überhöht wurden – Einigkeit unter allen Anhängern Darwins besteht darüber, dass unsere guten und bösen Triebe, alle Tugenden und Laster, unsere sämtliche Vorstellungen von Moral und Sünde, biologische Wurzeln haben. In Darwins berühmten Worten: „Daher ist also unsere Herkunft der Ursprung unserer bösen Leidenschaften!! – Der Teufel in Gestalt eines Pavians ist unser Großvater!“ (Notebook M, 1838)

Auf eine neue Stufe gelangte die Diskussion durch Edward O. Wilsons Sociobiology: The New Synthesis (1975). Für Wilson entspringt alle Ethik biologischer Notwendigkeit und kann aufgrund der biologischen und sozialen Evolution des Menschen erklärt werden. Wilson führte den Begriff „Soziobiologie“ ein und meinte damit „das systematische Studium der biologischen Grundlage allen sozialen Verhaltens“. Menschliche Ethik hat sich danach durch natürliche Selektion entwickelt. Zusammenarbeit, Altruismus, Fürsorge haben alle biologische Wurzeln.

Auf dieser Linie schreibt der österreichische Biologe Franz M. Wuketits in „Wer war Charles Darwin?“(„Aufklärung und Kritik“, Sonderheft 15/2009) über unsere moralischen Fähigkeiten folgendes: „[Ihr] Grund liegt in den sozialen Instinkten, worin die Familienbande miteingeschlossen sind. Diese Instinkte sind sehr kompliziert und geben bei niederen Tieren besondere Veranlassung zu gewissen Tätigkeiten; aber die bedeutungsvollsten Elemente sind Liebe und Sympathie. Tiere mit sozialen Instinkten haben Vergnügen an der Gesellschaft anderer, warnen einander in Gefahr, verteidigen und helfen einander bei vielen Gelegenheiten. Diese Instinkte beziehen sich nicht auf alle Individuen der Art, sondern nur auf die von derselben Gemeinschaft. Da sie sehr nützlich sind für die Spezies, sind sie aller Wahrscheinlichkeit nach durch natürliche Zuchtwahl erworben worden.“

Wuketits bestätigt, dass „Darwin die Selektionstheorie auch auf die evolutionäre Beschreibung und Rekonstruktion sozialer und moralischer Fähigkeiten übertragen [hat]“. Moral ist beim Menschen nicht „etwas grundsätzlich Neues“, „Vorstufen“ fänden sich auch bei anderen Tieren. Er betont aber in Abgrenzung vom Sozialdarwinismus, dass sich schon Darwin „durchaus darüber im Klaren [war], dass in der sozialen Evolution kooperatives und helfendes Verhalten die entscheidenden Antriebskräfte sind.“ Von einem  „Dschungeldarwinismus“ könne also keine Rede sein.

Ähnlich Wuketits in Verdammt zur Unmoral?: „Biologisch ist der Mensch auf das Leben in Kleingruppen angelegt. Über mehrere Jahrmillionen haben die Hominiden ihr soziales Leben in Gruppen mit einer kleinen, überschaubaren Zahl von Mitgliedern sozusagen erprobt. Von den frühzeitlichen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften haben wir elementare Verhaltensformen übernommen. Dazu gehört vor allem auch das kooperative Verhalten, der Altruismus. Der Altruismus bringt sowohl der Gruppe als auch dem Individuum in der Gruppe entscheidende Vorteile… Es ist anzunehmen, dass altruistisches Verhalten von der Selektion begünstigt wird…“.

Nicht nur die „bösen Leidenschaften“, sondern auch die guten, nämlich selbstlose Fürsorge und Kooperation, gehören danach zu unserem biologischen Erbe. Wuketits, Dawkins und andere würden sicher Darrow widersprechen und behaupten, dass wir nicht zur Unmoral verdammt sind; dass in uns Teufel wie auch Engel schlummern; dass wir, so ja Dawkins, ‘besser’ als unsere egoistischen Gene sein können, weil auch dies schon in uns angelegt ist.

„Lustgefühle fördern“

Alle evolutionären Ethiker, und hier wäre sicher zuerst Peter Singer zu nennen, arbeiten mit dem gleichen Grundmodell: Fundament sind die sozialen Gefühle und Instinkte, in der Evolution verwurzelt; der Mensch besitzt nun einen ausgereiften Verstand mit immer noch wachsendem IQ, der dazu in der Lage ist, die Ethik der kleinen Gruppe und des Stammes auszuweiten auf die ganze Menschheit – und bei Singer schließlich auch auf die Tiere. Denn durch Nachdenken erkennt der Mensch, dass die anderen Menschen sich genauso um ihr Leben kümmern, wie man selbst; und dass die höheren Tiere fast genauso Schmerz empfinden wie wir (s. sein The Expanding Circle).

Ähnlich Wuketits: „Der Mensch – jeder Mensch – sucht positive Lebensgefühle und möchte Unlust vermeiden. Eine evolutionäre Ethik führt daher zu dem Postulat, Lustgefühle zu fördern. Das soziale Leben vermittelt dem Menschen positive Gefühle, er sucht seinesgleichen; damit wird die egoistische Komponente in unserem Leben sozusagen kompensiert… Moral ist also letztlich eine Sache von Empfindungen.“ (Verdammt zur Unmoral?)

Sam Harris, einer der Neuen Atheisten, meint in Letter To A Christian Nation unter der Überschrift „Wahre Moral“, es sei leicht, objektive Quellen einer moralischen Ordnung jenseits von Gott und seinem Wort zu finden. Feste Grundlagen für die Moral seien in psychologischen Gesetzen zu suchen. Konkret: was Glücksgefühle fördert, ist gut; und Liebe fördert diese mehr als Hass. Natürlich fasst auch Dawkins seine ethische Maxime so zusammen: die Summe des Glückes erhöhen, Leiden verringern.

Schon Bertrand Russell betonte, in der Ethik ginge es um Gefühle und Empfindungen. Dabei soll nicht nur das „alltägliche Glück des Einzelnen“ im Mittelpunkt stehen; es gehe auch darum, einen „Beitrag zur Zivilisation“ zu leisten, ja der Nachwelt einen „Schatz“ weiterzureichen. Eine ethische Handlung, die wir ausführen sollen, ist so nach Russell diejenige, „die am wahrscheinlichsten die Interessen der Menschheit oder aller fühlenden Wesen fördern wird“ (Moral und Politik).

Allgemein könnten wir hier von einer Art veredelten Hedonismus sprechen, von einem durch den Verstand erweiterten und ‘gereinigten’ Streben des Einzelnen nach Wohlbefinden, Glück und Lust: Erfüllung nicht nur für mich, sondern auch für die anderen, weil dies ein natürlich Impuls ist und letztlich auch wieder meine Glücksgefühle fördert.

„Die Ethik rechnet nicht mit ewigen Werten oder Moralprinzipien“

Was können wir nun zur Kritik all dieser Vorstellungen sagen? Vier Dinge sind hier zu nennen.

Verharmlosung des Bösen. „Die evolutionistische Betrachtung zwingt nun unvermeidlich auch zu einer kritischen Überprüfung bestimmter religiöser, insbesondere christliche Formulierungen“, so Hoimar v. Ditfurth, der sich als Christ verstand. Er wurde dabei auch konkret, nahm kein Blatt vor den Mund: der Mensch ist natürlich nicht die „Krone“ der Schöpfung, er hat das „Tier-Mensch-Übergangsfeld noch nicht völlig durchschritten“. Natürlich gäbe es auch Rückwirkungen auf die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus; die Evolution führe zu einer „grundsätzlichen historischen Relativierbarkeit auch der Person Jesus Christus“ (Wir sind nicht nur von dieser Welt).

Man mache sich nichts vor: die Evolutionslehre bringt das Kartenhaus der traditionellen christlichen Theologie zum Einsturz. Reinhard Junker hat in Leben durch Sterben? Hervorragend gezeigt, dass im Rahmen der Evolutionslehre das Konzept von Sünde völlig inplausibel ist. Hier eine Zusammenfassung: „Ein sekundärer Einbruch von Sünde und Tod in die Schöpfung [wie in Gen 3 geschildert] ist im Rahmen der Evolutionslehre nicht denkbar. Unter Zugrundelegung der unverzichtbaren Inhalte aller Evolutionsvorstellungen muß das traditionelle biblische begründete Verständnis von Urstand, Sündenfall und Erbsünde aufgegeben werden. Die Sünde wird als unvermeidlicher Nebeneffekt der Evolution, als notwendige Kehrseite der Schöpfung verstanden. Sie tritt in dem Maße auf, wie die Evolution in ihrer Komplexität zunimmt. Gott konnte demnach keine andere Werdewelt erschaffen als eine solche, der das Übel solange anhaftet, bis die Schöpfung (nach vielen Milliarden Jahren) vollendet ist. ‘Erbsünde’ bedeutet ‘mühsamer Anfang’… Die bezeugte Vollkommenheit der Schöpfung wird vom Anfang an das Ende, das Ende der Evolution verlegt. Diese Sichtweise läuft auf einer Verharmlosung der Sünde hinaus; ihr personaler Charakter wird ebenso ausgeblendet wie ihre dämonische Dimension. Zentrale biblischer Glaubensinhalte werden damit bestritten.“

Auch eine theistische, von Gott initiierte oder gesteuerte Evolution, hilft hier nicht wirklich weiter. Junker in Jesus, Darwin und die Schöpfung: „Wenn Gott die körperliche Evolution initiiert oder gesteuert hat, so muß dies konsequenterweise auch für das Verhalten gelten. Sündiges Verhalten bzw. Sünde schlechthin ist damit Folge der Evolution, deren notwendige Begleiterscheinung. Denn im Rahmen der Evolutionslehre gilt: In Existenz ist alles, was sich evolutiv bewährt hat, was zum Überleben dienlich war… Indem der Mensch evolutiv entstand, wurde er notwendigerweise, ungewollt, gleichzeitig zum Sünder. Theistische Evolution heißt: Gott schuf den Menschen als Sünder.“

Wenn heute auch säkulare Medien den Verlust der Sünde oder eine mangelnde Einsicht in die Realität des Bösen beklagen, so sind die Ursachen auch hier zu suchen.

Keine Objektivität. Wuketits ist in Verdammt zur Unmoral? sympathisch offen: „So gesehen kann sie [die Moral] nicht objektiv sein, sie unterliegt unseren Gefühlen.“ Und weiter: „Was wir heute als ethisch richtig einschätzen…, entstand in der Evolution jenseits von Gut und Böse, als ein Überlebensprinzip, das mit Ethik und Moral nichts zu tun hat. Das Moralverhalten steht so auf einer natürlichen Basis,… die Ethik rechnet daher nicht mit ewigen Werten oder Moralprinzipien, die gleichsam von Außen dem Menschen aufoktroyiert werden könnten… Sobald die Mitglieder einer Gruppe bestimmte Normen und Werte für sich und ihre Gruppe akzeptieren, müssen wir daher sehr vorsichtig sein, wenn wir diese Normen und Werte verurteilen, weil wir ja dazu einen anderen Zugang haben…“

Gewiss unterliegt Moral in mancher Hinsicht auch der Wandlung, aber der evolutionäre Kontext diktiert, dass es überhaupt keine objektiv ewigen Werte gibt, wie Wuketits ja sagt. Dies gilt dann aber auch für die Maxime, Leiden zu verringern oder die Menge der Glücksgefühle der Menschheit zu erhöhen oder Beiträge für die Zivilisation zu leisten. Russell spricht zwar noch von „höchster Pflicht“, aber diese ist eben kein objektiver Anspruch an uns. Auf vielen Seiten ringt er ehrlich mit der Frage, ob es sittliches Wissen überhaupt noch geben kann – und kommt zu keiner befriedigenden Antwort.

Nach Dawkins (und auch vielen anderen Atheisten wie einst Carl Sagan) bietet uns die Wissenschaft den einzigen wirklich vertrauenswürdigen Zugang zur Wirklichkeit; sie sei das einzige Fundament objektiver Erkenntnis. Doch aus der Biologie sei ja keine Moral abzuleiten. Welchen Status hat dann aber moralische Erkenntnis? Bleibt sie dann nicht ganz im Subjektiven stecken? Wie kann Dawkins seine moralischen Normen so selbstsicher wie echtes Wissen präsentieren? Und warum reden so manche Atheisten wie Harris dann noch selbstbewusst von angeblichen eindeutigen objektiven Grundlagen? Hat nicht Michael Ruse Recht, wenn er unumwoben jede Objektivität in der Ethik als „Illusion“ bezeichnet?

Ruse, Atheist, aber nicht von der Sorte der „Neuen“, schreibt in „God is dead. Long live morality“ (theguardian.com, 15. 03. 2010): „Gott ist tot, warum soll ich also noch gut sein? Die Antwort ist, dass es überhaupt keine Gründe dafür gibt, gut zu sein“. Wir sind einfach moralische Wesen; wir sind auf der „Route der Sozialität“; „das Liebesgebot ist Teil unserer Biologie“; wir wissen einfach, dass wir moralischen handeln sollen. Moral funktioniert eben; abgesehen davon hat sie keine tiefere Bedeutung. Sie ist eine Sache der Emotionen – wie die Vorliebe für Eiscreme.

Wuketits bringt es an einer Stelle ebenfalls gut auf den Punkt: „Ich glaube nicht, dass man den Menschen als von Natur aus gut im moralischen Sinne bezeichnen kann, weil ihm Fragen der Moral oder Unmoral die längste Zeit fremd waren. Ebenso wenig kann man den Menschen als von Natur aus böse bezeichnen. Das Gute und das Böse kamen erst in die Welt, als der Mensch verschiedene seiner Handlungen als gut oder böse zu werten begann. Nur der, der an ein ‘höheres Wesen’, an einen richtenden Gott glaubt, wird das anders sehen.“ Klarer geht es nicht: gut und böse sind subjektive bzw. intersubjektive Wertungen, die aber keinerlei objektive Basis haben. Christoph Schrodt in „Evolution und Ethik – eine Problemanzeige“: „Ethik gehört zum ‘ideologischen Überbau’ einer rein materiell strukturierten Wirklichkeit; ist ein sekundär abgeleitetes Konstrukt, das selbst den Bedingungen der Biologie unterworfen bleibt und evolviert. In der Praxis führt dieser Ansatz ethisch zu einem radikalen Utilitarismus: Gut ist, was nützlich ist…“ (in: Leben zur Ehre Gottes).

Vergöttlichung des Verstandes. Die evolutionären Ethiker sind meist ungeheurer stolz auf die Vernunft (Atheisten nennen ihre Konferenzen z.B. „A Celebration of Reason“). Die menschliche Intelligenz mit ihrem hohen Abstraktionsvermögen ist letztlich das einzige, was den Menschen graduell über die Tiere erhebt. Wir haben, so Dawkins ja implizit, dank des Verstandes die Kraft, uns unseren egoistischen Genen unserer Geburt zu widersetzen; wir können dank des Verstandes über Wege diskutieren, einen reinen, selbstlosen Altruismus bewusst zu entwickeln; wir können dank des Verstandes den Genen und ihrer Tyrannei widerstehen. Und es ist ein wirklich allmächtiger Verstand nötig, um die tatsächliche Glücksmenge zu bewerten, die durch unser Handeln vergrößert werden soll. Die „Summe“ des Glückes oder die „Interessen der Menschheit oder aller fühlenden Wesen“ abschätzen – ein wahrhaft göttliches Unterfangen. Wie Schrodt ja feststellte und wie z.B. bei Singer gut zu sehen ist, läuft eine evolutionäre Ethik immer auf einen radikalen Utilitarismus (gut ist, was Nutzen bringt) hinaus. Dieser scheitert aber an der „Anmaßung des Wissens“ (F.A. Hayek): Uns fehlen einfach die nötigen Kenntnisse, um beurteilen zu können, welche Handlung zum größten Glück für alle führt.

Lewis schlug in diese Kerbe im Essay „Das Begräbnis eines großen Mythos“ (im dt. Band Gedankengänge; mit dem Mythos meinte er mehr als die Evolution, aber sie ist dennoch miteingeschlossen). Wir tendieren nun dahin, so der große Apologet, „die Vernunft tatsächlich als ein Absolutes zu betrachten. Doch zugleich verlangt der Mythos auch, ich solle glauben, dass die Vernunft lediglich das unvorhergesehene und unbeabsichtigte Nebenprodukt in irgendeinem Stadium eines geistlosen Prozess des Werdens ohne Ziel und Ende sei. Damit zieht mir der Inhalt des Mythos den einzigen Boden unter den Füßen weg, auf dem ich überhaupt glauben könnte, dass der Mythos wahr sei. Wenn mein eigenes Denken ein Produkt des Irrationalen ist,… wie soll ich dann meinem Denken vertrauen, wenn es mir etwas über Evolution sagt?“

Niemand anderes als Darwin selbst formulierte in einem Brief aus dem Jahr 1881 ähnliche Gedanken: „Es steigt [in mir] immer der schreckliche Zweifel auf, ob die Überzeugungen des menschlichen Verstandes, der sich vom Verstand der niederen Tiere entwickelt hat, irgendeinen Wert besitzen oder überhaupt vertrauenswürdig sind. Würde irgendjemand den Überzeugungen des Verstandes eines Affen vertrauen – falls sich dort irgendwelche Überzeugungen befinden?“ (Mit ähnlichen Worten auch noch einmal in seiner Autobiographie.)

Beide sagen das gleiche: der menschliche Verstand trägt nicht die Last, die er tragen soll und in der evolutionäre Ethik tragen muss. Aber das hindert einen Peter Singer nicht, sich an der Spitze des Erkenntnisfortschritts zu sehen. Im Aufsatz „Ethics and Intuitions“ (2005) meint er, es sei „der allerwichtigste Vorteil, den wir heute gegenüber den großen Moralphilosophen der Vergangenheit haben, dass wir nun die Evolution und ihre Anwendung auf die Ethik verstehen“. Nun wissen wir endlich, dass Moral ein natürliches Phänomen ist und keinerlei Mythos und dass schon gar kein Gott mehr nötig ist, um sie zu begründen. Selbst wenn man eingesteht, dass wir nun die Herkunft von Moral besser verstehen – stehen wir wirklich so weit über den großen Moralphilosophen, wo wir doch nun dem Kern der Ethik, der Vorgabe von Normen (s.u.), den Boden entzogen haben?

Eine Ethik ohne Ethik. Jede Form des Altruismus führt zur Verbesserung der eigenen Überlebensfähigkeit in der Gruppe oder zum besseren Überleben der eigenen Familie oder Gruppe, so die evolutionäre Ethik. Dies mag durchaus so sein, doch selbst wenn es gelänge, die Herkunft der Moral evolutionistisch zu erklären, ist damit für das konkrete Verhalten kaum etwas gewonnen. Diese Art der Ethik kann uns vielleicht sagen, warum Moral existiert, wie es zu moralischen Vorstellungen gekommen ist und warum wir so und nicht anders über moralische Fragen denken; was sie uns aber nicht sagen kann, ist, warum ich zu moralischer Handlung verpflichtet bin und was ich konkret tun soll.

Warum soll ich überhaupt das tun, was Glücksgefühle fördert? Warum bin ich verpflichtet, die Summe des Glücks erhöhen? Dawkins gibt ja eindeutig zu verstehen, dass wir den Darwinismus in der Gesellschaft nicht zulassen sollen; dass wir uns besser moralisch verhalten. Woher wissen wir aber, wie ein „anständiger Mensch“ handeln soll? Worauf gründen wir diese Ideale und Normen? Laut Dawkins ja nicht auf der Naturwissenschaft. Worauf aber dann? Wie begründet Dawkins eine antidarwinistische Moral in seinem eigenen Denksystem – eine Ethik, die nicht nur beschreibt, sondern Normen vorschreibt?

Wuketits ist einmal wieder recht offen. All die Tugenden moralischen Handelns sind nicht vorzuschreiben, da sie ja keine objektiven Normen darstellen. Was bleibt, ist eine vage Hoffnung, dass das Gute sich irgendwie durchsetzt: „Die einzige Hoffnung, die ein Mensch in Bezug auf die moralischen Fähigkeiten seiner Gattung haben kann, ist, dass sich diese Gefühle in einer Richtung entwickeln werden, die Kooperation, Altruismus, Hilfsbereitschaft fördert, Egoismus, Aggression, Gewalt jedoch minimiert…“ (Verdammt zur Unmoral?) Er kann in keiner Weise deutlich machen, warum man sich in diese Richtung entwickeln soll.

Ähnliches wäre zu Peter Singer zu sagen. Ihm liegen die Armen der Welt am Herzen; er ruft in The Life You Can Save dazu auf, durch möglichst „effektiven Altruismus“ konkrete Leben zu retten; er selbst lebt einfach und spendet viel. Doch er kann nicht deutlich machen, warum ich um der 19.000 Kinder willen, die täglich an Hunger oder vermeidbaren Krankheiten sterben, auf „unnötige Dinge“ verzichten muss. Auch ihm bleibt nur die Hoffnung, dass möglichst viele ihren natürlichen altruistischen Impulsen folgen.

Es geht hier natürlich um den„naturalistischen Fehlschluss“, den Philosophen wie David Hume oder G.E. Moore (von dem der Begriff stammt) dargestellt haben. Er besagt, dass vom Sein, irgendwelchen Zuständen oder Tatsachen, kein Weg zum Sollen, zu einer moralischen Verpflichtung, führt. Von beschreibenden Sätzen sind keine vorschreibenden Sätze logisch ableitbar. Aus dem Faktum, dass Sport gesund ist, folgt nicht die Forderung, dass wir Sport treiben sollen. Moore selbst hatte dies auch im Hinblick auf die Evolution betont. Die „Betrachtung des Weges der Evolution“ reicht nicht aus, „um uns über den Weg zu belehren, den wir einschlagen sollen“ (Principia ethica). Aus der Tatsache, dass sich der Altruismus als vorteilhaft erwiesen hat, folgt nicht die moralische Pflicht, auch selbstlos zu handeln.

C.S. Lewis drückte dies so aus: „Aus Sätzen über bloße Tatsachen lässt sich niemals eine praktische Folgerung ziehen. ‘Das wird die Gesellschaft erhalten’ kann nicht zum Schluss führen: ‘Tue es’, außer über den vermittelnden Satz: die Gesellschaft soll erhalten bleiben. Und: ‘Dies wird dich dein Leben kosten’ kann nicht direkt zum Satz führen: Tue es nicht… Der Neuerer versucht, aus Voraussetzungen im Indikativ eine Schlussfolgerung im Imperativ zu ziehen; und mag er es in alle Ewigkeit versuchen, es wird ihm nicht gelingen, denn die Sache ist an sich unmöglich.“ (Die Abschaffung des Menschen)

Dawkins, Harris, Sagan und wie sie alle heißen dreschen mit Vorliebe auf die biblischen Moralmaßstäbe ein. Ach wie hinterwäldlerisch! Man sitzt auf einem sehr hohen moralischen Ross. Doch der Kaiser steht tatsächlich ohne Kleider da. Den eigenen Maßstäben fehlt das Fundament; die Brücke von der Deskription zur Präskription, von der Beschreibung zur Vorschrift, wird nicht genommen. Denn dafür müsste irgendwie auf Offenbarung zurückgegriffen werden. Kein Wunder, dass sich die Ethik heute von ihrer eigentlich Aufgabe, nämlich durch Normenvorgabe Orientierung zu geben, weitgehend verabschiedet hat. Annemarie Pieper in Einführung in die philosophische Ethik (FU Hagen, Studienmaterial): „Die Ethik sagt nicht, was das Gute ist, sondern wie man dazu kommt, etwas als gut zu beurteilen… Die Ethik betreibt nicht selber Moral, sondern redet über Moral… Die Ethik fällt also nicht moralische Urteile über einzelne Handlungen, sondern analysiert auf einer Meta-Ebene die Art und Weise, wie moralische Urteile über Handlungen beschaffen sind.“

„Machwerk eines stümperhaften oder eines grausam gleichgültigen Gottes“ – Darwins Theodizee

Auch im Hinblick auf die Ethik ist einer der wichtigsten Lehrpunkte des christlichen Glaubens die Vorsehung Gottes, die Lehre, „dass der liebe Gott, nachdem er alle Dinge geschaffen hatte, sie keineswegs der Willkür des Zufalls oder Schicksals überlassen hat, sondern das er selbst… sie immerwährend so regiert und lenkt, dass nichts in dieser Welt ohne seinen Willen und seine Anordnung geschieht…“ (Niederländisches Bekenntnis, Art. 13). Gott hat also nicht nur einmal die Welt erschaffen und sie dann sich selbst überlassen. Wie Calvin in Inst. I,16 betont, ist Gott immer noch eindeutig am Wirken; er ist Auge und Hand; er hält das Ruder und lenkt alle Ereignisse. „Nichts ist heilsamer, als diese Lehre zu kennen“, so der Reformator (Inst. I,17,3).

Für die Ethik ist dies aus drei Gründen von geradezu überragender Wichtigkeit. Erstens wird so der Raum unserer Verantwortung begrenzt. Die Weltregierung ist Gottes Sache; vieles übersteigt hier unsere Fassungskraft, das verborgene Handeln Gottes bleibt meist Geheimnis. Wir sollen dieses Handeln Gottes „demütig und ehrfurchtsvoll verehren“, so das Niederländische Bekenntnis. Normen für unser Handeln sind daraus nicht abzuleiten; diese sind vor allem in Gottes Wort zu finden. Noch einmal das Bekenntnis aus der Feder von Guy de Brès: „Denn es genügt uns, dass wir Schüler Christi sein können und das lernen, was er uns in seinem Wort selbst lehrt, und wollen nicht dieser Grenze überschreiten.“

Atheisten besitzen solch eine Grenze nicht. Nach ihnen haben die Menschen allein die volle Verantwortung für die Optimierung der Welt (s. dazu Robert Spaemanns „Die schlechte Lehre vom guten Zweck“, FAZ, 23.10.1999). Im schlimmsten Fall führt dies zum Leninschen „Uns ist alles erlaubt“. Die sanfte Version der Entgrenzung der Ethik ist oft bei Singer zu sehen: jeder einzelne ist direkt und voll verantwortlich für z.B. die 19.000 Kinder, die täglich zu viel sterben. Auf alles „Unnötige“ muss daher verzichtet werden, also auch auf den Urlaub in den Alpen, die neue Nikon und den Besuch in der Oper. Ganz so direkt spricht es Singer nicht aus, aber bei ihm, dem Atheisten, gibt es keinerlei Kriterien, die unsere Verantwortung wirklich eingrenzen. Alles kommt bei ihm sehr moralisch anspruchsvoll daher, doch die Überforderung des Einzelnen und ein schlechtes Gewissen sind die unvermeidlichen Folgen.

Damit zusammen hängt ein zweiter Aspekt: Das Schicksal der Welt ist in Gottes Hand. Er weiß, was letzten Endes für alle das Beste ist und macht aus allem auch das Beste. Denn Gott kann alle Folgen abschätzen. Der Mensch dagegen ist nur recht unvollkommen fähig, die Ergebnisse seines Handelns vorherzusehen, ganz zu schweigen von den vielen Wechselwirkungen und allen langfristigen Auswirkungen. Natürlich soll auch der Christ über sein Tun nachdenken, in Situationen abwägen und, soweit möglich, die Folgen von Handlungen bedenken. Letztlich sind wir aber nur verantwortlich für das Befolgen konkreter Gebote; die Zukunft mit all dem, was unser Tun bewirkt, wird letztlich von Gott kontrolliert. Der Atheist dagegen ist gleichsam zur Anmaßung des Wissens verdammt; er muss so tun, als ob er alle Folgen kennt.  Der Christ ruht in der Erkenntnis, dass Gott „alle Lasten, die er mir in diesem Leben auferlegt, mir zum Besten wendet. Er kann es tun als ein allmächtiger Gott und will es auch tun als ein getreuer Vater“ (Heidelberger Katechismus, Fr. 26).

Drittens ist die existentielle Dimension, der persönliche Nutzen, zu nennen. „Diese Lehre bringt uns einen unermesslichen Trost. Denn aus ihr lernen wir, dass uns nichts zufällig trifft, sondern alles nach dem Willen unseres himmlischen Vaters… Hierbei beruhigen wir uns völlig, indem wir wissen, dass Gott die Teufel und alle unsere Feinde gleich wie mit Zügeln im Zaum hält…“, so de Brès. Ähnlich spricht auch der Heidelberger Katechismus in Fr. 28   von Geduld und Vertrauen. Calvin nennt in Inst. I,17,7–8  Dankbarkeit bei Erfolg und Segen, Geduld im Leiden. Gewissheit, Hoffnung, Vertrauen, Trost und Ruhe – das ist die Frucht des Glaubens an die Vorsehung. Noch einmal Calvin: Wenn dem Christen „das Licht der göttlichen Vorsehung“ aufgeht, wird er „von aller Sorge befreit und erlöst“, denn nun vertraut er sich mit Gewissheit Gott an. „Das ist eben der Trost, dass er erkennt: der himmlische Vater hält mit seiner Macht alles zusammen, regiert alles im seinem Befehl und Wink, ordnet alles mit seiner Weisheit, so dass nichts vorfällt ohne seine Zustimmung.“ (Inst. I, 17,11)

Diese Skizze soll nur eins zeigen: Ohne die Vorsehung Gottes ist christliche Ethik unmöglich. Doch es ist gerade die Vorsehung, die mit einem darwinistischen Bild des Lebens in der Welt nicht vereinbar ist. Schöpfung und Evolution – unter dieser Überschrift wird meist die Debatte zwischen den Naturwissenschaften und dem christlichen Glauben zusammengefasst. Natürlich ist dies nicht falsch. Es liegt aber auf der Hand, dass hier Vorstellungen denkbar sind, die eine Schöpfung durch Gott und die Evolutionslehre verbinden: Gott hat die Schöpfung in Gang gesetzt, die sich dann nach den Evolutionsmechanismen gleichsam entfaltet. Evolution und Vorsehung – dies bringt den eigentlichen Konflikt besser auf den Punkt; und auch Darwin selbst hat genau hier den Kern des Problems gesehen. Darwin hat ja keineswegs als Atheist seine Forschungen begonnen; aber er hat recht bald den Glauben an die Vorsehung Gottes verloren (wenn er ihn denn je besessen hatte).

Der Biologe Asa Gray wie auch der Geologe Charles Lyell glaubten, dass Gott den Prozess der Evolution in gütiger Weise gesteuert hat. Darwin widersprach seinem Freund Gray in einem Brief 1860: „Ich gestehe, dass ich Beweise von Planung und Wohlwollen um uns herum nicht so klar sehen kann wie andere und nicht so klar, wie ich es gerne sehen würde. Mir scheint, es gibt zu viel Elend in der Welt. Ich kann mich nicht recht damit befreunden, dass ein gütiger und allmächtiger Gott bewusst die Ichneumoniden mit der ausdrücklichen Absicht erzeugt haben soll, dass sie sich in den lebenden Körpern von Raupen ernähren sollen“ (kursiv HL). Auch am Ende von The Origin of Species beschrieb Darwin erstaunlich grausame Phänomene der Natur.

Darwin konnte nicht mehr glauben, so Philip Kitcher in Mit Darwin leben, „dass die Welt von einem Wesen geschaffen wurde, das einen großen Plan verfolgt; von einem Wesen, das sich um seine Geschöpfe kümmert; dem nicht entgeht, wenn auch nur der kleinste Spatz vom Dach fällt; und dem in ganz besonderem Maße die Menschheit am Herzen liegt.“ Kitcher, Wissenschaftler an der Columbia University in New York: „Viele Menschen sind beunruhigt vom Leid der Menschen und anderer fühlender Lebewesen und fragen sich, wie dieses Leid mit den Plänen eines allmächtigen und liebenden Gottes vereinbar sei. Darwins Darstellung der Geschichte des Lebens erweitert den Maßstab solchen Leidens noch beträchtlich. Millionen Jahre hindurch erfahren Milliarden von Tieren gewaltiges Leid, und zahlreiche Arten sterben vollständig aus…“

Bis dann endlich der Mensch erscheint. Doch wenn Gott die Evolution geplant hat (wie Gray und Lyell glaubten), dann hat „dieser Schöpfer eine aberwitzige Geschichte konstruiert“, dessen „Hauptereignis“, die Schaffung des Menschen, von einem „Vorspiel“ eingeleitet wurde, „das drei Milliarden Jahre währte und das oft grausame Leiden unzähliger fühlender Lebewesen umfasst“. Kitcher weiter (und er bringt hier auch Darwins Denken gut zum Ausdruck): „Betrachtet man die Millionen Jahre, in denen fühlende Lebewesen gelitten haben und viele von ihnen eines langen, qualvollen Todes gestorben sind, klingt es doch recht schal, wenn man behauptet, das alles sei notwendig gewesen, damit ganz am Ende der Geschichte unsere Spezies das angeblich transzendente Gut freien, tugendhaften Handelns zu erwerben vermag.“ Fazit: Das Handeln eines wirklich gütigen Gottes ist in der Welt nicht zu erkennen. „All das hat nichts Freundliches und nichts von Vorsehung. Dafür erscheint es atemberaubend verschwenderisch und ineffizient.“ Ja die Welt erscheint sogar als „Machwerk eines stümperhaften oder eines grausam gleichgültigen Gottes“.

Wie kam Darwin zu dieser Auffassung? Cornelius Hunter hat die theologischen Hintergründe in Darwin’s God, Evolution and the Problem of Evil und im Artikel „Evolution and Theodicy“ untersucht. Er weist darauf hin, dass Darwin schon auf seiner berühmten Reise mit der „Beagle“ John Miltons Paradise Lost las. Das Werk des Puritaners war damals in England sehr beliebt. Milton ging es in dem Poem um eine Lösung des Problems des Bösen und der Rechtfertigung Gottes. Dies gelang jedoch nur um den Preis, dass Gott in Distanz zur Schöpfung und dem moralischen Bösen (im Handeln von Menschen) in ihr rückte. Darwin, so Hunter, ging nur einen Schritt weiter und rückte Gott auch weg vom Bösen in der Natur.

Darwin, der ja auch Theologie studiert hatte, entwickelte sein Denken auf dem Hintergrund eines bestimmten theologischen Klimas. Einmal stand, wie gesagt, Gott der Welt mit einer gewisses Passivität gegenüber (und der Deismus des 17. und 18. Jhdts. stellte ja nur eine extreme Ausformung dieser breiten Tendenz dar); darüber hinaus „war zu Darwins Zeiten die populäre Vorstellung von Gott ein sehr angenehme. Positive göttliche Eigenschaften wie Weisheit und Güte wurden betont, und dies sogar bis zu dem Punkt, dass Gottes Zorn und seine Lenkung des Bösen noch nicht einmal in Betracht gezogen wurden“, so Hunter.

Er weist auf Adam Sedgwick hin, damals einer der bekanntesten und angesehensten Wissenschaftler in England, der ganz anders als Darwin dachte und die Welt ganz anders sah: „Sedgwick sprach oft von Gottes Macht, Weisheit und Güte. Sein wichtigster Punkt der Anwendung war, wie sich diese positiven Eigenschaften in der Schöpfung manifestieren. „Der Erforscher der Natur findet die natürlich Welt voll von Schönheit, Harmonie, Symmetrie und Ordnung  vor“, so Sedgwick. „Die Biologie war voll der schönen Formen und perfekten Mechanismen…  Und alles von Gottes wunderbaren Gesetzen angetrieben“. Bei Sedgwick gab es in der Natur nichts Überflüssiges, Grausames und Annomales. Wenn er die Bibel zitierte, so Hunter, dann vermied er ständig Stellen, die Gott und das Böse in Zusammenhang bringen. Ob Hiob oder Römer, überall ist ihm nur die Demonstration von Gottes Kraft und Macht, von Schönheit und Harmonie wichtig.

Hunters Schluss: „Sedgwick und seine Generation hatten ein recht idyllisches Bild von der natürlichen Welt. Was sollte ein junger Forscher wie Darwin denken, wenn er dann Parasiten fand, die ihren Wirt langsam martern? Die Natur zeigte sich weniger nett als Sedgwick vorhergesagt hatte, und Darwin suchte nach einer Erklärung. Seine Lösung war die Distanzierung Gottes von der Schöpfung durch das Zwischenschalten eines natürlichen Gesetzes – sein Gesetz der natürlichen Selektion… Darwins Evolutionstheorie war in vieler Hinsicht eine Lösung für das Problem des natürlichen Bösen – eine Theodizee.“

Auch R. Junker und H. Ullrich weisen in Darwins Rätsel – Schöpfung ohne Schöpfer? auf diese Theologie hin. Darwin studierte den um 1800 sehr einflussreichen Naturforscher und nicht weniger wichtigen anglikanischen Theologen William Paley. Sie zitieren aus der Darwin-Biographie von Desmond und Morris, die über Darwins Lektüre von Paleys Natural Theology (1802) schreiben: Dies Buch „enthielt eine suggestive Schilderung des Lebens, ein Leben voll Güte und Freude. ‘Dies ist eine glückliche Welt, erfüllt von Daseinslust’, schwärmte Paley. ‘An einem Frühlingsmittag oder einem Sommerabend erblicke ich, wo immer ich die Augen hinwende, Myriaden von glücklichen Geschöpfen’.“ Junker und Ullrich gegen Ende ihre Buches: „Darwin lernte von Paley nur die Sonnenseite der Schöpfung kennen. Ein Mangel, der Folgen haben sollte. Denn seine Naturforschung zeigte ihm eindrücklich ganz andere Seiten der Schöpfung: grausame und gemeine.“

Spirituelles oder konfessionelles Christentum

Evolution und gewisse Ausprägungen des Christentums sind harmonisierbar (Teilhard de Chardin ist sicher das bekannteste Beispiel für den Versuch solch einer Integration). Und umgekehrt gilt, so Kitcher in Mit Darwin leben, „dass das darwinistische Bild des Lebens sich mit einer bestimmten Form von Religion, die an göttliche Vorsehung glaubt, nicht vereinbaren lässt.“ Um den „Glauben an eine göttliche Vorsehung zu retten“, müsste man „bestimmte Teile der Lehre vom Übernatürlichen“ bewahren, was nach Kitcher nicht möglich ist. Sein Fazit: „Wenn wir den Glauben an das Übernatürliche überwinden“, dann können wir endlich „mit Darwin leben“.

Als Ausweg bietet sich eine „kosmopolitische Version eines spirituellen Glaubens“ an; der Übergang von Religion zu Religiösität. Kitcher (selbst nicht gläubig in irgendeinem Sinne) empfiehlt: „Es wäre notwendig, von der Religion des Übernatürlichen zur spirituellen Religion überzugehen“. Es ginge in Religion nicht um Lehre, Dogmen, sondern um psychologische Zustände, Erwartungen, Sehnsüchte, Emotionen und ethische Haltungen. Wir brauchen, so Kitcher, das Übernatürliche nicht unbedingt. Wir können und sollen Religion (womit er also Religiösität meint) bewahren, denn wir brauchen sie, weil sie bestimmte Bedürfnisse erfüllt. Religiöse Lehren müssen nicht wahr sein; wichtig ist, dass sie uns inspirieren, Emotionen auslösen usw.: „Für spirituelle Christen sind die in der Hl. Schrift erzählten Geschichten nicht deshalb bedeutsam, weil sie buchstäblich wahr wären, sondern weil sie uns anleiten, uns selbst zu verstehen und uns selbst wie auch unser Denken und Tun gegenüber anderen Menschen zu verbessern.“

Kitcher lässt aber auch keinen Zweifel daran, was dies kostet: der Glauben an „buchstäbliche Wahrheit“ muss verschwinden; göttliche Vorsehung, das Übernatürliche muss raus; die Bibel ist nur reine Mythensammlung. „Spirituelle Christen“ lassen sich inspirieren, auch von der Bibel und den Lehren Jesus, seinem Tod am Kreuz. All diese Ereignisse sind natürlich nicht buchstäblich wahr, aber sie leiten uns an „das Tun gegenüber anderen Menschen zu verbessern“. Man mache sich jedoch nichts vor: in so einem spiritualisierten Christentum gibt es keinerlei Quelle der Autorität außerhalb des Menschen bzw. der Menschen; Gott als oberste Norm ist Illusion. Ergebnis kann nur eine Ethik der vagen Hoffnung auf Besserung à la Dawkins, Ruse und Singer sein, nur mit spirituellem Anstrich.

Die einzige Alternative sehe ich in einem robusten konfessionellen und lebendigen Christentum. Die große Tragik war doch, dass Darwin solch einem Christentum wohl nie oder nicht richtig begegnete (ihn prägten Unitarier und eine weitgehend erstarrte und leblose anglikanische Kirche seiner Zeit). Hätte er einmal neben Paley auch Calvin gelesen! Dieser sah natürlich auch Gottes Größe und Majestät in der Schöpfung widergespiegelt; doch er schwärmte nicht von einer „glücklichen Welt“: „Unzählig sind die Übel, die unser menschliches Leben belagern, stets lauert in ihnen der Tod“, ja „der Mensch… führt sein Lebens sozusagen stets verwoben mit dem Tod“ (Inst. I,17,10). Auf dem Hintergrund solcher Einsichten hätte Darwin seine Beobachtungen vielleicht besser einordnen können.

Es sind gerade die protestantischen Bekenntnisse, die so wichtige Fundamente für eine robuste und tragfähige Ethik liefern. Im heutigen Gemeindeleben kommt die Lehre der Vorsehung kaum vor; dieser Stolperstein des Darwinismus hat sich schon abgewetzt. Eine Vorsehung, die Gutes wie Böses umfasst – diese Tradition, wie sie im Heidelberger Katechismus gut zur Sprache kommt, war Darwin leider fremd. Dort heißt es in Fr. 27, dass   die Vorsehung die „allmächtige und gegenwärtige Kraft Gottes“ ist, mit der er die Schöpfung regiert und lenkt, so dass „Laub und Gras, Regen und Dürre, fruchtbare und unfruchtbare Jahre… Gesundheit und Krankheit, Reichtum und Armut… uns nicht durch Zufall, sondern aus seiner väterlichen Hand zukommt.“

Der französische Autor Frédéric Beigbéder nüchtern: „Das grundlegende Problem unserer Zeit ist, dass der Mensch nicht mehr weiß, wie er leben soll.“ So auch der katholische Theologe Peter Kreeft: „Eins dürfte so gut wie allen klar sein: der heutige Mensch hat sich moralisch verirrt“. Und John Stott (1921–2011) schreibt in seinem Kommentar zu den Briefen an die Thessalonicher: „Eine der größten Schwächen der heutigen evangelikalen Christenheit ist unsere relative Vernachlässigung der christlichen Ethik“. Ein wichtiger Grund für diese allgemeine Verunsicherung ist das Paradigma der Evolution.  Um diese Krise zu überwinden, müssen wir es wagen, aus dem Schatten Darwins zu treten.

Bild o.: Darwin-Skulptur im Natural History Museum in London.