Bisonalarm!
Vor Jahrhunderten waren sie noch in vielen Wäldern und Gebirgen Europas anzutreffen, heute muss man meist in Wildgehege, um ihn zu Gesicht zu bekommen: den Wisent oder Europäischen Bison (Bison bonasus). Fast ausgestorben wurde das große Rind nach dem II Weltkrieg mehrfach in Zentral- und Osteuropa wiederangesiedelt. Erst im vergangenen Jahr wurde eine kleine Herde erstmals in Deutschland, im Kreis Siegen-Wittgenstein, ausgewildert.
In Litauen ist das Wildgehege bei Krekenava im Kreis Panevėžys Besuchermagnet, denn rund zwei Dutzend Tieren (lit. stumbras) kommt man dort ganz nah. Etwa vierzig Tiere leben aber auch hier in freier Wildbahn. Den Landwirten zertrampeln sie schon mal die Äcker, wofür aber Entschädigungen gezahlt werden. Menschen bekommen diesen Bison kaum je zu sehen, da sie recht scheu sind und sich meist in den tiefen Wäldern aufhalten. Gerade einzelne Jungbullen machen sich aber auch schon mal auf Spritztouren, die einhundert und mehr Kilometer weit reichen können.
Seit einigen Jahren ist nun Verwandtschaft zu Besuch: Roland und Audra Schelenz züchten auf einem Gut bei Kelmė, eine knappe Autostunden südlich von Šiauliai, den Amerikanischen Bison (Bison bison). ‘Der’ Bison ist deutlich größer und schwerer als der europäische Cousin und wird nun schon an nicht wenigen Orten für die Fleischverwertung aufgezogen. Über einhundert Tiere weiden auf der Bisonranch des deutsch-litauischen Paares nahe der Hauptstraße Šiauliai–Tauragė (Teil der Magistrale Riga–Kaliningrad). Im Vorbeifahren sieht man die massigen Leiber noch auf große Entfernung.
Das Ehepaar hat die Bisonzucht professionell aufzogen und erhält einen weiteren Hof in Deutschland. Das Fleisch wird international vertrieben; auf der Ranch befindet sich ein großer „Saloon“, der um große Besuchergruppen und Feiergesellschaften wirbt. Für den Neugierigen von der Straße gibt es leider keinerlei Anlaufpunkt. Der Herde selbst kann man sich nicht nähern. Und mal eben Bisonfleisch kosten oder mitnehmen ist auch nicht möglich.
Zu einer unfreiwilligen Begegnung mit den bis zu einer Tonne schweren Tieren hätte es am vergangenen Mittwoch auf der E77 kommen können – etwa einhundert Tiere waren in der Nacht ausgebüchst. An einer Stelle des mehrere Hektar großen Weidegeländes durchbrachen die Tiere wohl den Zaun und machten sich aus dem Staub – zum Glück nicht gen Straße, sondern Richtung Westen ins leere Hinterland.
Der Landkreis berief sein Katastrophenkomitee ein – Bisonalarm! Polizisten patrouillierten, und die Nachbarn gingen mit Jeeps auf Bisonsuche. Ausgerechnet an dem Tag waren die Schelenz nicht im Land, Audras anwesende Mutter musste die Notlage managen. Einige Tiere kamen nach dem Ausflug selbst wieder ‘nach Hause’, um die achtzig konnten bald gefunden und zurückgetrieben werden. Einige Kühe mit Kälbern galten noch eine Weile als vermisst, ihr Ertrinken im Moor wurde schon vermutet. Bis Freitag kamen aber alle Tiere zurück.
Menschen kamen durch den Ausbruch der Rinder nicht zu Schaden, ein Landwirt hat jedoch einen verwüsteten Acker zu beklagen. Und nun geht der Dauerkonflikt zwischen den Bisonzüchtern und der örtlichen Verwaltung und anderen Behörden in die nächste Runde. Audra Schelenz will nicht glauben, dass die Bisons selbst den Zaun umgestoßen haben. Die Polizei sieht jedoch keine Anzeichen von böswilliger Sabotage. Andere halten den Zaun für nicht sicher genug. Für weitere Diskussionen ist gesorgt…