Hauptsache offen, innovativ und undogmatisch?

Hauptsache offen, innovativ und undogmatisch?

Alles auf den Prüfstand!?

Kirchen müssen heute, so scheint es, in aller erster Linie innovativ sein. Im Mai hieß eine Schlagzeile bei „Idea“: „Marketingberater macht Kirche Mut zum ständigen Wandel“. Neuerung und Wandel – das klingt dynamisch, und alles andere nach zurückgeblieben, verstaubt, Anschluß verpaßt.

Viele blasen in dies Horn, allen voran Management-Guru Gary Hamel aus den USA. Vor einigen Jahren sprach er auf dem Willow Creek Leadership Summit zu dem Thema. Die wichtigste Frage sei, ob die Kirche sich auch so schnell verändert wie die Welt um uns herum. Christen sollten Avantgarde und nicht Nachzügler sein. Organisationen verlieren, so das Mitglied in John Ortbergs presbyterianischer Gemeinde, ihre Relevanz, wenn die Rate des internen Wandels hinter dem äußeren Wandel in der Welt zurückbleibt. Die Lehre von Top-Unternehmen, denen es nicht so gut geht: „they got stuck in the mud“, sie bleiben im Dreck stecken, d.h. veränderten sich nicht mehr genug.

Unser Problem als Kirchen sei nicht der Relativismus, Atheismus, Skeptizismus usw. um uns herum, sondern „institutional inertia“ –  Trägheit als Organisation. Daher gelte es, meint Hamel, die Kirche für ein neues Zeitalter neu zu erfinden. Wir müssen der „Anziehungskraft der Vergangenheit entkommen“ und „etwas von dem Überkommendem opfern“, und das heißt konkret kritisch zu fragen, welche Programme in den vergangenen „3–5 Jahren“ nicht verändert wurden – alles müsse auf den Prüfstand. Sicher, dann doch nicht wieder absolut alles. Gott, Jesus, das Evangelium, Gottes Wort usw. bleiben konstant. Das war’s aber auch.

Dass Innovation ein Stück weit unvermeidlich und notwendig ist, ist christliches Allgemeingut. Protestanten hatten schon immer erkannt, dass man in gewissem Sinne mit der Zeit gehen muss, will man denn das alte Evangelium in neue gesellschafltiche Umstände hinein sprechen. Hamel vergißt jedoch, dass Innovation in der Kirche deutlich anders aussieht als in der Wirtschaft, von der er herkommt. Bei ihm gibt es nur „Organisationen“, die angeblich alle nach den genau gleichen Prinzipien arbeiten. Punkt. Dass die Kirche an sich einen deutlich konservativeren Zug hat – das Evangelium soll treu weitergeben und bewahrt werden – gerät ganz aus dem Blickfeld.

Willow-Fans entgegnen in der Regel und fast schon reflexhaft, dass man doch von der Wirtschaft und dem Management lernen könne und solle. Das stimmt, aber dies ist nun gerade nicht der wesentliche Punkt. Lernen kann man von vielem und vielen und so gut wie überall. Hamel hat jedoch offensichtlich überhaupt nicht begriffen, dass in der Wirtschaft und nur dort Innovation gleichsam zuhause ist. Denn wer nicht immer neue Technologien und Produkte entwirft und über ganze neue Vertriebswege nachdenkt und auch dazu bereit ist, alles auf den Kopf zu stellen, der ist schnell vom Markt verschwunden. Natürlich gibt es auch in einem Unternehmen nicht ständigen Wandel, aber tatsächlich muss ein Besitzer und Manager zu mitunter radikalen Veränderung bereit sein – und zwar immer.

Im Staat ist dieser Art von Bereitschaft zu radikaler Innovation nicht gefordert; schließlich erwarten wir zurecht von seinen Institutionen vor allem Sicherheit und Stabilität – bloß kein ständiger Wandel von Gesetzen und Vorschriften! Ähnliches gilt für die Familie: Gewiss kann auch in ihr z.B. mit neuen Erziehungsmethoden ‘experimentiert’ werden, aber die Tatsache, dass man so etwas lieber in Anführungsstrichen schreibt, zeigt ja: in der Familie lieber nicht alles auf den Kopf stellen…

Innovationsgeist ist nicht zu verteufeln, aber er ist eben ein anderer als in der Wirtschaft. Ecclesia reformata semper reformandum est – die erneuerte Kirche muss sich immer erneuern, so das protestantische Motto. Von Einbetonieren kann keine Rede sein. Aber diese Erneuerung geschieht im Spiegel und auf Grund der Maßstäbe des Wortes Gottes. Dies ist eine Art Partner oder auch Gegengewicht und läßt solch radikale Wandlungen wie in der Wirtschaft nicht zu.

Hamel kann, so scheint es, nichts mit den Unterschieden der Mandate Gottes anfangen. Und seinem Drang nach radikaler Innovation stünden natürlich auch Jahrhunderte alte Dokumente wie z.B. der Heidelberger Katechismus oder gar das Athanasische Bekenntnis im Weg. Dem penetranten Ruf nach Innovation fallen Bekenntnisse, auch wenn sie sich über viele Generationen bewährt haben, nur zu leicht zum Opfer. Wer als Kirche auf der Höhe der Zeit sein will, wie es allen Ortens gefordert wird, der wird sicher nicht zur Dordrechter Lehrregel, fast 400 Jahre alt, greifen, um das Heilshandeln Gottes besser zu begreifen. Leider. „Everything must change“, so der hochtrabende Titel eines Buches von Brian McLaren. Ja ja, irgendwie stimmt dies schon. Doch die erste christliche Antwort war schon immer: Fangen wir mit dem ständigen Wandel am besten bei uns selbst an.

Offen ist gut!?

Neben Innovation entwickelt sich Offenheit zu einem neuen Kultwort. Beide Begriffe hängen natürlich zusammen. Nur wer offen ist, ist auch innovativ. Einer der evangelikalen Propheten der Offenheit ist Rundfunkjournalist Andreas Malessa. Auf dem Freundestag des Geistlichen Rüstzentrums Krelingen im September des vergangenen Jahres meinte der Baptistenpastor: „Christliche Gemeinden sollten sich mehr für Außenstehende öffnen, ohne sie sofort zu vereinnahmen.“ Die Gemeinde Jesu Christi sei kein „Brauchtumsverein“ oder „religiöser Interessenclub“, sondern „Familie Gottes“ und „Dienstgemeinschaft für die Welt“. Alles irgendwie wahr, doch auch irgendwie diffus. Vor etwa 500 Besuchern fielen aber auch noch solche Sätze: Gemeinden sollten auch „postmoderne Patchwork-Religiöse“, Esoteriker, unverheiratete Paare oder Hilfsbedürftige bei sich willkommen heißen und ihnen dienen, ohne gleich eine „Einverständniserklärung zum Glauben“ von ihnen zu fordern.

Nun kommt man endgültig ins Stutzen. Moment mal, kann man tatsächlich zu einer Gemeinde gehören, ohne dass man glaubt und sich klar zum Glauben bekennt? Und ist das schon illegitimes Vereinnahmen? Sicher soll all diesen Menschen in gewisser Weise gedient werden, doch soll ich nun darauf achten, dass sich ein Esoteriker in einer Gemeinde auch wirklich wohlfühlt – und hinterfrage seine Weltanschauung tunlichst nicht? Oder darf man das gar nicht mehr, weil die Gemeinde ja offen für den Esoteriker bleiben soll?

Auch auf dem Willow-Jugendplus-Kongress in Wetzlar wurde im vergangenen Jahr die Offenheit großgeschrieben. Schon im Willow Magazin (2012-3) meinte Torsten Hebel unter „Yes, we are open!“:

„Offen ist gut! Eine Gemeinde die sich den Ruf einer ‘offenen Gemeinde’ erarbeitet hat, ist wahrscheinlich auch eine wachsende Gemeinde. Denn sie erreicht Menschen, eben weil sie ‘offen’ ist. Diese Offenheit war eines der markantesten Kennzeichen der ersten Christen. In der Apostelgeschichte lesen wir, dass die erste Gemeinde ‘Gunst beim ganzen Volk hatte’. Eine schönere Beschreibung für ‘offene Christen’ habe ich noch nie gelesen.“

Offenheit kann gut sein (z.B. die Offenheit für Kritik, Ermahnung usw.), muss es aber nicht. Hebel hat natürlich Recht, dass die ersten Christen keine geschlossenen Gesellschaften bildeten, offen für Mitglieder aus allen Gruppen der Bevölkerung waren. Doch dummerweise bleibt unerwähnt, dass das markanteste Kennzeichen der antiken Religionen der Römer und Griechen Offenheit war; sie waren ohne Probleme zu ergänzen durch neue Gottheiten, und sei es Jesus; sie waren tolerant, synkretistisch, offen – das Christentum stellte ein ungewohnt geschlossenes Lehrsystem mit Absolutheitsanspruchs dar. Und auch das war einer der Gründe für seinen Erfolg. Hebel fährt fort:

„Ich glaube ein Teil des Problems ist, dass unsere christliche ‘Festplatte’ in den letzten 2.000 Jahren mit einer Unmenge von teils falschen Daten bespielt wurde. Einiges wurde zwischenzeitlich wieder gelöscht, anderes hinzugefügt, alles in allem aber ist das ‘Christentum’ zu einem unübersichtlichen Gedankenkomplex geworden, mit ausgesprochenen oder unausgesprochenen Dogmen die, bei genauem Hinsehen, nicht viel gemein haben mit dem, was die ‘ersten Christen’ geglaubt und, vor allem, wofür sie gelebt haben. Es ist an der Zeit, diese Festplatte zu defragmentieren, Dinge wieder einfacher zu begreifen und die erlösende Kraft des Evangeliums wieder zu öffnen und frei zu setzen. Darum geht es beim Jugendplus­Kongress 2013!“

Sicherlich gab es viele dieser „falschen Daten“, denn gegen Irrlehren kämpfte die Kirche in allen Jahrhunderten. Je nach Problem- und Fragestellung ist es auch schon mal „unübersichtlich“ geworden, man denke nur an die Trinitäts- oder Abendmahlstheologie. Doch was soll der doch wirklich naive Ruf zurück zu den ersten Christen und ihrer Einfachheit? Hebel wischt die Theologie- und Dogmengeschichte mal eben so vom Tisch, obwohl sie unvermeidlich war, um die Glaubensaussagen auf dem Hintergrund von Einwänden, Irrlehren und dem Wandel der Zeit neu und immer wieder klar zu formulieren. Wie können nicht einfach bei den ersten Christen stehen bleiben oder gar zu ihnen zurück!

Das Evangelium soll so wieder freigesetzt werden, doch ich glaube, der Effekt wird ein anderer sein. Dieser Ansatz von „Defragmentierung“ wird uns eher gen Abgrund führen. Denn das Beste dieser 2000 Jahre wird gar nicht gesehen; die Bekenntnisse, die gepaart mit der biblischen Autorität den einzigen Wall gegen ein sich selbst auflösendes – weil sich eben sehr ‘offen’ gebendes – Christentum bilden, werden nicht zur Kenntnis genommen.

Die Sehnsucht nach Einfachheit führt dann zu Werten und Haltungen, wie sie Tony Jones lobt: „openness, nonjudgemental, wherever you are on the journey, inclusive, desire for inclusion“ (The New Christians). Wohin dieses Streben nach Offenheit und Miteinbeziehen in ethischen Fragen führen wird, dürfte klar sein.

Erfahrungen statt Dogmen!?

Jede theologische Ausbildungsstätte bietet Kurse in Dogmatik oder Glaubenslehre an. Doch die Polemik gegen Dogmen und Dogmatisches könnte oft nicht größer sein – aus Mund und Feder von Theologen. Offen verworfen werden Dogmen und Lehren nur selten; sie werden zur Seite und nach hinten geschoben, der Erfahrung nachgeordnet. Einige Beispiele.

Burkhard Weitz, Redakteur beim wichtigen evangelischen Journal „chrismon“, schreibt dort zu der Frage „Was muss man wissen, um zu glauben?“ (April 2012): „Die ersten Christen kamen ohne ­religiöses Wissen aus, ohne komplizierte Lehren, ohne lange Bekenntnisse. Sie folgten dem Beispiel Jesu. Glauben hieß für sie, in Jesu Liebe beständig zu bleiben… Biblischer Glaube richtet sich nicht auf Lehrsätze oder Dogmen, die man sich merken oder für wahr halten kann.“

Hier wird auseinandergerissen, was zusammengehört, und nicht unterschieden, wo es dringend notwendig ist. Konkretes Nachfolgen und in der Liebe Bleiben wird dem „religiösen Wissen“ und „Lehrsätzen“ entgegengesetzt – als ob dies Gegensätze sein müssten! So recht glaubt auch Weitz nicht, was er schreibt, denn er führt selbst zwei „Lehrsätze“ an, die die ersten Christus bekannten und doch auch wussten: „dass Jesus der Chris­tus, also der Messias sei“ und dass er „als gnädiger Weltenrichter wiederkehren“ würde. Dies sind Doktrinen oder – wenn man so sich ausdrücken will – Dogmen.

Weitz definiert Glauben durchaus treffend als „Vertrauen“, was natürlich für Evangelische zentral ist. Aber er differenziert bei dieser äußerst wichtigen Fragen nicht. Es gibt natürlich auch bei vielen Menschen „religiöses Wissen“ und „komplizierte Lehre“ ohne Glauben. Aber das traditionelle evangelische Verständnis ist doch, dass das Vertrauen durchaus auf Kenntnis („wissen“) und Anerkenntnis („für wahr halten“) von Lehren ruht, also diese miteinschließt. Er unterscheidet also nicht zwischen totem Wissen und lebendigem Wissen.

Bei Peter Rollins sehen wir, wie die Dogmatik in falscher Weise ‘ethisiert’ und damit letztlich in der Ethik aufgelöst wird. Der aus Nordirland stammende, nun in den USA lebende wichtige Vertreter der „emerging church“ fordert in How (Not) to Speak of God den Übergang „vom Wissen [oder Erkenntnis, engl. knowledge] zu Liebe“. Rollins will Orthodoxie neu definieren: „‘richtiger Glaube’ wird zu ‘auf die richtige Art glauben’.“ Was glaubst du?, die Frage nach den Inhalten, wird zur Seite geschoben. Wie glaubst du? rückt bei ihm an die erste Stelle. Orthodox, also rechtgläubig, ist nach Rollins Vorstellung dann jemand, „der mit der Welt in der rechten Beziehung steht, nämlich in der Weise der Liebe“. Liebe bleibt bei ihm als einziges Prinzip der Ethik und der Erkenntnis Gottes übrig: „die einzige religiöse Erkenntnis, die irgendetwas wert ist, ist die Liebe“.

Tobias Faix aus Marburg rechnet sich ebenfalls der „emerging church“ und empfiehlt Rollins deutsche Bücher. In seiner Doktorarbeit schreibt er gegen Schluss unter Punkt 6.3 („Herausforderungen für die missionarische Praxis in Deutschland“, alles praktisch wortgleich auch in Würde Jesus bei IKEA einkaufen?): „Die in der Postmoderne aufgewachsenen Jugendlichen suchen aber nicht in erster Linie die richtige Lehre oder die absolute Wahrheit, sondern sie suchen echte Beziehungen und geschützte Räume.“ Sie müssen den „Versuch der Annahme“ erleben; dies sei „für Jugendliche wichtiger als das Glaubensbekenntnis des Jugendkreises oder der Gemeinde“. Entsprechend der Überschrift „Annahme statt Apologetik“: „Vertrauen baut sich nicht dadurch auf, dass ich meinen Glauben gegenüber dem Anderen verteidige, sondern indem ich auf ihn zugehe und einen gleichberechtigten Dialog aufbaue. Ziel ist es, den Dialog zu fördern und apologetische Bekenntnisse abbauen.“

Der folgende Punkt ist ebenfalls eindeutig überschrieben – „Erfahrungen statt Dogmen“:

„Eigene subjektive Erfahrungen sind für Jugendliche der größte Zugang zur Veränderung ihrer eigenen Gottesvorstellung. Wie in den Interviews gelesen, sind die meisten Jugendlichen unter bestimmten Bedingungen offen für eigene religiöse Erfahrungen. Diese Erfahrungen müssen nicht spektakulär sein, sondern geschehen im Alltag der Jugendlichen. Hier müssen Räume geschaffen werden, in denen diese Alltagsspiritualität die Freiheit zur Entfaltung bekommen kann. Themen wie Gebet, Heiliger Geist, Spiritualität oder Mystik müssen wieder mehr in den Mittelpunkt gerückt werden. Erfahrungstheologische Anleitungen aus der Bibel können miteinander erlebt werden, wie beispielsweise Abendmahl, Handauflegung, (biblische)Feste feiern. Alle Sinne der Jugendlichen sollen angesprochen werden, so dass eindrückliche Erlebnisse geschaffen werden, wie zum Beispiel beim Abendmahl: hören (auf die Einsetzungsworte, auf die Stimme Jesu), sehen (Brot, Wein als sichtbare Gegenwart Jesu, Abendmahlsgeschirr), fühlen (sich gegenseitig Brot und Wein geben und dann selbst in den Händen halten), riechen (der Duft von Brot und Wein) und schmecken (das Brot essen und den Wein trinken). Diese Erlebnisse stehen nicht im Widerspruch zur Theologie oder zu Dogmen und Bekenntnissen, sondern lassen sie in den Händen der Jugendlichen lebendig werden.“

In Reimagining Evangelism wendet sich Rick Richardson (Mitarbeiter von Inter Varsity in den USA) gegen das „alte Bild“ von Evangelisation, das den Evangelisten wie einen Verkäufer betrachtet, den es um Verkaufsabschlüsse geht – ‘kauf’ das Evangelium, d.h. nimm es an und werde Christ, und die Sache ist (im wesentlichen) gegessen. Richardson bevorzugt das Bild eines „Begleiters auf einer geistlichen Reise“. Nach dem alten Modell werden Linien gezogen: wer ist drin (d.h. Christ) und wer ist draußen; ein einmaliges Ereignis, die Bekehrung, steht im Mittelpunkt. In dem neuen Modell der Reise steht das Ziel im Zentrum. Die wichtigste Frage lautet hier, ob wir uns auf dieses Ziel, nämlich Christus, zubewegen, auf dem Weg zu ihm sind oder nicht; ob wir dem Herrn und seinen Spuren nachfolgen oder nicht. Richardson sieht Bekehrung eher als einen Prozess an. Für ihn ist die entscheidende Frage nicht „Gehörst du dazu?“, sondern „In welche Richtung gehst du?“

Natürlich ist Richardsons Kritik des „alten Bildes“ in vielen Fällen gerechtfertigt. Wenn die konkrete Nachfolge und Jüngerschaft vernachlässigt wird, wenn Menschen geradezu manipulativ mit psychologischen Mitteln zu einer Bekehrung gedrängt werden, wenn das Ereignis der Bekehrung überbewertet wird und man sich seiner ‘Verkaufsabschlüsse’ brüstet, dann müssen solche Fehlentwicklungen korrigiert werden.

Richardson sagt viel Richtiges, aber erst steht auch exemplarisch für die evangelikale Kehrtwende weg vom Dogmatischen. „Wir geben die Wahrheiten nicht auf “, so versichert er im Abschnitt „Story versus dogma“, „doch wir beginnen dort nicht“. Ganz wie Faix geht er von dieser Beobachtung aus: „Die Menschen heute sind viel mehr an der zu erfahrenden Wirklichkeit Gottes als an Dogmen und Lehren interessiert“. Evangelisieren ist für ihn hauptsächlich das Weitergeben von Erfahrungen der Realität Gottes: „Wann war Gott in deinem Leben am meisten wirklich für dich? Wann war deine Begegnung mit Jesus am einflussreichsten? Wann warst du mit der Realität der geistlichen Seite des Lebens am stärksten verbunden? Das ist die entscheidende Geschichte, die es mit anderen zu teilen gilt. Das ist die Geschichte, die für dich als Begleiter der geistlichen Reise von anderen am meisten relevant sein wird.“ Solche „Transformations-Geschichten“ sind die „mächtigste Gabe, die wir anderen auf ihrer geistlichen Reise zu Gott geben können“.

Die Superlative bei Richardson sind kein Zufall. Sie zeigen den mega-shift, der im Lager der Evangelikalen und konkret beim Thema Evangelisation stattgefunden hat. Die „Erfahrung der Liebe Gottes“ kommt zuerst; der Ruf zum Glauben ist eine Einladung, das Geschenk der Liebe Gottes anzunehmen – positive subjektive Erfahrungen sind die Grundlage und der Veränderungsmotor, alles andere kommt später.

Man vergleiche diesen Ansatz mit dem Luthers in den Thesen zur Heidelberger Disputation im Frühjahr 1518. Das „Verlangen nach Gnade“, so der Reformator, beginnt, „wenn die Sündenerkenntnis da ist. Dann erst, wenn er das Übel seiner Krankheit begreift, verlangt der Kranke nach Medikamenten.“ Und anschließend: „Ganz gewiss muss ein Mensch an sich selbst verzweifeln, um für den Empfang der Gnade Christi bereitet zu werden“ (17–18). „Wer noch nicht erniedrigt und durch Kreuz und Leiden zu einem Nichts gemacht ist, der schreibt Werke und Weisheit sich zu, nicht aber Gott“ (24). Erst wenn der Mensch „durch Leiden und Schaden ganz leer und niedrig geworden ist“; erst dann, wenn man zu der Erkenntnis kommt, „daß man selbst nichts ist und die Werke nicht uns sondern Gott gehören“; erst dann ist es nicht mehr möglich, „auf Grund seiner ‘guten Werke’ aufgeblasen zu werden“ (21). Ganz auf dieser Linie heißt es gleich in Frage 2 des Heidelberger Katechismus, dass das erste, was man wissen muss, um zum Trost des Heils zu gelangen, dies ist: „Wie groß meine Sünde und Elend ist“.

Die Kategorie Sünde ist heute jedoch zu einem gravierenden Problem geworden. Der Katholik Matthias Matussek vor einigen Jahren im „Spiegel“ (7/2010): „Die Sünde ist aus der öffentlichen Rede verschwunden. Sie hat sich neue Papiere, neue Identitäten besorgt. Von ‘Sünde’ spricht keiner mehr. Niemand droht mehr denjenigen, die ihr verfallen sind, mit ewiger Verdammnis… Die Sünde hat kein metaphysisches Gewicht mehr. Sie wird nicht mehr ernst genommen. Man könnte sagen: Die Sünde hat ein Imageproblem.“

D.A. Carson schreibt in seinem Beitrag in Fallen von den Folgen dieses „tiefen kulturellen Widerwillens gegen die Vorstellung von Sünde“: „Viele Verkündiger ziehen es nun vor, über Schwächen, Fehler, Tragödien, Versagen, innere Widersprüche, Verletzungen, Enttäuschungen, Blindheiten, Gebrochenheit zu reden – über alles, nur nicht über Sünde. Das Resultat ist eine Verzerrung des Gottesbildes und seines Erlösungsplans.“ Carson betont, ganz in der reformatorischen Tradition, dass das Problem, die Sünde, und die Lösung, das Heil, eng miteinander zusammenhängen. Das eine erklärt das andere. Ein tiefes Verständnis dessen, was am Kreuz erwirkt wurde, ist unmöglich, wenn man den Ernst der Sünde nicht erfasst.

Dass wir in einer ‘sündlosen’ Gesellschaft leben, würde Carson gar nicht leugnen. Es ist daher tatsächlich in mancher Hinsicht schwieriger als früher, Sünde zu kommunizieren. Doch man darf die Diskontinuität nicht zu stark herausstellen. Das Begreifen der eigenen Sündhaftigkeit war schon immer ein Problem für jeden Menschen. Denn wir erfahren die Sünde nicht in ihrem eigentlichen und vollen Sinne. Wir erfahren und erleben, dass ‘irgendetwas’ nicht stimmt, und dass das auch mit uns selbst zu tun hat. Wir erfahren mehr oder weniger all die Dinge, die Carson im Zitat nennt. Paulus stellt aber in Römer 1–2 dar, dass unsere Gottes- und damit auch Selbsterkenntnis unterdrückt, niedergehalten oder geleugnet wird (Röm 1,18), d.h. die Sünde in ihrer Schärfe wird verdrängt und nicht gesehen. Anders kann es nach dem Fall nicht sein.

Genau an dieser Stelle kommen die Dogmen ins Spiel. Jemand von außen muss uns über unseren Zustand aufklären, die biblische Lehre, ihre Wahrheiten, ihre Maßstäbe an uns herantragen. Genau dies tat Jonathan Edwards in seiner berühmten Predigt aus dem Jahr 1741: „Sinners in the hands of an angry God“ (auf deutsch hier). Heute kann kaum noch jemand etwas mit ihr anfangen; allein der Titel missfällt den meisten – so kann man ja wohl nicht mehr reden… Natürlich, wir müssen heute solche „Feuer-und-Schwefel-Predigten“ nicht eins zu eins wiederholen. Allerdings ist von Edwards eine äußerst wichtige Lektion mitzunehmen: der Mensch erfährt sich eben nicht als in den Händen eines zornigen Gottes. Wir spüren allermeist nichts davon, dass wir (als Unerlöste) grad so über dem höllischen Feuer schweben und gleichsam unsere Haare schon versengt werden – so gnädig ist Gott zu allen. Jeder erfährt Gott als irgendwie nachsichtig, denn das Gericht lässt ja tatsächlich auf sich warten, und genau deshalb muss uns die volle Wahrheit über ihn und unseren erbärmlichen Zustand gesagt werden. Dies ist Information, die nicht direkt und vollkommen durch Erfahrung gedeckt ist.

Die biblischen Wahrheiten müssen uns gesagt werden, und ihnen gilt es zu glauben. Doch oft wird eingewendet: Unser Glaube gründet sich doch nicht auf Dogmen und Ideen, sondern auf einer Person. J. Gresham Machen (1881–1937) ging in seinem Klassiker Christentum und Liberalismus darauf ein: Es ist nutzlos, so der Presbyterianer, von einem Vertrauen in die Person zu sprechen, ohne die Botschaft des Neuen Testament zu glauben. Denn wir brauchen die Deutung der Heilsereignisse: „‘Christus starb’ – das ist Geschichte, ‘Christus starb für unsere Sünden’ – das ist Lehre. Ohne diese beiden Elemente, verbunden in unauflöslicher Einheit, gibt es kein Christentum.“ Für das Heil nötig sind die Berichte über die historischen Ereignisse und ihre Deutung. Machens Schluss: „Christliche Lehrsätze bilden die Wurzel des Glaubens.“

Sind „Transformations-Geschichten“ das wichtigste, was wir weiterzugeben haben? Ist meine Begegnung mit Gott wirklich die „entscheidende Geschichte“? Wenn objektive Ereignisse und Lehre ganz in den Hintergrund treten, wird es sehr schwierig, nichtchristliche Bekehrungserlebnisse zu widerlegen. Denn mache sich nichts vor: intensive innerliche Wandlungserlebnisse gibt es in zahlreichen Religionen, Sekten und selbst Ideologien! So wird z.B. in Spike Lees Film „Malcolm X“ (1992; mit Denzel Washington in der Hauptrolle) über den gleichnamigen Führer der Black Muslims in den USA dessen radikale Bekehrung zum Islam gut gezeigt. Wahrlich eine echte Transformation! Was machen wir nun, wo doch Apologetik auch zu vernachlässigen sei und die Dogmen zweitrangig sind?

Erfahrung statt Dogmen, so Faixs doch vielsagende Überschrift. Als Evangelikaler rudert er am Ende des Abschnitts etwas zurück, und dies Argumentationsmuster ist ja oft zu finden: Erlebnisse stünden nicht im Widerspruch zu Dogmen und Bekenntnissen. Natürlich tun sie dies nicht! Anknüpfend an Machen gilt, dass erst bestimmte Interpretationen von Erlebnissen zu bestimmten Lehren in Widerspruch geraten könnten. Ein Erlebnis als solches widerspricht keiner Theologie. So widerspricht ja auch die Erfahrung der Abwesenheit Gottes nicht dem christlichen Glauben. Zwischen Fall und Wiederkunft Jesu erfahren wir Gott allermeist als fern, nicht gegenwärtig, schweigend. Solle doch keiner so tun, als ob er mit Gott unmittelbar kommuniziere! Wie es ist, Gott von Angesicht zu Angesicht zu erleben, haben Mose und Jesaja mit Furcht und Zittern erlebt… Wie erfahren Leid und Verfolgung, Spott und Ausgrenzung, Alleinsein und Hass – und diese Erfahrungen deutet und korrigiert nun Dogma: Gott scheint fern, aber er ist dennoch gegenwärtig und dir nah; du erlebst Schwäche, aber Gott ist in den Schwachen mächtig; du wirst verfolgt, aber Gott führt und bewahrt dich. Die Abwertung der Dogmen ist geradezu fatal, weil sie uns das einzige Mittel nimmt, die Erlebnisse recht zu deuten und einzuordnen.

Bei Richardson (und Faix, McLaren, Rollins und so manch anderen) verschwimmt die Grenze zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Denn die Polemik gegen das „drinnen oder draußen“ hat ja zur Folge, dass Richardson auf die Frage „Wen evangelisieren wir?“ sicher nicht einfach „Ungläubige“ antworten würde. Das hieße ja im alten Schema denken. Er betont, dass wir alle auf dem Weg sind, und in diesem Sinne begleitet ein erfahrener Reiseführer einen, der Orientierung braucht. Ob dieser zu begleitende Christ ist oder nicht, sei dagegen eine eher zweitrangige Frage.

Faix betont in seiner Arbeit (unter Punkt 6.2.1) das Neue der “missional Ecclesiology“: diejenigen, die in eine Kirche gehen, “sind” diese Kirche. “Diese Sichtweise führt zu einer Überwindung der Grenzen zwischen Christen und Nichtchristen, jeder, der in die Kirche kommt, ist auch ein Teil von ihr, unabhängig vom Ort, an dem er sich befindet”. Jeder, der in die Kirche kommt, ist auch Teil von ihr? Egal, wie man diese Ekklesiologie nennt – sie ist nicht nur neuartig, sie führt zu einer Zerfaserung des Kirchenbegriffs, die wohl sogar gewollt ist. Ich kann in solchen Sätzen kaum noch etwas Reformatorisches erkennen.

Inzwischen sickern solche Thesen auch in konservative Missionsgesellschaften durch. Im Journal eines großen Werkes liest man im Erfahrungsbericht eines jungen Missionars in Asien: “Jünger sein ist kein Status, sondern ein Weg. Wann ein Individuum die Grenze zwischen dem Dunkel des Bösen und dem Licht Gottes überschreitet, weiß nur Gott selbst”. Der zweite Satz stimmt natürlich, im ersten wird es verwirrend. Der christliche Glaube wird schon im NT als “der Weg” bezeichnet; Jüngerschaft ist gewiss auch eine Reise. Der junge Mann leugnet jedoch, dass das Jüngersein überhaupt irgendwie zeitlich festgemacht werden kann und ausdrücklich, dass die Jüngerschaft der Bekehrung folgt. Suchende, Fragende, all diejenigen, die sich irgendwie in Richtung Gott bewegen, werden auch zu Jüngern erklärt. Die Überschrift lautet ebenfalls “Jüngerschaft beginnt schon vor der Bekehrung”. Natürlich handelt Gott mit Menschen auf unterschiedlichste Weise auch vor der Bekehrung, doch auf diese Weise werden so gut wie alle zu Jüngern – ist niemandem in der Redaktion und Schriftleitung aufgefallen, dass solche Sätze theologisch nun wahrlich nicht zu halten sind?

Die verschwommenen Grenzen bringen so manche neue Evangelisationsmethode mit sich wie bei auch bei Faix erkennbar wird. Die Jugendlichen, um die es bei ihm geht, sind ja ‘irgendwelche’ von der Straße. Und in diesem Zusammenhang empfiehlt er Abendmahl als Erfahrungsfeld, um die Zuwendung Gottes zu spüren. Oder es werden Gebetsseminare für Ungläubige angeboten, um diese evangelistisch zu erreichen. Nichtchristen wird erklärt, dass sie eine Verbindung mit Gott aufnehmen können und sollen – vor aller Umkehr und Bekehrung. Auch hier kann man nur entgegnen: Methoden sind nicht neutral und beliebig wählbar, auch wenn man die richtige Motivation hat. Wie soll so etwas biblisch zu rechtfertigen sein?

Richardson begründet seine Ideen kaum biblisch, und auch Faix Schwäche ist – trotz hunderter Seiten! – eine nun wirklich mangelnde biblisch-theologische Fundierung seiner Endergebnisse (empirische Studien sind gut und wichtig, aber sie ersetzen die Theologie nicht). Sicherlich waren und sind die Christen auf dem Weg (in Apg 9,2 werden die Christen ja auch die Anhänger des „[neuen] Weges“ genannt), also auf einer geistlichen Reise. Das Bild des Fremden und Reisende auf Erden zu einem himmlischen Ziel ist ja biblisch (s. z.B. Hbr 11,10.13–16; 1 Pt 2,11). Doch auf diesen Weg muss man sich begeben. Und dieser Schritt ist in der Bibel von herausragender Bedeutung. Das Konzept der „drinnen oder draußen“, ob es Richardson gefällt oder nicht, durchzieht das gesamte NT. Man vergleiche auch einmal das Bild der Reise in Bunyans Pilgerreise mit den postmodernen Konzepten. In der berühmten Allegorie des baptistischen Predigers beginnt die Reise mit der Bekehrung, gewirkt durch das „Licht“ des Wortes Gottes im Haus des Übersetzers.

Wer die Erfahrung an den Anfang stellt, der kann tatsächlich das Das Drinnen und Draußen, die Unterscheidung von Christen und Nichtchristen, nicht begründen. Denn im Lebensstil und rein äußerlich unterscheiden sich Gläubige und Ungläubige ja nur graduell und gewiss nicht scharf. Man sieht Christen ihr Anderssein ja nicht an der Nasenspitze an. Und auch wenn sie nach anderen Moralgrundsätzen leben – auch Atheisten verhalten sich mitunter vorbildlich. Wir brauchen auch hier Lehre oder Dogmen. Konkret wird dies bei der Aufnahme in einer Gemeinde. Hier wird ja nicht in erster Linie die Erfahrung zu Grunde gelegt, denn dann würde womöglich kaum jemand Mitglied werden (oder die intensiven Esoteriker kämen mit rein). Es wird nach einem Bekenntnis gefragt: Glaubst du? Glaubst du wirklich? Und was glaubst du? Hier wird spätestens seit dem Athanasium mit konkreten Lehren geantwortet. Und noch einmal: Rollins will dies auf den Kopf stellen. Hier wird ein Bruch einer uralten Traditionslinie angestrebt.

Die Voranstellung der Erfahrung führt zum Verlust der Antithese, des Konzepts von gläubig/nichtgläubig, drinnen/draußen, Christ/Nichtchrist. Iain H. Murray (Mitarbeiter von Martyn Lloyd-Jones und dessen Biograph) warnte in seinem nur empfehlenswerten Evangelicalism Divided: „Die Gesundheit der Kirche stand immer in Beziehung zu dem Ausmaß, in dem in ihrer Lehre der Unterschied zwischen Christen und Nichtchristen scharf und klar erkannt wurde. Ist diese Linie geistlich verwischt, ist Abfall sicher…“

Eine völlige Umkehr der Dinge

Lehre und Dogma sind die Begleiter der Wahrheit. Wer die Wahrheit hochhält, wird theologische Lehrsätze nicht verachten. Und er wird natürlich auch die Erfahrung nicht verachten. Sie hat ihren Platz. Die Lehren des christlichen Glaubens bewähren sich in der Erfahrung. Sie ist ein wichtiges Testfeld.

Das war auch die Überzeugung von Francis Schaeffer (1912–1984). Unter den großen christlichen Leitern im vergangenen Jahrhundert hat er wohl am eindrücklichsten gezeigt und vorgelebt, wie Lehre und Erfahrung aufeinander zu beziehen sind. Die Wahrheitsfrage stand für ihn immer im Zentrum, und es sind Lehren, Ideen, Weltanschauungen, die der Motor der Veränderungen sind. Damit wird die Erfahrung aber keineswegs zweitrangig. Die von Schaeffer gegründete L‘Abri-Gemeinschaft war von ihrem Ursprung her eine Art Experiment: Ist Gott wirklich da? Zeigt sich seine Realität in der Erfahrung? Bis heute bietet L‘Abri Besuchern sowohl ein Erfahrungsumfeld, als auch Input an Lehre und Diskussion. Doch Erfahrung statt Dogmen – niemand wird dort so einen Unsinn von sich geben.

Schaeffer stand in der Tradition seines Lehrers Machen, der wiederum von Benjamin B. Warfield geprägt wurde. Dieser große Theologe in Princeton war überzeugt: Wahrheit führt zum Leben; die recht verstandene Wahrheit prägt die christliche Existenz; Lehre kommt daher zuerst; wer daher das Leben beeinflussen und verändern will, muss die Lehre immer besser verstehen.

Nicht, was man denkt, sondern was man erfährt, ist entscheidend – so die Überzeugung vieler heutiger Evangelikaler. Gerald McDermott hat in „Evangelicals Divided“ im Journal „First Things“ (April 2011) den Bruch in der evangelikalen Bewegung treffend analysiert. Er unterscheidet zwischen „traditionists“ (McDermotts Position und die hier vertretene), die die Wichtigkeit der Lehre und des dogmatisches Erbes betonen, und „meliorists“ (von lat. melior – besser), die nicht nur einige Anpassungen der Lehre vornehmen wollen. Ihnen geht es um radikale ‘Verbesserungen’ (à la McLarens „everything must change“). Zu den „meliorists“  zählt McDermott „post-konservative“ Evangelikale wie Stanley Grenz (1950–2005), Clark Pinnock (1937–2010) oder Roger E. Olson. Er wendet ein, dass Melioristen „die Erfahrung auf Kosten des kognitiven Verständnis oder der Lehre betonen. Olson behauptet, dass das Wesen des authentischen Glaubens eine besondere Spiritualität und nicht so sehr eine richtige Lehre sei. Orthopraxis habe Priorität ‘vor’ der Orthodoxie; der Hauptzweck der Offenbarung sei Transformation statt Informationen; und Lehre ist ‘sekundär’ zur evangelikalen Erfahrung.“ (S. auch McDermotts unbedingt empfehlenswerter Beitrag im JETS hier.)

Die Melioristen bezeichnen sich als evangelikal, doch ihr Ansatz steht in einer Traditionslinie, die bis zu Schleiermacher (1768–1834)  zurück reicht. Tatsächlich war dieser nicht nur der Vater der liberalen Theologie. Bei ihm, so Eduard Böhl in seiner Dogmatik (1887), begegnet uns „eine wirklich revolutionäre Tat, es gilt eine völlige Umkehr der Dinge.“ Schleiermacher öffnete mit seiner Glaubenslehre eine „Pandorabüchse“. Michael Wittmer (Don’t Stop Believing), Jeremy Bouma (Reimagining the Kingdom) oder auch B.A. Gerrish stellen die Verbindung von Schleiermacher und den postkonservativen (und emergenten) Evangelikalen dar. Auch Iain Murray beginnt sein Buch (s.o.) nicht zufällig mit Schleiermacher.

Für Schleiermacher ist der Glaube wesentlich keine Sache des Verstandes, sondern des Gefühls. Bei ihm steht das fromme Selbstbewusstsein des Menschen, jenes „Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit“ im Zentrum der Theologie. An die Stelle der Heiligen Schrift tritt das Erleben des Gläubigen. Die Glaubensdogmen sind nicht Ursprung und Fundament, sondern Folge der Glaubenserfahrung. Sätze des Glaubens sind Ausdruck des frommen Gefühls. Schleiermacher machte in seinen Schriften breite Ausführungen über das versöhnende und erlösende Handeln Christi, jedoch ohne sein historisches Werk in Tod und Auferstehung zu würdigen. In seinem Hauptwerk schrieb er: „Der Erlöser nimmt die Gläubigen in die Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins auf, und dies ist seine erlösende Tätigkeit… Der Erlöser nimmt die Gläubigen auf in die Gemein­schaft seiner ungetrübten Seligkeit und dies ist seine versöhnende Tätigkeit.“ (Der christliche Glaube)

Glaube gründet sich nicht mehr auf dem in Raum und Zeit vollbrachten Werk Christi, sondern auf dem gegenwär­tigen Erleben des angeblichen Werkes Christi in der innerlichen religiösen Bewegung beim Menschen. Bernhard Kaiser: „Die Stoßrichtung dieses Denkens ist eindeutig: nicht das Werk Christi von damals, sondern das gegenwärtige Werk Christi ist das entscheidende. Der geschichtliche Jesus von Nazareth ist zwar wichtig, aber nur insofern, als von ihm etwas ausgeht, was den Menschen heute und jetzt angeht und verändert. Dieses Denken ist auch im modernen Protestantismus maßgeblich. Es wird auch von breiten Kreisen der evangelikalen Welt geteilt.“ (Dogmatik-Vorlesung)

Kaiser hat Recht. Unter Evangelikalen werden die historischen Heilstatsachen selten geleugnet. So weit will kaum einer gehen. Doch eine wichtige Akzentverschiebung hat häufig stattgefunden: der Glaube gründet sich nun zuerst auf dem Erleben der Heilswirklichkeit in uns; dies ist das Eigentliche. Die reformatorische Theologie betont dagegen, dass das Heil außerhalb von uns (lat. extra nos) verankert ist. Der Glaube ruht zuerst auf objektiven Tatsachen und Versprechen, nicht auf subjektiven Zuständen in uns. Das geschichtliche Werk Christi ist Grundlage des Glaubens. Wir vertrauen nicht auf Vorgänge in uns, sondern auf dieses Werk. (Zu Schleiermacher s. auch Ron Kubschs Beitrag hier.)

Auch bei Böhl findet sich eine sehr gute Zusammenfassung des neuen Ansatzes bei Schleiermacher. Es gilt bei ihm, „die Offenbarung ihrer Objektivität zu berauben und die ursprüngliche Quelle, Gottes Wort, zu einer sekundären zu machen. Aus den Hülsen der alten Dogmen soll die in ihnen enthaltene Glaubenssubstanz befreit werden; dies geschieht, indem man an sie als Maßstab das fromme Bewusstsein anlegt. Dieses tritt vor und über die Schrift, sodann über die Dogmen, und gibt uns die Anleitung, um die Wahrheit von den Niederschlägen des Irrtums zu befreien… Alle Dogmen werden danach beurteilt und darauf angesehen, ob sie unserm Gefühl entsprechen, ob sie für dasselbe nichts Anstößiges haben. Kurz, das menschliche, fromme Bewusstsein ist die Tür, durch welche die göttlichen Gedanken ihren Einzug halten in die Welt. Alles, was sich in der heiligen Schrift für göttlich ausgibt, muss sich hier legitimieren, es darf dem religiösen Gefühl nicht anstößig sein.“

Heute klingt dies bei Steve Chalke, einem bekannten britischen Evangelikalen, so: „Was die Autoren [der Bibel] verbindet, ist eine Erfahrung mit Gott, eine Verbindung mit dem Heiligen…“ Keine Rede von Inspiration oder dergleichen; wenn man dann davor noch liest, dass sich die Texte der Bibel manchmal „uneins“ sind, weiß man, wohin der Hase läuft.

Unter den liberalen Theologen des späten 19. Jahrhunderts war es vor allem Wilhelm Herrmann (1846–1922), der an Schleiermacher anknüpfte. Für den lange in Marburg lehrenden Theologen entspringt Glaube aus einen sehr persönlichen, inneren Offenbarungserlebnis. Für den wahren Glauben ist Offenbarung „eine selbsterlebte Tatsache“  und nicht eine Gehorsam verlangende Lehre. Herrmann lehnt ein Christentum ab, das seine Grundlage in einer geoffenbarten Lehre sieht. Grund des Glaubens ist nicht, was von außen gegeben ist. Karl-Heinz Michel über Herrmanns Bibelverständnis: „Die Hl. Schrift ist nicht Offenbarung, erhält auch nicht Offenbarung, sondern ist als Überlieferung lebendiges Zeugnis von Menschen, die, durch Gottesoffenbarung selber befreit und erneuert, hier ihren Glauben auf klassische Weise Ausdruck verliehen haben.“ (Glaubensdokument contra Geschichtsbuch?) In den Augen Hermanns war es Schleiermachers „große reformatorische Leistung, die gesamte traditionelle Dogmatik umzuformen, dass sie keine Dogmen mehr formuliert, die zu glauben seien, sondern nur noch solche Lehren darstellt und anerkennt, die Ausdruck des Glaubens sind, den der Christ bereits in seinem Innern hat…“

Nichts gegen Stadtsoziologie und Milieustudien und empirische Theologie und was sonst noch durch den theologischen Fächerwald schwirrt. Aber allen Studierenden an evangelikalen Ausbildungsstätten sei vor all dem ein Text zur Lektüre empfohlen: Herrmanns „Unser christlicher Glaube“ (1912; in Wilfried Härles Anthologie moderner ev. Theologie). Herrmann klingt überraschend fromm und ‘pietistisch’. Und oft denkt man, dass hier ein zeitgenössischer Evangelikaler redet. Was ist das für eine Theologie? Machen hatte auch bei Herrmann in Marburg studiert und seine Theologie in Abgrenzung von Herrmann geschärft. Sein Christentum und Liberalismus ist ebenfalls unerlässlich, will man die moderne Theologie verstehen.

Zu den Quellen der Reformation!

In „Bibel und Gemeinde“ 3/13 befindet sich ein ganz bemerkenswerter Beitrag: „Bibeltreue und die Niederlande“ – ein Interview mit Marius Timmermanns von der „Stichting Vrienden van Heidelberg en Dordrecht“ (SVVHED), der Stiftung der Freunde des Heidelbergers und der Dordrechter Lehrregel.

Obwohl die Niederlande schon historisch ein sehr liberales Land sind, ist der Kirchenbesuch dort höher als in Deutschland, und auch die evangelikale Bewegung steht insgesamt besser da. Im Nachbarland stellen nämlich in immer noch recht vielen Kirchen die dort beliebten Bekenntnisse (Niederländisches, Heidelberger Katechismus, Dordrechter Lehrregel) ein „Bollwerk gegen das Eindringen jeglicher Bibelkritik“ dar, „ihr Inhalt [wird] noch wertgeschätzt und geachtet.“

Timmermanns weiter: „Gott hat uns in den Niederlanden die drei oben genannten Bekenntnisse bewahrt, welche von den bibeltreuen Christen als einendes Band der Gemeinschaft… wertgeschätzt werden. Diese Bekenntnisse sind für uns der Bund mit dem alten christlichen Erbe unserer Vorfahren – quasi ein Wort aus der Ewigkeit. Anders gesagt: man muss einen Bund von der Ewigkeit her haben, das ist wichtig in modernen Zeiten, damit man überleben kann. Somit appelliere ich an die deutschen Geschwister: schätzt die Quellen der Reformation neu wert. Hebt diesen Schatz der vergangenen Zeit, um darin neu die Liebe Gottes und die Kraft des Evangeliums – aus der Heiligen Schrift – zu erkennen.“

Genau! Natürlich gibt es auch in Deutschland viel lebendiges Gemeindeleben, Gemeindebau, Evangelisation, Mission usw., doch die erweckliche, pietistische, evangelikale Tradition ist weitgehend bekenntnisfrei. Leider. Ob nun Chrischona, Liebenzell, die meisten FeGs – alle kommen weitgehend ohne Bekenntnisse aus. Die fehlende Achtung der Bekenntnisse trägt mit zur Schwäche der Evangelikalen in Deutschland bei. Auch viele Freikirchen sind daher kaum gewappnet gegen die Einflüsterungen der postkonservativen und emergenten Autoren. Warum aber nicht evangelistischen Geist mit einer Wertschätzung der historischen protestantischen Bekenntnisse paaren? Ein gutes Beispiel, wie das konkret aussehen kann, hat die „Arche“ in Hamburg gegeben (s. hier ihr Bekenntnis).

Eduard Böhl zitiert Spr 22,28 – „Verrücke nicht die uralten Grenzen, welche deine Väter gesetzt haben“ – und deutet dies frei so: „Diese Grenzen sind unsere Symbole. Es ist nicht unsere Meinung, dass man mit diesen Grenzpfählen einen Kultus treiben solle. Wie durchaus nicht ist dies bei unsren besten Dogmatikern der Fall!.. Die, welche sie gesetzt haben, waren Menschen, wie wir, aber sie waren treu und gottesfürchtig. Wir wollen nun nicht pure Nachbeter sein, aber wir wollen innerhalb dieser Grenzpfähle, mittelst Exegese und anderer Hilfswissenschaften, uns also einrichten, dass niemand uns daraus vertreiben kann.“ Traditionalismus – nein, aber ein Zuhausesein in der großen Bekenntnistradition der Protestanten und der gesamten Kirche, Traditionismus bei McDermott, – ja.