Vom Nutzen der Bergpredigt für die Politik
„Politik und Religion müssen unterschieden, aber sie können nicht getrennt werden“. So sagte vor über dreißig Jahren Günter Rohrmoser. Aber was heißt dies nun genauer? Kann man zum Beispiel mit den Prinzipien Jesu in der Bergpredigt (Mt 5–7) regieren?
Frieden ist möglich – Die Politik der Bergpredigt nannte der bekannte Journalist Franz Alt sein Büchlein, das 1983 auf den Bestsellerlisten ganz nach oben schoss. Die Regierung Schmidt hatte zuvor die Nachrüstung beschlossen; die Friedensbewegung führte Hundertausende auf die Straße, protestierend gegen den „Doppelbeschluss“ der Nato. Alt, Katholik, damals noch CDU-Mitglied und populärer Moderator von „Report“ aus Baden-Baden, präsentierte in breiten Strichen seine Vision einer neuen Politik.
Alt bedauert die „Trennung von Religion und Politik“; dies sei das „folgenschwerste Schisma des Christentums“. Die Bergpredigt dürfe nicht ins Private abgeschoben werden, denn „unsere religiöse, private und politische Existenz ist eine Einheit“. „Die Bergpredigt ist kein Heimatroman“ – so die griffige Überschrift des ersten Kapitels.
In Frieden ist möglich finden sich natürlich so manche Allgemeinplätze wie dieser: „Die Bergpredigt sagt, wie Christen sein sollten, wenn sie Christen sind.“ Alt lässt aber auch erkennen, dass er stark von C.G. Jung beeinflusst wurde, und ergeht sich in Forderungen nach einer „spirituellen Revolution“. Er glaubt, Jesus habe damit eine „Revolution unseres allgemeinen Bewusstseins“ gefordert.
Die Bergpredigt, so Alt, richtet sich an „jeden einzelnen“; Jesus „spricht alle an“. „Alle sind gemeint in allen Lebensbereichen“. Ausdrücklich widerspricht er der traditionellen christlichen Deutung: „Die Bergpredigt ist nicht nur an seine ‘Jünger’ gerichtet…“. Der Unterschied von Christen und Nichtchristen verwischt bei Alt so gut wie ganz, wenn er gegen Ende von der „Erkenntnis des göttlichen Kerns unserer Seele“ spricht. Jeder werde einmal zu Gott zurückkehren. Ähnlich universalistisch drückte sich der Journalist dann auch im folgenden Buch Liebe ist möglich – Die Bergpredigt im Atomzeitalter aus: „In jedem Menschen steckt ein innerer [guter] Kern, brennt eine Flamme der Liebe, leuchtet ein ewiges Licht, wacht ein verborgenes Gewissen, herrscht die göttliche Idee.“
Alt vertritt in den Büchern ein durch und durch positives Menschenbild: „Menschen können nur sich selbst ändern“. Der Mensch, jeder Mensch, kann sich selbst aus dem Sumpf herausziehen, und daher sieht er eine reale „Chance zur Veränderung der Welt“. Johan Bouman hat diese Sichtweise, verbreitet damals im ÖRK und der Friedensbewegung, in Der Glaube an das Menschenmögliche als puren Pelagianismus entlarvt.
Franz Alt hat sich für die Bergpredigt begeistert, doch die Unterscheidung von Politik und Religion ist bei ihm praktisch ganz aufgehoben. Leider hat er den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. Jesu Rede ist nicht „das hohe Lied der Liebe des Schöpfers zu uns Menschen“, so Alt, sondern „das Manifest des Königreichs“ Christi, so David Cook in Living in the Kingdom. Cooks Landsmann John Stott in seinem Bergpredigtkommentar: „Es gibt keinen einzigen Absatz in der Bergpredigt, in dem nicht der Kontrast zwischen Christen und Nichtchristen hervorgehoben werden würde. Dieser ist das zugrunde liegende und gemeinsame Thema der ganzen Predigt, alles andere ist dessen Variation.“ (The Message of the Sermon on the Mount) Von diesem Geist der Antithese ist bei Alt nichts zu erkennen.
Jesus lehrte in der Bergpredigt seine Jünger (Mt 5,2). Er richtete sich in erster Linie an seine Nachfolger, die Christen in der Gemeinde, ruft sie, so Stott, zu radikalem Nonkonformismus, zu konsequentem Anderssein auf. Stotts Schlüsselvers ist daher Mt 6,8a: „Macht es nicht wie sie“, die Heiden, Heuchler und Gottlosen.
Walter Künneth (1901–1997), Theologieprofessor in Erlangen, reagierte mit Der Christ als Staatsbürger (1984) auch auf Alts Pazifismus und hielt dort fest, dass die Bergpredigt keine „Friedensstrategie“ beinhalte. Er betont, dass Jesus in der Bergpredigt eine „völlig neue Geisteshaltung der Gemeinschaft Jesu“ skizziert, die „neuen, durch den Gottes Geist verwirklichten Verhaltensmöglichkeiten in der Jesusjüngerschaft“. Und weiter: „Infolgedessen richtet Jesus die Bergpredigt grundsätzlich nicht an die Regierenden, nicht an die Funktionäre, die für die politische Ordnung zu sorgen haben, sondern an die Adresse seiner Jüngerschaft und aller derer, welche in die Gemeinschaft der Nachfolge Jesu treten wollen. Es geht also um Weisungen Jesu an seine Gemeinde, um das im Glauben an ihn begründete Verhalten der Jünger, die sich für seine Nachfolge entschieden haben.“
Jesus hat kein Ende der zivilen Herrschaft und der staatlichen Gewalt ausgerufen und eben keine Grundsätze gegeben, die eins zu eins auf das allgemeine soziale und politische Leben übertragbar wären. Christen stehen nicht mehr unter dem mosaischen Bund; die vergeltende Gerechtigkeit hat daher keinen Raum im Himmelreich, weshalb die Kirche eine gewaltfreie Gemeinschaft sein muss. Doch von einer universalen Ethik für alle Menschen sprach Jesus eben nicht. Die Bergpredigt ist zuerst die Ethik des geistlichen Reiches Christi, des Reiches Gottes, und konkret der Gemeinschaft der Jünger.
Der Bund mit Noah (Gen 9), der auch das Vergeltungsprinzip vor staatlichen Gerichten begründet (9,6), bleibt für alle Menschen bis zum Ende dieser Welt in kraft. Daher schreibt auch Dietrich Bonhoeffer: „Es wäre in der Tat alles bare Schwärmerei, was Jesus seinen Nachfolgern [in der Bergpredigt] sagt, wenn wir diese Sätze als allgemeines ethisches Programm zu verstehen hätten, wenn der Satz, dass das Böse allein durch das Gute überwunden wird, als allgemeine Welt- und Lebensweisheit aufzufassen wäre. Es wäre in der Tat unverantwortliches Phantasieren von Gesetzen, denen die Welt niemals gehorcht. Wehrlosigkeit als Prinzip des weltlichen Lebens ist gottlose Zerstörung der von Gott gnädig erhaltenen Ordnung der Welt.“ (Nachfolge)
Alt polemisierte gerne gegen den Satz, mit der Bergpredigt könne man nicht regieren. Ein Satz, der auf Martin Luther zurückgeht, der in Von weltlicher Obrigkeit (1523) schreibt:
„Wenn nun jemand die Welt nach dem Evangelium regieren und alles weltliche Recht und Schwert aufheben wollte… Lieber, rate, was würde der machen? Er würde den wilden, bösen Tieren die Bande und Ketten auflösen, daß sie jedermann zerrissen und zerbissen, und daneben vorgäben, es waren feine, zahme, kirre Tierlein… Ein ganzes Land oder die Welt mit dem Evangelium zu regieren sich unterfangen, das ist deshalb ebenso, als wenn ein Hirt in einen Stall Wölfe, Löwen, Adler, Schafe zusammentäte und ein jegliches frei neben dem andern laufen ließe und sagte: Da weidet und seid rechtschaffen und friedlich untereinander, der Stall steht offen, Weide habt ihr genug, Hunde und Keulen braucht ihr nicht zu fürchten. Hier würden die Schafe wohl Frieden halten und sich friedlich so weiden und regieren lassen, aber sie würden nicht lange leben…“
Luther, Calvin und wichtige protestantische Theologen bis hin zu Bonhoeffer haben die Gewaltausübung des Staates im Prinzip gutgeheißen. Sie haben, wenn auch in unterschiedlicher Weise, zwischen zwei Reichen und Herrschaftsweisen Gottes unterschieden. Paul Althaus fasste Luthers Lehre so zusammen: „Gott regiert die Welt auf eine doppelte Weise. Die eine Weise hilft zur Erhaltung dieses leiblichen, irdischen, zeitlichen Lebens, damit zur Erhaltung der Welt. Die andere Weise hilft zum ewigen Leben, das heißt: zur Erlösung der Welt. Das erste Regiment führt Gott mit der linken Hand, das zweite mit der rechten Hand.“ (s. hier auf TheoBlog und auch diese gute Einführung in die Zwei-Reiche-Lehre von Rolf Sons hier.)
Die eigentliche ‘Heimat’ der Bergpredigt ist demnach das Reich Christi, die Kirche, und nicht das Reich zur Linken, d.h. in den irdischen Herrschaftsbeziehungen. Besonders Luther wurde wegen dieser Aufteilung der Vorwurf gemacht, Christen müssten so entsprechend einer „doppelten Moral“ leben. Diesen Begriff von E. Troeltsch greift auch Alt auf, ja er spricht sogar von Schizophrenie. Doch schon die Reformatoren haben auch unterstrichen, dass beide Reiche aufeinander bezogen sind (weil sie eben beiden von Gott eingesetzt sind und diesem unterstehen) und deshalb nicht auseinandergerissen werden dürfen. Gott ist eben nicht nur Herr der Religion und allein für diese zuständig, sondern auch Herr der Politik – wenn auch in anderer Weise.
Bonhoeffer warnte einerseits davor, die Bergpredigt „zum Gesetz alles weltlichen Handelns“ zu erklären; sie tritt nicht „an die Stelle staatlicher Gesetze“. Andererseits gilt sie nicht nur im „engen Bezirk des privaten Lebens“; man darf sie nicht auf einen „isolierten religiösen Bereich beschränken“. Die Bergpredigt gelte „überall und jederzeit“, so Bonhoeffer. Was das für den „politische Handelnden“ bedeutet und wie sich eine politische Ethik im Einzelnen gestalten kann, blieb bei Bonhoeffer leider Fragment.
Künneth, eindeutiger Befürworter einer lutherischen Zwei-Reiche-Lehre, betont, dass die Bergpredigt zwar kein Lehrbuch für die täglichen politischen Entscheidungen ist, sie dennoch eine „Ausstrahlungskraft“ in die irdische Regierungsgewalt hinein besitzt. Sie wirkt also durchaus im Staat, aber eher indirekt durch eine Art neuen Politikstil von Christen und christlich denkenden und handelnden Amtsträgern. Diese entsagen dem Hass und der Menschenverachtung, verzichten auf persönliche Rache und Vergeltung, verherrlichen nicht Gewalt und Ehrsucht, wollen den politischen Gegners nicht vernichten.
Über die Botschaft der Bergpredigt an die Herrschenden hat außerdem Peter J. Leithard gegen Ende seines Defending Constantine (S. 338–339) gute Ausführungen gemacht. So schreibt der reformierte Pastor und Theologe über das Hinhalten der Backe (Mt 5,39), dass es hier vor allem „um Ehre und Schande“ geht: „der Geschlagene gibt sich der Verachtung hin“. „Ist das relevant für politische Ethik? Natürlich. Das Römische Reich war auf einem System der Ehre, Erniedrigung und Vergeltung gebaut… Entferne Vergeltung und Verteidigung der Ehre von der internationalen Politik, und eine ganze Reihe von Kriegen der Welt wäre verhindert worden.“
Herrschaft im Geist der Bergpredigt, so Leithard, ist von „Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit“ bestimmt; auch Regierende sollen „die Wahrheit sagen, auch wenn es schmerzhaft ist“ (s. Mt 5,37). Was wäre, wenn sie nicht in erster Linie deshalb gute Taten tun, „um von anderen gesehen zu werden, vor allem von anderen mit Kameras – eine Regel, die moderne Politik revolutionieren würde.“ (s. Mt 6,2–4.16–18) Was wäre, wenn sie „gelehrt würden, Frauen nicht lustvoll anzusehen? Das würde auch einige Kriege verhindern, Präsidenten mit Akten und Dinge an ihren Schreibtischen beschäftigt halten, es würde Staatsgeheimnisse besser schützen, Geld sparen und Trennungsskandale vermeiden.“ (s. Mt 5,28)
Haushaltsdefizite, Börsenentwicklung, Budgetfragen – all das ist natürlich wichtig, aber, so Leithard, es sollte den Regierenden nicht alle Nächte rauben. Es gibt noch Wichtigeres im Leben, weil sie auch danach trachten sollen „einen Schatz im Himmel durch Taten der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit anzulegen“ (s. Mt 6,20).
Schließlich erinnert die Bergpredigt auch Machthaber daran, „ihren eigenen blinden Flecken zu beachten und die Balken aus den Augen zu entfernen, so dass sie richtig sehen und so gut urteilen können“. (s. Mt 7,3–5)
Leithard nennt noch andere Punkte. Wir wollen hier abschließen mit einem Zitat aus Augustinus Gottesstaat über ein vorbildlichen Herrscher, der Christ ist; einen Herrscher, der mit Zwang und Drohungen regiert (also nicht die Gewaltlosigkeit der Bergpredigt dem Staat überstülpt), der aber auch aus dem Geist der Bergpredigt heraus handelt hat; ein Herrscher, der anders regiert als ein Julius Caesar oder Augustus oder anderen antiken Despoten zuvor:
„Wir preisen manche Kaiser nicht darum glücklich, weil sie länger regierten oder eines sanften Todes starben und ihren Söhnen die Herrschaft hinterließen, oder weil sie die Feinde des Staates niedergeworfen und bösartige Bürgeraufstände entweder verhütet oder unterdrückt haben…. Sondern glücklich nennen wir sie, wenn sie gerecht herrschen; wenn sie trotz aller schmeichlerischen und kriecherisch unterwürfigen Reden sich nicht überheben und nicht vergessen, dass sie Menschen sind; wenn sie ihre Macht in den Dienst Seiner Majestät stellen und die Gottesverehrung so weit wie möglich ausbreiten; wenn sie Gott fürchten, lieben und verehren; wenn sie jenes Reich am meisten lieben, in dem sie keine Mitregenten zu fürchten brauchen; wenn sie langsam sind zu strafen und gern Nachsicht üben; wenn sie Strafe nur darum verhängen, weil Leitung und Schutz des Staates es erfordern, aber nicht, um Rachgier zu befriedigen; wenn sie Nachsicht gewähren, nicht um Vergehen straflos zu lassen, sondern in der Hoffnung auf Besserung; wenn sie harte Erlasse, zu denen sie oft gezwungen werden, durch erbarmende Milde und gütige Freigiebigkeit ausgleichen; wenn sie von Ausschweifungen sich umso mehr zurückhalten, je ungehinderter sie sich ihnen ergeben könnten; wenn sie lieber über ihre schlimmsten Leidenschaften als über fremde Völker herrschen; und wenn sie alles tun nicht aus Gier nach eitlem Ruhme, sondern aus Verlangen nach der ewigen Seligkeit…“ (V,24)