Als nächstes das Baltikum?

Als nächstes das Baltikum?

Vor knapp 30 Jahren erschien Bruce Springsteens Mega-Hit „Born in the USA“ – geboren in den USA. Anders als der Titel vermuten lässt, ist das Lied keineswegs von dumpfen Patriotismus oder Nationalismus gekennzeichnet. Springsteen blickt vielmehr kritisch auf den Vietnamkrieg und eine perspektivlose Gegenwart.

„Geboren in der Sowjetunion“ – so heißt es im Refrain von Sdelan v SSSR / Made in the USSR des populären russischen Sängers Oleg Gazmanov. Vielleicht hat er sich von Springsteen zum Titel inspirieren lassen, doch der weitere Text offenbart einen ganz anderen Geist: „Ukraine und die Krim, Weißrussland, Moldawien – das ist mein Land! Sachalin, Kamtschatka, das Ural-Gebirge – das ist mein Land! Krasnodar, Sibirien und die Wolga-Gegend, Kasachstan, der Kaukasus, und die baltischen Staaten… Ich wurde in der Sowjetunion geboren, ich bin hergestellt in der Sowjetunion“.

Gazmanov besaß die Chuzpe, dieses für viele Nichtrussen provozierende Lied Ende letzten Jahres auch in Vilnius vorzutragen, absurderweise vor einem applaudieren litauischen Publikum. Die meisten Medien und Politiker reagierten jedoch entsetzt: Keinem entging, dass Gazmanov nicht nur der glorreichen UdSSR nachtrauerte, sondern auch die Gegenwartsform benutzte („das ist mein Land“), sich also indirekt diese Länder zurück in seine großrussische Heimat wünscht.

Über handzahme TV-Kanäle und immer noch sehr beliebte Schlagerstars verbreitet und fördert der Kreml schon seit Jahren russische Kultur und nebenbei auch immer gleich die russische Sicht auf die Welt in den Nachbarländern. Brücke ist das Russische, schließlich ist es für die über 40jährigen außerhalb Russlands in der Ex-Sowjetunion gleichsam zweite Muttersprache. Dass Liedtexte wie von Gazmanov jedoch keineswegs unschuldig sind, zeigt sich nun in der Ukraine und auf der Krim – wohl nicht zufällig werden beide in Made in the USSR zuerst genannt.

Im Kaukasus hat Russland in Abchasien und Südossetien schon seine Protektorate, Armenien liegt an der Leine, die Zentralasiaten bereiten auch keine Probleme. Aus Sicht von Moskaus sitzen in Baltikum die Widersacher, so dass Putins Lügen niemanden mehr überraschen: Die Aufständischen auf dem Maidan seien in Litauen geschult worden. Auch Litauen sei Teil der Verschwörung gegen Janukowitsch und ja sowieso ein abtrünniges Land, das man zurückholen sollte. Und in Lettland und Estland, ebenfalls im „nahen Ausland“, gibt es große russischsprachige Minderheiten, die Moskau vielleicht auch bald schützen will. Als nächstes das Baltikum?

Gott sei Dank sind die baltischen Staaten seit zehn Jahren in der Nato! Seit vielen Jahren sind auf dem Flughafen von Šiauliai Abfangjäger des Bündnisses stationiert, die den Luftraum über dem Baltikum überwachen. Die kleinen Länder Litauen, Lettland und Estland können sich diese äußerst teuren Waffensysteme bisher nicht leisten.

Turnusmäßig sind gerade die Amerikaner mit F-15C-Maschinen hier im Einsatz. Vor einer Woche schickte der Verteidigungsminister der USA zu den vier Jägern noch sechs hinterher – genau das richtige Signal gen Osten. Es muss an dieser Stelle auch erwähnt werden, dass die Balten ihre Nato-Mitgliedschaft hauptsächlich wohl den Amerikanern zu verdanken haben. Washington hatte die sowjetische Besetzung der drei Staaten völkerrechtlich nie anerkannt. Und für ihren Beitritt machte sich die US-Regierung unter Georg W. Bush stark – die Europäer waren dagegen eher skeptisch (ärgert man die Russen nicht zu sehr, wenn man Ex-Sowjetrepubliken in die Nato aufnimmt?). Die Aufnahmeentscheidung war gefallen, da besuchte Bush am 22. November 2002 Vilnius. Vor einer begeisterten Menge und neben Präsident Adamkus (der auf litauischer Seite eine der wichtigen treibenden Kräfte der Westintegration war) versprach er: Litauen wird niemals mehr allein dastehen; die Feinde Litauens sind auch die Feinde der USA; keine Teilung Europas mehr. – Pathetisch klingende Sätze, aber wahrlich keine leeren Worte angesichts der Ereignisse der letzten Tage und Wochen und der Ambitionen Putins, „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ – die Auflösung der UdSSR – in Teilen wieder rückgängig zu machen.

Gestern war Bundesaußenminister Steinmeier zu einem Besuch im Baltikum, am Schluss auch in Vilnius (s. Bild o.; lrp.lt): „Wir lassen Estland und die baltischen Staaten nicht allein. Das ist kein Problem von Estland oder der baltischen Staaten. Das ist ein gemeinsames Problem der EU und der Nato.“ Weiter heißt es in dem FAZ-Beitrag: „Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaite forderte vor dem Treffen mit Steinmeier abermals eine entschlossene europäische Reaktion auf das russische Vorgehen in der Ukraine. Für Europa sei es an der Zeit, sein Gesicht zu wahren. ‘Putins Russland wird zu einem Beispiel für Aggression und demonstriert praktisch gegenüber jedem Stärke – allein gegen alle’, sagte Grybauskaite nach Angaben der Nachrichtenagentur BNS.“

Grybauskaite, Leiterin der litauischen Außenpolitik, hat es mit den nachsichtigen EU-Kollegen nicht immer einfach. Auch in der Nato lief es in der Vergangenheit nicht immer gut. Amerika, Polen und die baltischen Staaten schlugen schon 2008 vor, Georgien und die Ukraine in die Nato aufzunehmen, Frankreich und Deutschland erhoben Einspruch. Die Uneinigkeit wurde von Russland bald darauf im August im kurzen Krieg gegen Georgien ausgenutzt. Aber damit nicht genug: Frankreich schloss 2012 einen Vertrag mit Russland über die Lieferung zweier riesiger Multifunktionsschiffe vom Typ „Mistral“ – bestens geeignet für Landeoperationen. Die Bündnispartner im Baltikum hatte niemand konsultiert und wurden vor den Kopf gestoßen. Das erste Mistral-Schiff wird noch in diesem Jahr ausgerechnet an die russische Schwarzmeerflotte auf der Krim geliefert…

Die Osteuropäer finden wenig Gehör unter den vielen „bedingungslosen Kreml-Verstehern“ im Westen, so Robin Alexander in der „Welt“. Er kommentiert weiter:

„Die abgestuften Mini-Sanktionen, zu denen sich die EU schließlich trotzdem durchrang, sendeten dann eine deutliche Botschaft – allerdings nicht an Russland, sondern an die Osteuropäer: Vergesst die EU als Wertegemeinschaft mit gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik. Verlasst euch nur auf euch und die Nato.“

Gerade die Deutschen fürchten, dass Sanktionen ihre eigene Wirtschaft in Mitleidenschaft ziehen könnten. Alexander erinnert aber daran, dass „der größte Handelspartner Deutschlands im Osten nicht Russland [ist]. Es sind unsere demokratischen Nachbarn: die aufstrebenden Ökonomien Polens, Tschechiens und der Slowakei.“ Tatsächlich sind die baltischen Länder ja allein schon wegen ihrer geographischen Lage viel enger mit dem russischen Markt verwoben. Vom Gas Russlands ist man sogar so gut wie vollständig abhängig (ein Flüssiggasterminal in Klaipėda wird erst im kommenden Jahr fertig gestellt; früher gibt es keinerlei Alternative in der Gasversorgung). Wenn also die relativ armen Balten sich vor harten russischen Gegenmaßnahmen nicht sonderlich fürchten, warum kann dann eine so reiche Volkswirtschaft nicht etwas mehr riskieren?

Alexander resumiert: „Deutschland zeigt sich in der Krim-Krise von seiner schlechten Seite: ängstlich, ichbezogen, unreflektiert materialistisch. Das ist ein Problem, weil es stärker als früher auf Deutschland ankommt.“ Berlin wird keine Soldaten schicken, aber das ist ja auch nicht nötig. Die russische Wirtschaft und Putins Budget ist viel verletzlicher, als man oft meint. „Moskau braucht unser Geld“, so Polens Außenminister Sikorski im aktuellen „Spiegel“.

Gestern war in Litauen Feiertag. An jedem 11. März wird der Ausrufung der Wiederherstellung der Unabhängigkeit 1990 gedacht. Jedes Haus muss an den drei hohen Staatsfeiertagen (außerdem 16.02. und 05.07.) Beflaggung zeigen. Doch dieser Pflicht kommen die allermeisten an diesem Tag eh gerne nach. Denn die Ereignisse von 1990 sind nicht ferne Vergangenheit, sondern Teil der persönlichen Geschichte, mit eigenen Erlebnissen befrachtet. Seitdem empfindet man sich als frei, und diese Freiheit wird als hohes Gut betrachtet. Dieser Wert verbindet vor allem mit den Amerikanern, die sich ja weltweit als Botschafter der Freiheit sehen.

Anders als nun auf der Krim ging es 1990 in Vilnius vorbildlich demokratisch zu: Der Oberste Sowjet des Landes war erstmals völlig frei und fair gewählt worden. Die politische Zukunft des Landes war von den Abgeordneten monatelang kontrovers diskutiert worden. Noch am 11. März flogen im Parlament die verbalen Fetzen, erst gegen Mitternacht kam es zur Abstimmung über die Erklärung, die die Loslösung von der UdSSR in Kraft setzte – übrigens ganz verfassungskonform!

Es ging damals alles seinen demokratischen Weg des Rechts. Die Moskauer Antwort war eine Wirtschaftsblockade. Nun trampelt Putin auf dem Völkerrecht herum, bricht Verträge und inszeniert bloß Rechtsstaatlichkeit. Steht Amerika für die Freiheit, kann Europa nicht wenigstens das Recht hochhalten? Doch die seit Jahren andauernde Euro-Krise hat ja gezeigt, dass es um das Recht auch nicht zum Besten bestellt ist. Zwei ehemalige deutsche Verfassungsrichter betonten, dass eine wichtige Wurzel all der Probleme eine fundamentale Krise des Rechts ist. Paul Kirchhof unterstrich, dass die EU eine Gemeinschaft des Rechts ist, die auseinanderzubrechen droht, „weil Recht missachtet wurde“. Der Professor in Heidelberg: „Der Ursprung der Finanzprobleme liegt im rechtswidrigen Handeln der Staaten“ (FAZ, 160/2012). Und Udo Di Fabio, der nun in Bonn unterrichtet: „Die EU ist in eine Krise geraten, weil man sich nicht an Verträge gehalten hat“, also Recht gebrochen wurde („Der Spiegel“, 28/2012).

Natürlich ist Putin ein viel skrupelloserer Rechtsbrecher als alle in den westeuropäischen Hauptstädten. Aber man sollte einmal fragen, worauf die westliche Wertegemeinschaft wirklich noch ruht. Will sie nicht nur eine Union der Wirtschaft und des Konsums, sondern auch eine Union des Rechts sein, kann sie eklatante Rechtsbrüche woanders in Europa nicht so zaudernd hinnehmen. Polen und Balten werden das alte Europa auch weiter daran erinnern.